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§ 45 SGB X: Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes

Änderungsdienst
veröffentlicht am

11.03.2024

Änderung

klarstellende Ausführungen im Abschnitt 5.2.4.1

Dokumentdaten
Stand19.02.2024
Erstellungsgrundlage in der Fassung der Neufassung des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch vom 18.01.2001 in Kraft getreten am 01.01.2001
Rechtsgrundlage

§ 45 SGB X

Version006.00

Inhalt der Regelung

Absatz 1 bestimmt, dass ein rechtswidrig begünstigender Verwaltungsakt nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 zurückgenommen werden darf. Sind die Rücknahmevoraussetzungen nach § 45 Abs. 2 bis 4 SGB X erfüllt, ist eine Ermessensentscheidung darüber zu treffen, ob und in welchem Umfang von dem Rücknahmerecht tatsächlich Gebrauch gemacht werden soll. Dies ergibt sich aus der Formulierung in § 45 Abs. 1 SGB X „... darf ... ganz oder teilweise ... für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden“.

Absatz 2 bestimmt, dass der Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden darf, wenn der Begünstigte Vertrauensschutz genießt (§ 45 Abs. 2 S. 1 und 2 SGB X). Ferner wird geregelt, in welchen Fällen sich der Begünstigte jedoch von vornherein nicht auf Vertrauensschutz berufen kann (§ 45 Abs. 2 S. 3 SGB X).

Absatz 3 bestimmt, dass bei der Rücknahme eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung Fristen zu beachten sind.

Absatz 4 bestimmt, unter welchen Voraussetzungen und innerhalb welcher Frist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden kann.

Absatz 5 bestimmt in Verbindung mit § 44 Abs. 3 SGB X die Zuständigkeit für die Rücknahme.

Ergänzende/korrespondierende Regelungen

Einige Vorschriften schließen für bestimmte Fallkonstellationen aus, dass § 45 SGB X anwendbar ist.

Anwendungsbereich

§ 45 SGB X findet Anwendung bei Verwaltungsakten sowohl mit als auch ohne Dauerwirkung, die

  • bereits bei ihrem Erlass rechtswidrig waren (vergleiche Abschnitt 2.1) und
  • eine begünstigende Regelung enthalten (vergleiche Abschnitt 2.2).

Verwaltungsakte mit Dauerwirkung liegen vor, wenn sich der Verwaltungsakt nicht in einem einmaligen Gebot oder Verbot oder in einer einmaligen Gestaltung der Rechtslage erschöpft, sondern ein auf Dauer berechnetes oder in seinem Bestand vom Verwaltungsakt abhängiges Rechtsverhältnis begründet oder inhaltlich verändert (vergleiche BT-Drucksache 8/2034, Seite 34). Zu den Verwaltungsakten mit Dauerwirkung gehören zum Beispiel

  • Rentenbescheide,
  • Entscheidungen über das Vorliegen von Versicherungspflicht gemäß § 4 SGB VI,
  • Vormerkungsbescheide beziehungsweise Feststellungsbescheide nach § 149 Abs. 5 S. 1 SGB VI über Beitrags-, Ersatz- und Anrechnungszeiten (Urteil des BSG vom 16.02.1984, AZ: 1 RA 15/83, und BSG vom 21.02.1985, AZ: 11 RA 2/84),
  • Verwaltungsakte über die Wiederherstellung von Versicherungsunterlagen (Urteil des BSG vom 29.04.1997, AZ: 4 RA 25/96).
  • Bescheide über die Bewilligung eines Zuschusses zu den Aufwendungen für die Krankenversicherung
  • Verwaltungsakte über die Bewilligung von Leistungen zur Teilhabe (beispielsweise medizinische Rehabilitationsmaßnahmen oder Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben), die wiederkehrend beziehungsweise auf Dauer - also auf mehr als einen Tag - ausgerichtet sind, zum Beispiel Maßnahmen in einer Reha- oder Bildungseinrichtung (Urteil des BSG vom 22.09.1981, AZ: 1 RJ 112/80), ferner Verwaltungsakte, die auf eine einmalige Anschaffung zum Beispiel eines Hilfsmittels oder einer technischen Arbeitshilfe im Betrieb zielen, sofern der Verwaltungsakt mit einer Gültigkeitsdauer versehen ist.

Verwaltungsakte ohne Dauerwirkung, deren Wirkung also einmalig mit ihrem Ausspruch eintritt, sind zum Beispiel

Kein Verwaltungsakt liegt vor, wenn sich die getroffene Regelung aus einem Vergleich ergibt. Insofern fehlt es an der einen Verwaltungsakt charakterisierenden einseitigen Regelung im Sinne des § 31 SGB X, denn ein Vergleich ist gemäß § 54 SGB X eine vertragliche - also durch inhaltlich übereinstimmende Willenserklärungen mindestens zweier Rechtssubjekte erzielte - Übereinkunft. Dies gilt auch für einen prozessbeendigenden Vergleich vor dem Sozialgericht gemäß § 101 Abs. 1 SGG. Eine Rücknahme einer vergleichsweise getroffenen Regelung nach § 45 SGB X ist somit ausgeschlossen.

Wird mit dem Verwaltungsakt ein sozialgerichtliches Urteil umgesetzt, ist dieser jedenfalls insoweit rücknehmbar, als sich die Rechtswidrigkeit aus der konkreten Ausgestaltung der Rechtsbeziehung, also einem eigenständigen Regelungsbereich ergibt (zum Beispiel konkrete Rentenberechnung).

Im Übrigen sind die Beteiligten an die Rechtskraft der Urteile gebunden. Da der Kläger beispielsweise aufgrund seiner erfolgreichen Verpflichtungsklage einen Anspruch auf den Verwaltungsakt hat, der das Urteil umsetzt, ist der entsprechende Verwaltungsakt durch die Rechtskraft des Urteils gedeckt. Auch wenn sich nachträglich herausstellt, dass das rechtskräftige Urteil wie der das Urteil umsetzende Verwaltungsakt nicht in Einklang mit materiell rechtlichen Vorschriften stehen, kann der Verwaltungsakt deswegen nicht zurückgenommen werden, ohne dass zuvor die Rechtskraft des Urteils durchbrochen wurde. Dies ist nur in Fällen des § 580 ZPO durch ein Wiederaufnahmeverfahren möglich.

Die objektive Beweislast für das Vorliegen der für eine Rücknahme nach § 45 SGB X erforderlichen Tatsachen trägt die Behörde. Kann also der Sachverhalt nach Ausschöpfung aller Erkenntnismöglichkeiten nicht aufgeklärt werden, geht dies zu ihren Lasten (Urteil des BSG vom 08.09.2010, AZ: B 11 AL 4/09 R, und Urteil des BSG vom 25.06.2015, AZ: B 14 AS 30/14 R).

Die Rücknahme von Verwaltungsakten kann auch im Widerspruchsverfahren erfolgen („Verböserung im Widerspruchsverfahren“, siehe GRA zu § 85 SGG, Abschnitt 2.6).

Rechtswidrigkeit und Abgrenzung zu § 48 SGB X

Rechtswidrig im Sinne des § 45 SGB X ist ein Verwaltungsakt, wenn bei seinem Erlass, das heißt im Zeitpunkt seiner Bekanntgabe (§ 37 SGB X),

  • das Recht unrichtig angewandt worden ist oder
  • von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist.

War der ursprüngliche Verwaltungsakt dagegen rechtmäßig und ist er erst später infolge einer Änderung der Verhältnisse in Widerspruch zur Rechtsordnung geraten, richtet sich seine Aufhebbarkeit nach § 48 SGB X.

Diese Abgrenzung kann aufgrund der gesetzlichen Formulierungen im Einzelfall durchaus schwierig sein. Ist beispielsweise eine Witwenrente bewilligt worden, ohne dass nach § 97 SGB VI zu berücksichtigendes - nach Antragstellung, aber vor Bescheiderteilung erzieltes - Einkommen angerechnet wurde, so ist es nicht möglich, den Witwenrentenbescheid unter den (einfachen) Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB X aufzuheben (Urteil des BSG vom 13.12.1984, AZ: 9a RV 40/83). Dies folgt daraus, dass der Bescheid schon zur Zeit seiner Bekanntgabe rechtswidrig war und nicht etwa nachträglich rechtswidrig geworden ist. Für die Frage, ob der Verwaltungsakt bereits bei seinem Erlass rechtswidrig war, kommt es darauf an, ob im Zeitpunkt der Erteilung des ursprünglichen Verwaltungsaktes eine andere Entscheidung als die getroffene erforderlich gewesen wäre. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der „anfänglichen Rechtswidrigkeit“ ist der Zeitpunkt der Überprüfung. Das bedeutet, dass bei der Frage einer anfänglichen oder aber später eingetretenen Rechtswidrigkeit zwar auf die tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten zur Zeit des Erlasses des ursprünglichen Verwaltungsaktes abzustellen ist, diese aber nach Maßgabe der zur Zeit der Überprüfung des Verwaltungsaktes aktuellen Rechtsauffassungen überprüft werden.

Von einer anfänglichen Rechtswidrigkeit ist auch auszugehen, wenn sich zwischenzeitlich die Rechtsauffassung des Rentenversicherungsträgers geändert hat. Das gilt auch dann, wenn sich die andere Rechtsauffassung aufgrund höchstrichterlicher Rechtsprechung gebildet hat. In einem solchen Fall bringt die Rechtsprechung regelmäßig zum Ausdruck, was bereits in der Vergangenheit gegolten hat. Rechtswidrigkeit liegt insbesondere dann vor, wenn ein Verwaltungsakt unter Verletzung materiellen Rechts erteilt wurde.

Wird erst nach Bekanntgabe des Bescheides Einkommen oder Vermögen erzielt, das auf einen zurückliegenden Zeitraum anzurechnen ist (zum Beispiel Nachzahlung, rückwirkende Lohnerhöhung), ist hingegen ein Fall des § 48 SGB X gegeben. Dies ergibt sich aus der Fiktion des § 48 Abs. 1 S. 3 SGB X. Danach gilt als Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse in Fällen, in denen Einkommen oder Vermögen auf einen zurückliegenden Zeitraum anzurechnen ist, der Beginn des Anrechnungszeitraums. Dies gilt auch dann, wenn die Anrechnung des Einkommens oder des Vermögens bis auf den Rentenbeginn oder einen sonstigen Neuberechnungsbeginn zurückwirkt. Erhält die Behörde allerdings erst nach Erlass des Verwaltungsaktes lediglich Kenntnis davon, dass bereits bei Erlass des Verwaltungsaktes anzurechnendes Einkommen oder Vermögen erzielt wurde, ist ein Fall des § 45 SGB X gegeben.

Siehe Beispiel 1

Die Rentenanpassungsmitteilung ist ein Verwaltungsakt im Sinne des § 31 SGB X. Geregelt wird mit ihr - und nur insoweit besteht auch die Eigenschaft als Verwaltungsakt - der Grad der Anpassung aufgrund der Änderung des aktuellen Rentenwerts (BSG vom 31.07.2002, AZ: B 4 RA 120/00 R). Die Rentenanpassungsmitteilung erfüllt also nicht die Funktion eines Bewilligungsbescheides, sondern setzt diesen voraus (unter anderem BSG vom 29.10.2002, AZ: B 4 RA 22/02 R, und BSG vom 23.03.1999, AZ: B 4 RA 41/98 R). Sofern mit der Rentenanpassungsmitteilung auch eine Einkommensanrechnung vorgenommen wird (§§ 93, 97 SGB VI), liegt hierin eine eigenständige, zusätzliche Regelung im Sinne des § 31 SGB X über die Rentenhöhe.

Wurde mit der Rentenanpassungsmitteilung eine Einkommensanrechnung in unzutreffender Höhe vorgenommen (beispielsweise weil eine zwischenzeitliche Arbeitsaufnahme unberücksichtigt blieb), so erweist sich der mit der Rentenanpassungsmitteilung erteilte Verwaltungsakt über die Rentenhöhe als anfänglich rechtswidrig. Die Rücknahme dieses Verwaltungsaktes ist nach Maßgabe des § 45 SGB X zu prüfen.

Ist hingegen mit der Rentenanpassungsmitteilung keine Einkommensanrechnung vorgenommen worden, ist hinsichtlich eines in der Zwischenzeit hinzugetretenen Einkommens eine Aufhebung des ursprünglichen Rentenbescheides beziehungsweise des Bescheides nach § 48 SGB X erforderlich, der zuletzt für den entsprechenden Zeitraum die Rentenhöhe geregelt hat (beispielsweise ein Neuberechnungsbescheid).

Da die Rentenanpassungsmitteilung nicht unter einem konkreten Tagesdatum ergeht, kann der wegen der Einkommensanrechnung erteilte Verwaltungsakt über die Rentenhöhe im Falle einer Rücknahme nicht mit einem Datum benannt werden. Das Bestimmtheitsgebot im Sinne des § 33 Abs. 1 SGB X ist allerdings trotzdem erfüllt, da in jedem Jahr nur eine Rentenanpassungsmitteilung versandt wird und somit eine hinreichende Spezifizierung erfolgen kann (zum Beispiel: der in der Mitteilung über die Rentenanpassung zum 01.07.2016 enthaltene Verwaltungsakt über die Rentenhöhe).

In Fällen, in denen auf die Rente eine andere Sozialleistung rückwirkend anzurechnen ist (§§ 93, 97 SGB VI) und ein Erstattungsanspruch (§ 103 SGB X) besteht, gilt (jedoch) Folgendes:

Hat ein anderer Sozialleistungsträger rückwirkend eine (andere) Sozialleistung bewilligt, die auf die Rente anzurechnen ist, fehlt es für den Zeitraum der Nachzahlung der anderen Sozialleistung (Zeitraum des Erstattungsanspruches) an der für § 45 SGB X erforderlichen anfänglichen Rechtswidrigkeit des Rentenbescheides. Dies folgt aus der Erfüllungsfiktion des § 107 Abs. 1 SGB X. Nach dieser Vorschrift gilt der Anspruch des Berechtigten gegen den (vorrangig) zur Leistung verpflichteten Leistungsträger als erfüllt, soweit ein Erstattungsanspruch besteht. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG (Urteile des BSG vom 22.05.2002, AZ: B 8 KN 11/00 R, BSG vom 26.04.2005, AZ: B 5 RJ 36/04 R, und BSG vom 21.03.2007, AZ: B 11a AL 11/06 R) hat dies zur Folge, dass der Anspruch auf den Nachzahlungsbetrag der anderen Sozialleistung bereits durch die für diese Zeit erfolgten Rentenzahlungen als erfüllt gilt. Die Rentenzahlungen sind somit als rechtmäßige Zahlungen der anderen Sozialleistung anzusehen. Für den Nachzahlungszeitraum (Zeitraum des Erstattungsanspruches) der anderen Sozialleistung fehlt es daher an der Rechtswidrigkeit des Rentenbescheids, die nach §§ 45 oder 48 SGB X allein zu seiner Aufhebung führen könnte. Konsequenterweise erstreckt sich die Rechtmäßigkeit des Rentenbescheides auf den Zeitraum, für den ein Erstattungsanspruch besteht. „Rechtswidrig” wird der Rentenbescheid demnach mit dem Beginn der laufenden Zahlung der anderen Sozialleistung, weil ab diesem Zeitpunkt kein Erstattungsanspruch mehr besteht und somit auch die zur Rechtmäßigkeit des Rentenbescheides führende Erfüllungsfiktion des § 107 Abs. 1 SGB X fortfällt. Die mit laufender Zahlung der anderen Sozialleistung einsetzende „Rechtswidrigkeit” des Rentenbescheides liegt zeitlich nach dessen Bekanntgabe. Dies bedeutet, dass eine wesentliche Änderung in den bei der Bekanntgabe des Bescheides vorgelegenen Verhältnissen eingetreten ist. Damit ist für die Zeit ab Beginn der laufenden Zahlung der anderen Sozialleistung ein Anwendungsfall des § 48 SGB X gegeben. Für den Zeitraum des Erstattungsanspruches ist eine Bescheidaufhebung nicht zulässig.

Siehe Beispiel 2

Begünstigende Wirkung und Abgrenzung zu § 44 SGB X

„Begünstigend“ sind alle Verwaltungsakte, die ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründen oder bestätigen. Die Rücknahme derartiger Verwaltungsakte richtet sich nach § 45 SGB X.

„Nicht begünstigend“ sind dagegen alle Verwaltungsakte, die ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil verweigern, versagen, ablehnen, entziehen oder mindern, also belasten, sowie die, welche weder eine begünstigende noch eine belastende Wirkung haben. Derartige Verwaltungsakte sind nach § 44 SGB X zurückzunehmen.

Ob der ursprüngliche Verwaltungsakt begünstigend im Sinne des § 45 SGB X oder nicht begünstigend im Sinne des § 44 SGB X war, beurteilt sich nach dem Ergebnis der Überprüfung. Dabei ist zu unterscheiden, ob es sich um

  • Leistungsbescheide (siehe Abschnitt 2.2.1) oder
  • Nichtleistungsbescheide (siehe Abschnitt 2.2.2)

handelt.

Leistungsbescheide

Bei einem Leistungsbescheid (zum Beispiel einem Rentenbescheid) kommt es für die Beurteilung der Begünstigung oder Nichtbegünstigung darauf an, was dem Berechtigten an Leistung zustand und was er erhalten hat.

Ergibt die Neuberechnung beziehungsweise Neufeststellung eine Leistungsminderung, ist ein Fall des § 45 SGB X gegeben. Das gilt auch dann, wenn bei der Neuberechnung beziehungsweise Neufeststellung der Leistung sowohl leistungserhöhende als auch leistungsmindernde Umstände zu berücksichtigen sind. Eine tatsächliche Leistungsminderung kann jedoch nur unter den Voraussetzungen des § 45 SGB X vorgenommen werden.

Ergibt die Neuberechnung beziehungsweise Neufeststellung eine Leistungserhöhung, handelt es sich einen Fall des § 44 SGB X.

Nichtleistungsbescheide

Bei einem Nichtleistungsbescheid ist hinsichtlich der Beurteilung einer Begünstigung oder Nichtbegünstigung grundsätzlich darauf abzustellen, wie sich dessen Regelungsinhalt in Anbetracht der Sach- und Rechtslage objektiv darstellt. Es kommt maßgeblich darauf an, ob die mit dem Verwaltungsakt getroffene hoheitliche Maßnahme nach der Verkehrsauffassung als Belastung oder Begünstigung anzusehen ist. Es ist somit regelmäßig unerheblich, wie die betroffene Person den Regelungsinhalt des Verwaltungsaktes subjektiv auffasst, ob also ihr der Regelungsinhalt des Nichtleistungsbescheides günstig oder ungünstig erscheint (vergleiche Urteil des BSG vom 22.03.1984, AZ: 11 RA 22/83).

In Einzelfällen kann es allerdings für die Einordnung des Nichtleistungsbescheides in „begünstigend“ oder „nicht begünstigend“ auch angezeigt erscheinen, die Interessenlage der betroffenen Person mit zu berücksichtigen. Auch in einem derartigen Fall kommt es aber nicht auf ihr subjektives Empfinden an. Vielmehr ist dann die Interessenlage der betroffenen Person aus der Sicht eines unabhängigen und verständigen (fiktiven) Dritten zu würdigen.

Bei einem Verwaltungsakt, mit dem eine Entscheidung über einen Antrag der betroffenen Person verlautet wurde (zum Beispiel zur Versicherungspflicht nach § 4 SGB VI), ist für die Beurteilung einer Begünstigung oder Nichtbegünstigung stets entscheidend, ob dem Antrag entsprochen oder aber nicht entsprochen wurde. Wurde dem Antrag entsprochen, stellt sich der Verwaltungsakt als begünstigend dar, sodass im Fall seiner Rechtswidrigkeit § 45 SGB X maßgeblich ist. Wurde dem Antrag dagegen nicht entsprochen, ist der Verwaltungsakt belastend, sodass bei seiner Rechtswidrigkeit § 44 SGB X zum Zuge kommt.

Anders verhält es sich in der Situation, in der eine Erwerbsperson die Überprüfung eines Statusfeststellungsbescheides im Sinne des § 7a SGB IV begehrt und sowohl die Erwerbsperson als auch der Auftraggeber gleichermaßen das Interesse haben, den Statusfeststellungsbescheid nach § 44 SGB X zu beseitigen. Das Bundessozialgericht hat für diesen Fall entschieden, dass für die Zuordnung eines Statusfeststellungsbescheides als die Erwerbsperson "nicht begünstigend" im Sinne des § 44 SGB X oder "begünstigend" im Sinne des § 45 SGB X auf das subjektive Interesse der Erwerbsperson zum Zeitpunkt der Überprüfung des Statusfeststellungsbescheides abzustellen ist (Urteil des BSG vom 29.03.2022, AZ: B 12 R 2/20 R).

Dies hat das Bundessozialgericht damit begründet, dass es sich bei einem Statusfeststellungsbescheid um einen Verwaltungsakt mit sogenannter Doppel- oder Mischwirkung handelt, da er zugleich eine begünstigende und belastende Wirkung hat. Wurde zum Beispiel mit dem Statusfeststellungsbescheid die Versicherungspflicht der Erwerbsperson aufgrund abhängiger Beschäftigung festgestellt, liegt die begünstigende Wirkung in der sozialversicherungsrechtlichen Absicherung der Erwerbsperson, während sich die belastende Wirkung in der daraus resultierenden Pflicht zur Beitragszahlung zeigt. Im umgekehrten Fall, wenn also mit dem Statusfeststellungsbescheid entschieden wurde, dass keine Versicherungspflicht aufgrund abhängiger Beschäftigung vorliegt, ist die Erwerbsperson auf der einen Seite wegen der dann nicht eintretenden Beitragspflicht begünstigt, auf der anderen Seite aber belastet, weil sie sozialversicherungsrechtlich nicht abgesichert ist.

Da eine Teilaufhebung allein der belastenden oder begünstigenden Wirkung eines Statusfeststellungsbescheides nicht in Betracht kommt, bedarf es eines weiteren Kriteriums. Nach der genannten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist hierfür das subjektive Interesse der Erwerbsperson maßgeblich, das sie zum Zeitpunkt der Überprüfung des Statusfeststellungsbescheides hat.

Bei einem Verwaltungsakt über rentenrechtliche Zeiten (zum Beispiel einem Feststellungsbescheid nach § 149 Abs. 5 SGB VI) ist bei der Einordnung in „begünstigend“ oder „belastend“ im Regelfall danach zu unterscheiden, ob die Feststellung der jeweiligen, einzelnen rentenrechtlichen Zeit zu Unrecht abgelehnt oder zu Unrecht vorgenommen wurde. Wurde die Feststellung der rentenrechtlichen Zeit zu Unrecht abgelehnt, ist von einer Nichtbegünstigung auszugehen, sodass der Verwaltungsakt insoweit nach § 44 SGB X zurückzunehmen ist. Wurde die Feststellung der rentenrechtlichen Zeit hingegen zu Unrecht vorgenommen, ist von einer Begünstigung auszugehen, sodass der Verwaltungsakt insoweit nur nach § 45 SGB X zurückgenommen werden kann. In beiden Fallgestaltungen ist grundsätzlich unbeachtlich, ob und gegebenenfalls inwieweit sich die betreffende Zeit in einem künftigen Leistungsfall auf die Leistung auswirken würde.

Ist eine rentenrechtliche Zeit festzustellen, die bisher noch nicht Gegenstand eines Nichtleistungsbescheides war (bisherige „Lücke“), stellt sich die Frage einer Begünstigung oder Nichtbegünstigung nicht. Denn mit der erstmaligen Feststellung der rentenrechtlichen Zeit in einem neuen Nichtleistungsbescheid ergeht erstmals ein Verwaltungsakt im Sinne des § 31 SGB X. Ein Anwendungsfall der Vorschriften der §§ 44 SGB X ff., die das Vorhandensein eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes voraussetzen, ist bei diesem Sachverhalt somit nicht gegeben. Etwas anderes gilt nur, wenn die bisherige „Lücke“ auf eine fehlende Entscheidung des Rentenversicherungsträgers zu beantragten Zeiten zurückzuführen ist (siehe GRA zu § 84 SGG, Abschnitt 6).

Begriff „Rücknahme“

Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes bedeutet, dass er in seinen bindend gewordenen Teilen zuungunsten des Berechtigten verändert wird.

Die Bindung tritt für den Rentenversicherungsträger

Regelungsgehalt bei Rentenbescheiden ist der Verfügungssatz. Nach dem Urteil des BSG vom 23.03.1999, AZ: B 4 RA 41/98 R, gehört hierzu im Regelfall die Feststellung des Rentenanspruchs nach

  • Art,
  • Beginn,
  • Höhe,
  • und gegebenenfalls Dauer.

Die einzelnen Berechnungsfaktoren gehören zur Begründung im Sinne von § 35 SGB X und erwachsen damit nicht in Bindung (Urteil des BSG vom 16.03.1989, AZ: 4/11 RA 70/87, mit weiteren Nachweisen).

Überblick über das Rücknahmeverfahren

Erweist sich ein Verwaltungsakt als rechtswidrig begünstigend im Sinne des § 45 SGB X, ist dessen Rücknahmemöglichkeit zunächst nach Aktenlage zu prüfen. Dabei sind folgende Aspekte zu beachten:

a) Prüfung nach Absatz 2 (vergleiche Abschnitte 5.1 und 5.2)

Es ist zu prüfen, ob das Vertrauen auf den Bestand des Verwaltungsaktes wegen des Vorliegens mindestens einer der Ausschlusstatbestände des § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 bis 3 SGB X von vornherein ausgeschlossen ist. Ist das Vertrauen nicht von vornherein ausgeschlossen, kann sich der Betroffene also auf Vertrauen berufen, ist zu prüfen, ob das Vertrauen schutzwürdig ist (§ 45 Abs. 2 S. 1 und 2 SGB X).

b) Fristenregelung des Absatzes 3 (vergleiche Abschnitt 5.2.4)

Handelt es sich um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung und

  • kann sich der Betroffene auf Vertrauen berufen, bestimmt § 45 Abs. 3 S. 1 SGB X, dass eine Rücknahme nur innerhalb von zwei Jahren nach Bekanntgabe des Verwaltungsaktes mit Wirkung für die Zukunft zulässig ist.
  • kann sich der Betroffene bereits aus den Gründen des § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 bis 3 SGB X nicht auf Vertrauen berufen oder liegt ein zulässiger Widerrufsvorbehalt vor, bestimmt § 45 Abs. 3 S. 3 SGB X, dass eine Rücknahme nur innerhalb von zehn Jahren nach Bekanntgabe des Verwaltungsaktes zulässig ist. Verwaltungsakte, mit denen eine laufende Geldleistung bewilligt wurde, können auch nach Ablauf der Frist von zehn Jahren zurückgenommen werden, wenn diese Geldleistung mindestens bis zum Beginn des Verwaltungsverfahrens über die Rücknahme gezahlt wurde (vergleiche Abschnitt 5.2.4.1).
  • kann sich der Betroffene bereits aus den Gründen des § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 SGB X nicht auf Vertrauen berufen oder liegt ein Wiederaufnahmegrund entsprechend § 580 Nr. 6 ZPO vor, bestimmt § 45 Abs. 3 S. 2 SGB X, dass eine unbefristete Rücknahme zulässig ist (vergleiche Abschnitt 5.4).

Für die Einhaltung der jeweiligen Frist ist es erforderlich, dass der Rücknahmebescheid dem Berechtigten innerhalb dieser Frist bekannt gegeben wird (§§ 37, 39 SGB X).

c) Fristenregelung des Absatzes 4 Satz 2 (vergleiche Abschnitt 5.5)

Unter den Voraussetzungen des § 45 Abs. 4 S. 1 SGB X und innerhalb einer Frist von einem Jahr dürfen Verwaltungsakte auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden (§ 45 Abs. 4 S. 2 SGB X).

Für die Einhaltung der Frist ist es erforderlich, dass der Rücknahmebescheid dem Berechtigten innerhalb dieser Frist bekannt gegeben wird (§§ 37, 39 SGB X).

d) Ermessensausübung (vergleiche Abschnitt 7)

 

Sind nach den Schritten a) bis c) die Rücknahmevoraussetzungen

  • erfüllt, gebietet § 24 SGB X die Durchführung des Anhörungsverfahrens. Die von dem Betroffenen im Rahmen der Anhörung vorgetragenen Umstände erfordern dann - eben unter Berücksichtigung des Vorbringens des Betroffenen - eine erneute und abschließende Vertrauensschutzprüfung sowie eine Ermessensentscheidung. Stellt sich danach heraus, dass die Rücknahmevoraussetzungen
    • weiterhin erfüllt sind, ist dem Betroffenen über die Rücknahme des Verwaltungsaktes ein förmlicher Verwaltungsakt im Sinne des § 31 SGB X zu erteilen (vergleiche Abschnitt 8). Das Vorliegen der Rücknahmevoraussetzungen - insbesondere die Ermessensentscheidung - ist dabei ausführlich zu begründen (§ 35 Abs. 1 SGB X),
    • nicht erfüllt sind, kommt eine Rücknahme nicht in Betracht. Der Betroffene ist hierüber zu unterrichten. In den entsprechenden Fällen ist jedoch zwingend eine Aussparung nach § 48 Abs. 3 S. 1 SGB X oder § 48 Abs. 3 S. 2 SGB X vorzunehmen (vergleiche Abschnitt 10).
  • nicht erfüllt, kommt eine Rücknahme nicht in Betracht. Der Betroffene ist hierüber zu unterrichten. In den entsprechenden Fällen ist jedoch zwingend eine Aussparung nach § 48 Abs. 3 S. 1 SGB X oder § 48 Abs. 3 S. 2 SGB X vorzunehmen (vergleiche Abschnitt 10).

Rücknahme von Verwaltungsakten mit Dauerwirkung

Bei Verwaltungsakten mit Dauerwirkung ist zu unterscheiden, ob die Rücknahme von Anfang an (also für die Vergangenheit und die Zukunft) oder lediglich für die Zukunft erfolgen kann.

Die Zukunft beginnt regelmäßig mit dem Tag nach der Bekanntgabe (§ 37 SGB X) des Rücknahmebescheides (Urteil des BSG vom 24.02.1987, AZ: 11b RAr 53/86).

Bei Verwaltungsakten über die Bewilligung von Renten oder Zusatzleistungen beginnt die Zukunft wegen des Monatsprinzips (§ 100 Abs. 1 und 3 SGB VI) mit Ablauf des Monats, in dem der Rücknahmebescheid bekannt gegeben wird (Urteil des BSG vom 24.04.1997, AZ: 13 RJ 23/96). Dies ist auch der Zeitpunkt, von dem an die bisherige Leistung eingestellt oder gemindert werden darf.

Nach § 45 Abs. 2 S. 1 SGB X darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist.

Für die Rücknahme ist es also zunächst entscheidend, inwieweit der Begünstigte (beziehungsweise gegebenenfalls sein Vertreter) auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat.

Auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut, wer gutgläubig vom Bestand der als zutreffend angesehenen Regelung ausgegangen ist. Ist dies der Fall, ist die Schutzwürdigkeit des Vertrauens zu prüfen.

Da § 45 Abs. 2 S. 3 SGB X konkrete Vorgaben dafür macht, wann Vertrauen von vornherein ausgeschlossen ist, sind je nach Lage des Falls zweckmäßigerweise zunächst die Voraussetzungen der dort genannten Ausschlusstatbestände zu prüfen. Liegt einer der Ausschlusstatbestände des Satzes 3 Nummern 1 bis 3 vor, besteht kein Vertrauen; auf eine Abwägung kommt es nicht mehr an. Eine Ermessensentscheidung ist jedoch gleichwohl zu treffen.

Der Umfang der Rücknahmemöglichkeit hängt also zunächst davon ab, ob

  • der Betroffene „gutgläubig“ ist (vergleiche Abschnitt 5.1),
  • der Betroffene „bösgläubig“ ist (vergleiche Abschnitt 5.2),
  • der Verwaltungsakt mit einem zulässigen Widerrufsvorbehalt erlassen wurde (vergleiche Abschnitt 5.3),
  • ein Wiederaufnahmegrund entsprechend § 580 ZPO vorliegt (vergleiche Abschnitt 5.4).

„Gutgläubigkeit“

Ist der Betroffene „gutgläubig“, kommt nur eine Rücknahme für die Zukunft in Betracht. Der Betroffene ist „gutgläubig“, wenn das Vertrauen auf den Bestand des Verwaltungsaktes nicht wegen des Vorliegens eines Ausschlusstatbestandes des § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 bis 3 SGB X von vornherein ausgeschlossen ist. § 45 Abs. 2 S. 1 und 2 SGB X erfordert jedoch die Prüfung, ob das bestehende Vertrauen auf den Bestand des Verwaltungsaktes auch unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse schutzwürdig ist.

An der Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes besteht grundsätzlich ein öffentliches Interesse. Dies folgt aus dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Verpflichtung zur zweckentsprechenden Verwendung der Mittel. Es soll also verhindert werden, dass Leistungen ohne ausreichende gesetzliche Grundlage erbracht werden.

Dem öffentlichen Interesse steht das Interesse des Begünstigten gegenüber, weil er regelmäßig auf die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes vertraut und sich darauf eingestellt hat. Dieses Vertrauen muss aber auch unter objektiven Gesichtspunkten schutzwürdig sein. Die beiderseitigen Interessen sind deshalb abzuwägen.

In der Regel muss das öffentliche Interesse gegenüber dem Vertrauen des Begünstigten zurückstehen, wenn er Vermögensdispositionen getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann (§ 45 Abs. 2 S. 2 SGB X). Aus dem Gesetzeswortlaut „in der Regel“ ergibt sich, dass, auch wenn Vermögensdispositionen im Sinne des § 45 Abs. 2 S. 2 SGB X getroffen wurden, ausnahmsweise das öffentliche Interesse überwiegen kann, zum Beispiel dann, wenn die Vermögensdispositionen grob unangemessen oder vernunftwidrig waren.

Ob getroffene Vermögensdispositionen nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig gemacht werden können, muss nach Lage des Einzelfalles entschieden werden. Eine Vermögensdisposition kann nur berücksichtigt werden, wenn sie im Vertrauen auf die Bestandskraft des Verwaltungsaktes getroffen wurde; sie muss also nach Erlass des rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes vorgenommen worden sein (Urteil des BSG vom 28.11.1985, AZ: 11b/7 RAr 128/84). Für die Schutzwürdigkeit kommt es unter anderem darauf an, ob sich der Betroffene auf den Bestand des Verwaltungsaktes unwiderrufbar eingerichtet hat (zum Beispiel mit der Aufgabe seiner Arbeitsstelle).

Eine Vermögensdisposition führt nicht zu einem schutzwürdigen Vertrauen, wenn der Betroffene sie zwar nach Erlass des rechtswidrig begünstigenden Verwaltungsaktes plant, sie jedoch erst nach Zutagetreten der Rücknahmeabsichten realisiert wird. Insofern ist der Zeitpunkt der Disposition genau zu ermitteln; liegt er beispielsweise nach Anhörung, aber vor Rücknahme, scheidet eine Schutzwürdigkeit zumeist aus.

Sofern die Schutzwürdigkeitsvermutung gem. § 45 Abs. 2 S. 2 SGB X nicht greift, ist eine Interessenabwägung gem. § 45 Abs. 2 S. 1 SGB X vorzunehmen. Dabei ist das Vertrauen des Begünstigten auf den Bestand des Bescheides abzuwägen mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme des Verwaltungsaktes.

Für ein überwiegendes Interesse des Begünstigten spricht zum Beispiel:

  • wenn die Begünstigung für eine einschneidende und dauernde Änderung der Lebensführung des Begünstigten ursächlich war (Urteil des BSG vom 14.11.1985, AZ: 7 RAr 123/84),
  • eine mehrfache - vermeintliche - Bestätigung der materiell nicht zustehenden Leistung durch weitere Bescheide, zum Beispiel positive Mitteilung nach erneuter Prüfung der weiteren Rentenberechtigung,
  • das Verstreichen eines langen Zeitraumes nach Erlass des rechtswidrigen Verwaltungsaktes. Ein Zeitraum von weniger als einem Jahr reicht nicht aus, um ihn bei der Vertrauensschutzprüfung heranzuziehen (Urteil des BSG vom 16.06.1999, AZ: B 9 V 15/98 R).

Für ein überwiegendes öffentliches Interesse spricht zum Beispiel:

  • Das Vorliegen eines Dauerverwaltungsaktes, da durch diesen die materiell rechtswidrige Leistung perpetuiert wird (vergleiche jedoch die besonderen Voraussetzungen für die Rücknahme eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung in § 45 Abs. 3 SGB X).
  • Kennen beziehungsweise Kennenmüssen der Rechtswidrigkeit bei Leistungsverbrauch oder Vermögensdisposition; im Gegensatz zur Bösgläubigkeit bei Erteilung des Bescheides, die einen Vertrauensausschlussgrund darstellt, sodass es zu gar keiner Interessenabwägung mehr käme.
  • Vermeidung von ohne ausreichende gesetzliche Grundlage begründeten Belastungen der Allgemeinheit, also von Aufwendungen zu Lasten der Solidargemeinschaft (Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit, § 69 Abs. 2 SGB IV).
  • Mitverschulden des Versicherten.

Soweit kein Verbrauch und keine Vermögensdisposition vorliegt, dürfte das Interesse der Versichertengemeinschaft an einer Rücknahme und an der Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustands in der Regel überwiegen.

Nach der Interessenabwägung kann das Vertrauen also schutzwürdig oder nicht schutzwürdig sein:

  • Vertrauen ist schutzwürdig
    Ist das Vertrauen auf den Bestand des Verwaltungsaktes schutzwürdig, kommt eine Rücknahme des rechtswidrigen Verwaltungsaktes nicht in Betracht (vergleiche jedoch Abschnitt 10).
  • Vertrauen ist nicht schutzwürdig
    Ist das Vertrauen auf den Bestand des Verwaltungsaktes nicht schutzwürdig, bedarf es in einem weiteren Schritt der Prüfung, ob die Zweijahresfrist des § 45 Abs. 3 S. 1 SGB X noch nicht verstrichen ist.
    Für die Einhaltung der Frist ist es erforderlich, dass der Rücknahmebescheid dem Betroffenen innerhalb der Frist bekannt gegeben wird. Hinsichtlich der Fristberechnung wird auf die GRA zu § 26 SGB X verwiesen.
    Ist die Zweijahresfrist
    • nicht abgelaufen, kommt eine Rücknahme des rechtswidrigen Verwaltungsaktes - vorbehaltlich der noch erforderlichen Ermessensausübung (vergleiche Abschnitt 7) - nur für die Zukunft in Betracht,
    • abgelaufen, kommt eine Rücknahme des rechtswidrigen Verwaltungsaktes nicht in Betracht (vergleiche jedoch Abschnitt 10).

„Bösgläubigkeit“

Ist der Betroffene „bösgläubig“, kommt eine Rücknahme für die Vergangenheit und für die Zukunft in Betracht. Der Betroffene ist „bösgläubig“, das heißt er kann sich nicht auf Vertrauen auf den Bestand des Verwaltungsaktes berufen, wenn wenigstens einer der Tatbestände der Nummern 1 bis 3 des § 45 Abs. 2 S. 3 SGB X vorliegt:

Täuschung, Drohung oder Bestechung

Der Betroffene kann sich nicht auf Vertrauen berufen, soweit er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat (§ 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 SGB X).

  • Eine arglistige Täuschung liegt - in Abgrenzung zu den nur „vorsätzlichen“ Falschangaben im Sinne des Absatzes 2 Satz 3 Nummer 2 - dann vor, wenn der Betroffene in der Absicht der Erlangung eines rechtswidrigen Vorteils einen für den Erlass des Verwaltungsaktes ausschlaggebenden Irrtum erzeugt (Urteil des BSG vom 24.03.1993, AZ: 9/9a RV 38/91), vergleiche auch § 123 BGB, § 263 StGB.
  • Eine Drohung ist das Inaussichtstellen eines empfindlichen Übels, auf das der Täter Einfluss zu haben vorgibt (§ 240, § 253 StGB).
  • Eine Bestechung ist das Anbieten, Versprechen oder Gewähren eines Vorteils als Gegenleistung für eine pflichtwidrige Diensthandlung (§ 334 StGB).

Die genannten Handlungen müssen für den Erlass des (fehlerhaften) Verwaltungsaktes kausal gewesen sein.

Unrichtige oder unvollständige Angaben

Der Betroffene kann sich nicht auf Vertrauen berufen, soweit der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Betroffene vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat (§ 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 SGB X).

Der Rentenversicherungsträger kann sich auf unrichtige oder unvollständige Angaben nur berufen, wenn der Betroffene umfassend und unmissverständlich darüber unterrichtet worden ist, welche Angaben er zu machen hat.

Falls in einem Antrag ursprünglich objektiv richtige Angaben gemacht wurden, diese jedoch aufgrund einer Änderung der Sachlage unrichtig „werden”, kann sich der Rentenversicherungsträger auf unrichtige oder unvollständige Angaben nur berufen, wenn der Betroffene umfassend und unmissverständlich darüber unterrichtet worden ist, dass er Änderungen der Sachlage mitzuteilen hat.

  • Unrichtig sind Angaben, die nicht den Tatsachen entsprechen.
  • Unvollständig sind Angaben, wenn relevante Tatsachen verschwiegen werden.

Die unrichtigen oder unvollständigen Angaben müssen für die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kausal gewesen sein.

Die Angaben müssen vorsätzlich oder grob fahrlässig unrichtig beziehungsweise unvollständig gemacht worden sein.

  • Vorsatz liegt vor, wenn die Angaben wissentlich und gewollt unrichtig beziehungsweise unvollständig gemacht worden sind.
  • Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt wurde (§ 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 zweiter Halbs. SGB X). Dabei kommt es auf die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit, das Einsichtsvermögen und Verhalten des Betroffenen sowie auf die besonderen Umstände des Einzelfalles an. Hiernach wird also eine Sorgfaltspflichtverletzung ungewöhnlich hohen Ausmaßes vorausgesetzt, das heißt eine besonders grobe und auch subjektiv schlechthin unentschuldbare Pflichtverletzung. Das ist ein Verhalten, wenn schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt werden, wenn nicht beachtet wird, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen (vergleiche hierzu Urteile des BSG vom 31.08.1976, AZ: 7 RAr 112/74, und BSG vom 28.11.1978, AZ: 4 RJ 130/77, mit weiteren Nachweisen).

Hat sich der Betroffene vertreten lassen, muss er sich die Kenntnisse und das Verschulden des Vertreters zurechnen lassen (Rechtsgedanke der §§ 166, 278 BGB).

Kennen beziehungsweise Kennenmüssen der Rechtswidrigkeit

Die betroffene Person kann sich nicht auf Vertrauen berufen, soweit sie die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte (§ 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 SGB X).

Der Rentenversicherungsträger kann sich auf das Kennen beziehungsweise Kennenmüssen der Rechtswidrigkeit nur berufen, wenn die betroffene Person umfassend und rechtzeitig über die Anspruchsvoraussetzungen, Wegfallgründe oder die Auswirkungen von Nichtleistungsvorschriften unterrichtet worden ist. Dies kann durch Bescheidtexte und -zusätze, früher erteilte Verwaltungsakte, Hinweise zum Rentenbescheid, Erläuterungen zum Rentenantrag oder Merkblätter erfolgen.

Hat sich die betroffene Person vertreten lassen, muss sie sich das Wissen und Verschulden des Vertreters zurechnen lassen (Rechtsgedanke der §§ 166, 278 BGB).

Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maß verletzt wurde (§ 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 zweiter Halbs. SGB X). Dabei kommt es auf die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit, das Einsichtsvermögen und Verhalten der betroffenen Person sowie auf die besonderen Umstände des Einzelfalles an. Hiernach wird also eine Sorgfaltspflichtverletzung ungewöhnlich hohen Ausmaßes vorausgesetzt, das heißt eine besonders grobe und auch subjektiv schlechthin unentschuldbare Pflichtverletzung. Das ist ein Verhalten, wenn schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt werden, wenn nicht beachtet wird, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen (vergleiche hierzu Urteile des BSG vom 31.08.1976, AZ: 7 RAr 112/74, und BSG vom 28.11.1978, AZ: 4 RJ 130/77, mit weiteren Nachweisen).

Wurde die betroffene Person in dem rechtswidrigen Bescheid klar und unmissverständlich informiert, sodass sie die Rechtswidrigkeit erkennen musste (zum Beispiel durch die Ausführungen in den Mitteilungs- und Mitwirkungspflichten in Bezug auf die Erzielung von Einkommen), hat sie die erforderliche Sorgfalt bereits dann in besonders schwerem Maße verletzt (grobe Fahrlässigkeit), wenn sie die entsprechenden Ausführungen im Bescheid

  • nicht oder nicht vollständig gelesen hat (in diesem Sinn: Urteile des Bayerischen LSG vom 06.06.2014, AZ: L 13 R 746/12 und des LSG Mecklenburg-Vorpommern vom 26.06.2019, AZ: L 7 R 123/15). Denn den Adressaten eines Bescheids trifft die Obliegenheit, diesen zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen (Urteil des BSG vom 01.07.2010, AZ: B 13 R 77/09 R). Wird dies unterlassen, werden schon allein insofern ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt und nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss. Die Frage, ob die betroffene Person die Rechtswidrigkeit auch dann hätte erkennen können, wenn sie die entsprechenden Ausführungen vollständig gelesen hätte, stellt sich nicht mehr. Allein das nicht oder nicht vollständige Lesen stellt insoweit eine besonders schwere Sorgfaltspflichtverletzung dar.
  • zwar gelesen, aber Verständnisschwierigkeiten hatte. In solch einem Fall war sie verpflichtet gewesen, sich an den Rentenversicherungsträger zu wenden und um Erklärung zu bitten. Denn den Adressaten eines Bescheids trifft die Obliegenheit, diesen zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen (Urteil des BSG vom 01.07.2010, AZ: B 13 R 77/09 R). Auch wenn in dem Urteil des Bundessozialgerichts Bezugspunkt schlechte deutsche Sprachkenntnisse eines Rentenempfängers waren, lässt sich daraus doch die allgemeingültige Verpflichtung ableiten, sich im Zweifelsfall hinreichende Klarheit über den Inhalt eines Bescheides zu verschaffen. Hintergrund ist, dass die Beteiligten sich gegenseitig vor vermeidbarem, das Versicherungsverhältnis betreffendem Schaden zu bewahren haben (Urteil des BSG vom 08.02.2001, AZ: B 11 AL 21/00 R). Die betroffene Person hat die erforderliche Sorgfalt dann in besonders schwerem Maße verletzt (grobe Fahrlässigkeit), weil sie nicht das Erforderliche unternahm, um die Verständnisschwierigkeiten auszuräumen. Sie hätte alles Zumutbare unternehmen müssen, um sich Kenntnis vom Inhalt der entsprechenden Ausführungen zu verschaffen. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass einem Rentenbescheid am Ende unter der Überschrift „Auskunft und Beratung“ zu entnehmen ist, dass kostenlose Beratungsmöglichkeiten sowohl telefonisch als auch in den Auskunfts- und Beratungsstellen bestehen. Werden solche Anstrengungen unterlassen, ist der Sorgfaltsverstoß nicht darin zu sehen, dass die betroffene Person die entsprechenden Ausführungen im Bescheid nicht verstanden hat, sondern dass sie sich nicht ausreichend um die Verfolgung ihrer eigenen Interessen gekümmert hat.

Die „Bösgläubigkeit“ im Sinne von § 45 Abs. 2 S. 3 SGB X muss bereits bei Bekanntgabe des rechtswidrigen Verwaltungsaktes vorliegen.

Zehnjahresfrist

Bei der Zehnjahresfrist (§ 45 Abs. 3 S. 3 SGB X) ist zu unterscheiden, ob ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung zurückgenommen werden soll, mit dem eine wiederkehrende Leistung bewilligt wurde (zum Beispiel Renten, Zuschuss zu den Aufwendungen zur Krankenversicherung, Kinderzuschuss), oder ob es sich um einen sonstigen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung handelt (zum Beispiel Vormerkung einer rentenrechtlichen Zeit nach § 149 Abs. 5 S. 1 SGB VI).

Handelt es sich um einen

  • Verwaltungsakt über eine wiederkehrende Leistung, vergleiche Abschnitt 5.2.4.1.
  • sonstigen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, vergleiche Abschnitt 5.2.4.2.

Beachte:

Hat der Betroffene den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt (§ 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 SGB X), kann auch noch nach Ablauf von zehn Jahren seit Bekanntgabe des Verwaltungsaktes eine Rücknahme erfolgen. Aus dem Umstand, dass in § 45 Abs. 3 SGB X nicht auf § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 SGB X (siehe Abschnitt 5.2.1) verwiesen wird, folgt, dass in diesen - häufig einen Straftatbestand erfüllenden - Fällen die Zehnjahresfrist nicht einschlägig ist.

Für die Einhaltung der Frist ist es erforderlich, dass der Rücknahmebescheid dem Betroffenen innerhalb der Frist bekannt gegeben wird. Hinsichtlich des Beginns der Zehnjahresfrist ist daher auf den Zeitpunkt der Bekanntgabe des zurückzunehmenden Verwaltungsaktes abzustellen. Zur Fristberechnung wird auf die GRA zu § 26 SGB X verwiesen.

Verwaltungsakt über eine wiederkehrende Leistung

Eine Rücknahme für die Vergangenheit und für die Zukunft kommt innerhalb von zehn Jahren seit Bekanntgabe des Verwaltungsaktes in Betracht (§ 45 Abs. 3 S. 3 SGB X).

Eine Rücknahme für die Vergangenheit und für die Zukunft ist darüber hinaus auch nach Ablauf der Zehnjahresfrist zulässig, wenn die wiederkehrende Geldleistung mindestens bis zum Beginn des Verwaltungsverfahrens über die Rücknahme noch laufend gezahlt wird (§ 45 Abs. 3 S. 4 SGB X). Als „Beginn des Verwaltungsverfahrens“ ist in diesem Zusammenhang der Zeitpunkt anzusehen, zu dem die Verwaltung mit der Prüfung der Voraussetzungen für eine Rücknahme begonnen und entsprechende Ermittlungen oder rechtliche Überlegungen angestellt hat. Unter den Begriff der „Zahlung einer laufenden Geldleistung“ fällt dabei nur der tatsächliche Fluss von Geldmitteln durch Bargeld oder bargeldlose Überweisung.

Allerdings gelten Geldleistungen auch dann als „laufend gezahlt“ im Sinne des § 45 Abs. 3 S. 4 SGB X, wenn

  • eine Zahlungsunterbrechung allein aus technischen Gründen vorliegt oder
  • der Rentenbescheid zunächst nur mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben wurde und die vorbehaltene Aufhebung mit Wirkung für die Vergangenheit zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt wird, zu dem – wegen der bereits erfolgten Aufhebung für die Zukunft – keine laufende Zahlung mehr vorliegt.

Eine Leistung, die zum Beispiel zu Beginn des maßgeblichen Verwaltungsverfahrens wegen Einkommensanrechnung vollständig ruht, ist keine „laufend gezahlte Geldleistung“ im Sinne des § 45 Abs. 3 S. 4 SGB X, wenn zu diesem Zeitpunkt ein das Ende der Rentenzahlung verfügender bestandskräftiger Verwaltungsakt vorlag (Urteil des BSG vom 02.11.2015, AZ: B 13 R 27/14 R). Daher ist die Rücknahme eines Rentenbescheides nach Ablauf der Zehnjahresfrist nicht mehr zulässig, wenn der Rentenanspruch an sich (das sogenannte Rentenstammrecht) zwar weiter besteht, die Rente aber zu Beginn des Rücknahmeverfahrens tatsächlich nicht mehr gezahlt wurde und hierüber bereits ein unanfechtbarer Bescheid existierte.

Wurde eine rechtswidrige Rente (Vorrente, beispielsweise Erwerbsminderungsrente) gezahlt und schloss sich dieser Vorrente eine ebenfalls rechtswidrige Rente unmittelbar an, die zu Beginn des Rücknahmeverfahrens noch laufend gezahlt wurde (Nachfolgerente, beispielsweise Regelaltersrente), ist eine Rücknahme des Bescheides über die Vorrente nach Ablauf der Zehnjahresfrist nicht mehr zulässig. Der Tatbestand des § 45 Abs. 3 S. 4 SGB X ist in Bezug auf die Vorrente nicht erfüllt, da nicht „diese Geldleistung“ zu Beginn des Rücknahmeverfahrens gezahlt wurde, sondern die Nachfolgerente. Der Umstand, dass durchgehend ein rechtswidriger Rentenbezug erfolgte (erst Vorrente, dann Nachfolgerente), ist insoweit ohne Bedeutung (Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 25.10.2017, AZ: L 6 R 125/17, und Urteil des LSG Hessen vom 25.01.2019, AZ: L 5 R 137/18).

Beachte:

Die gegenteilige Rechtsauffassung, die vormals zur vorgenannten Fallgestaltung vertreten wurde, wurde aufgegeben.

War die Zehnjahresfrist am 15.04.1998 bereits abgelaufen, ist aus Gründen des Vertrauensschutzes eine Rücknahme lediglich mit Wirkung für die Zukunft zulässig (§ 45 Abs. 3 S. 5 SGB X).

Sonstiger Verwaltungsakt mit Dauerwirkung

Handelt es sich nicht um einen Verwaltungsakt über eine wiederkehrende Leistung (siehe Abschnitt 5.2.4.1), sondern um einen sonstigen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, kommt eine Rücknahme für die Vergangenheit und für die Zukunft nur innerhalb von zehn Jahren seit Bekanntgabe des Verwaltungsaktes in Betracht.

Widerrufsvorbehalt

Mit einem Widerrufsvorbehalt als Nebenbestimmung behält sich der Leistungsträger bereits bei Erlass des Verwaltungsaktes die Korrektur der Entscheidung - ganz oder teilweise - vor (siehe GRA zu § 32 SGB X, Abschnitt 3.1.3).

Wurde ein - von Beginn an rechtswidriger - Verwaltungsakt mit einem zulässigen Widerrufsvorbehalt erlassen, ist die Rücknahme sowohl mit Wirkung für die Vergangenheit als auch mit Wirkung für die Zukunft zulässig. Voraussetzung ist allerdings, dass seit Bekanntgabe des rechtswidrigen Verwaltungsaktes die Zehnjahresfrist des § 45 Abs. 3 S. 3 Nr. 2 SGB X (vergleiche Abschnitt 5.2.4) und - hinsichtlich der Rücknahme für die Vergangenheit - die Einjahresfrist des § 45 Abs. 4 S. 2 SGB X (vergleiche Abschnitt 5.5) noch nicht verstrichen ist.

Rentenbescheide werden von § 45 Abs. 3 S. 3 Nr. 2 SGB X nicht erfasst, da in der Regel ein Widerrufsvorbehalt bei Rentenbescheiden unzulässig ist.

Wiederaufnahmegrund

Soweit ein Wiederaufnahmegrund entsprechend § 580 ZPO vorliegt, ist die Rücknahme - soweit es um die Fristenregelung des § 45 Abs. 3 SGB X geht – grundsätzlich an keine Frist gebunden (§ 45 Abs. 3 S. 2 SGB X). Wenn es sich jedoch bei dem Wiederaufnahmegrund um das Wiederauffinden einer Urkunde im Sinne des § 580 Nr. 7b ZPO handelt, findet die Zehnjahresfrist des § 45 Abs. 3 S. 3 SGB X Anwendung (Urteil des BSG vom 21.10.2020, AZ: B 13 R 19/19 R). Nur in den Fällen, in denen (auch) ein Tatbestand des § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 SGB X erfüllt ist, ist eine zeitlich unbegrenzte Rücknahme möglich.

Beachte:

Die bisherige Auffassung, nach der eine Rücknahme auch bei einem Wiederaufnahmegrund nach § 580 Nr. 7b ZPO stets an keine Frist gebunden ist, wird in Anbetracht der genannten BSG-Rechtsprechung aufgegeben.

Die Einjahresfrist des § 45 Abs. 4 S. 2 SGB X (vergleiche Abschnitt 5.5) findet stets Anwendung.

Für den Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung haben regelmäßig nur die Wiederaufnahmegründe des § 580 Nr. 6 und 7b ZPO Bedeutung.

Dabei wird von Nummer 6 auch ein Verwaltungsakt einer anderen Behörde erfasst, der nunmehr durch einen anderen Verwaltungsakt aufgehoben worden ist (zum Beispiel Aufhebung einer Nachversicherungsbescheinigung, Änderung eines Überführungsbescheides nach § 8 Abs. 3 AAÜG). Die Aufhebung muss jedoch ausdrücklich für die Vergangenheit (also von Anfang an) erfolgt sein; anderenfalls handelt es sich um eine Änderung in den rechtlichen Verhältnissen, sodass § 48 SGB X anzuwenden ist.

Nach Nummer 7b stellt eine Urkunde einen Wiederaufnahmegrund dar, wenn sie vor Eintritt der Bindungswirkung des Verwaltungsaktes errichtet wurde und eine beteiligte Person im Zeitpunkt der ursprünglichen Verwaltungsentscheidung ein Recht hätte herleiten können. Es muss sich also um eine Urkunde handeln, die eine für den Rentenversicherungsträger günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würde.

Eine Urkunde fällt nicht unter Nummer 7b, sofern sie erst auf nachträgliche Ermittlungen des Rentenversicherungsträgers hin über bereits vor der Bescheiderteilung eingetretene Ereignisse errichtet wird.

Das Vorliegen eines Wiederaufnahmegrundes rechtfertigt für sich allein jedoch noch nicht die Rücknahme eines Verwaltungsaktes mit Wirkung für die Vergangenheit und Zukunft.

Der Umfang der Rücknahmemöglichkeit hängt davon ab, ob die betroffene Person „gutgläubig“ oder „bösgläubig“ ist.

  • Ist die betroffene Person „gutgläubig“, ist also das Vertrauen auf den Bestand des Verwaltungsaktes nicht nach § 45 Abs. 2 S. 3 SGB X wegen „Bösgläubigkeit“ (vergleiche Abschnitt 5.2) von vornherein ausgeschlossen, erfordert § 45 Abs. 2 S. 1 und 2 SGB X die Prüfung, ob das bestehende Vertrauen auf den Bestand des Verwaltungsaktes auch unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse schutzwürdig ist. Dabei kann hinsichtlich der Rücknahme mit Wirkung für die Zukunft regelmäßig davon ausgegangen werden, dass - da der Wiederaufnahmegrund den Rechtsfrieden zugunsten der Gerechtigkeit beseitigt - dem öffentlichen Interesse an der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung der Vorrang einzuräumen ist. Dies gilt regelmäßig auch dann, wenn die betroffene Person Vermögensdispositionen getroffen hat, die sie nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Hinsichtlich der Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit kann - soweit Leistungsbescheide betroffen sind - regelmäßig davon ausgegangen werden, dass die Leistung verbraucht wurde und das Vertrauen insoweit schutzwürdig im Sinne von § 45 Abs. 2 S. 2 SGB X ist mit der Folge, dass eine Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit nicht zulässig ist.
  • Ist die betroffene Person „bösgläubig“ (vergleiche Abschnitt 5.2), ist also das Vertrauen auf den Bestand des Verwaltungsaktes von vornherein ausgeschlossen, ist eine Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit und für die Zukunft zulässig.

Einjahresfrist

Nach § 45 Abs. 4 S. 2 SGB X muss die Behörde die Rücknahme des Verwaltungsakts innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen vornehmen, welche die Rücknahme für die Vergangenheit rechtfertigen.

Der Beginn der Einjahresfrist setzt somit voraus, dass

  • die Behörde, vergleiche Abschnitt 5.5.1,
  • die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes erkannt hat, vergleiche Abschnitt 5.5.2, und
  • zusätzlich sämtliche für die Rücknahmeentscheidung erheblichen Tatsachen vollständig kennt, vergleiche Abschnitt 5.5.3.

Bei der Einjahresfrist handelt es sich um eine gesetzliche Ausschlussfrist. Das bedeutet, dass im Falle eines Fristablaufs eine Rücknahme für die Vergangenheit nicht mehr zulässig ist. Insofern ist es erforderlich, dem Betroffenen den Rücknahmebescheid innerhalb der Einjahresfrist bekannt zu geben. Zur Fristberechnung wird auf die GRA zu § 26 SGB X verwiesen.

Behörde

Behörde in diesem Sinne ist der für die Entscheidung zuständige „Sachbearbeiter“ (Urteil des BSG vom 09.09.1986, AZ: 11a RA 2/85). Zum Kreis dieser Personen zählen nicht nur die eigentlichen Entscheidungsträger, sondern auch die zur Vorbereitung ihrer Entscheidung tätigen Personen, also die innerbehördlich zur Überprüfung des Verwaltungsaktes berufenen Mitarbeiter (Urteil des BSG vom 08.02.1996, AZ: 13 RJ 35/94).

Positive Kenntnis von der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes

Positive Kenntnis von der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes heißt, dass eine Erkenntnisbildung stattgefunden haben muss, die bei der Behörde das Bewusstsein hervorgerufen hat, dass der betreffende Verwaltungsakt rechtswidrig ist (Urteil des BSG vom 25.10.1995, AZ: 5/4 RA 66/94, Beschluss des Großen Senats des BVerwG vom 19.12.1984, AZ: 1/84, zu der dem § 45 SGB X inhaltsgleichen Vorschrift § 48 VwVfG).

Insofern ist Kenntnis in diesem Sinn mehr als ein - selbst grob fahrlässiges - „Kennenmüssen“ (Urteil des BSG vom 31.01.2008, AZ: B 13 R 23/07 R).

Kenntnis der für die Rücknahmeentscheidung erheblichen Tatsachen

Zur Kenntnis der für die Rücknahmeentscheidung erheblichen Tatsachen gehören alle Umstände, deren Kenntnis es der Behörde objektiv ermöglicht, ohne weitere Sachaufklärung unter sachgerechter Ausübung ihres Ermessens über die Rücknahme zu entscheiden (Urteil des BSG vom 02.07.1997, AZ: 9 RV 14/96). Die den Beginn der Einjahresfrist bestimmende Kenntnis ist dann anzunehmen, wenn mangels vernünftiger, objektiv gerechtfertigter Zweifel eine hinreichend sichere Informationsgrundlage bezüglich sämtlicher für die Rücknahmeentscheidung notwendiger Tatsachen besteht (Urteil des BSG vom 27.07.2000, AZ: B 7 AL 88/99 R).

Soweit es auf eine grobe Fahrlässigkeit des Betroffenen ankommt, ist zu beachten, dass nicht ein objektiver Maßstab anzulegen, sondern auf die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit, das Einsichtsvermögen und Verhalten des Betroffenen sowie die besonderen Umstände des Falles abzustellen ist. Die Behörde kann deshalb nicht allein auf den Akteninhalt abstellen. Als Anknüpfungspunkt für die Einjahresfrist ist daher das Anhörungsergebnis zugrunde zu legen, weil die Behörde erst nach erfolgter Anhörung über die Voraussetzungen des § 45 SGB X entscheiden kann (Urteile des BSG vom 08.02.1996, AZ: 13 RJ 35/94, und BSG vom 06.03.1997, AZ: 7 RAr 40/96).

Die Behörde hat das Anhörungsverfahren unverzüglich einzuleiten, sobald sie von der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes positive Kenntnis hat. Eine treuwidrige Verzögerung des Anhörungsverfahrens beziehungsweise der weiteren Ermittlungen kann dazu führen, dass die Behörde das Recht, den Verwaltungsakt für die Vergangenheit zurückzunehmen, verwirkt hat.

Rücknahme von Verwaltungsakten ohne Dauerwirkung

Die Rücknahme von Verwaltungsakten ohne Dauerwirkung ist stets für die Vergangenheit zu prüfen. Dabei gelten grundsätzlich dieselben Kriterien wie für die Rücknahme von Verwaltungsakten mit Dauerwirkung. Das heißt, es ist zu prüfen, ob "Bösgläubigkeit" im Sinne des § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 bis 3 SGB X vorliegt (siehe Abschnitte 5.2 ff.) und die Einjahresfrist des § 45 Abs. 4 S. 2 SGB X noch offen ist (siehe Abschnitte 5.5 ff.). Darüber hinaus ist Ermessen auszuüben (siehe Abschnitte 7 ff.). Ohne Bedeutung sind jedoch die Fristen des § 45 Abs. 3 SGB X, da diese nur bei Verwaltungsakten mit Dauerwirkung Anwendung finden.

Bei der Prüfung nach § 45 Abs. 2 SGB X kommt es auf verbrauchte Leistungen oder auf die Erwartung einer Leistung in bestimmter Höhe nur an, wenn mit dem rechtswidrigen Verwaltungsakt eine Leistung zuerkannt wurde (zum Beispiel Beitragserstattungen, Abfindungen). Sofern Vermögensdispositionen erkennbar nicht getroffen wurden, ist von einem überwiegenden öffentlichen Interesse an der Rücknahme des Verwaltungsaktes auszugehen.

Ermessensausübung

§ 45 SGB X ist eine Ermessensvorschrift. Das Ermessen ist nach § 39 Abs. 1 SGB I „entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben“. Der Zweck des § 45 SGB X liegt in der Lösung des Konflikts zwischen dem Grundsatz der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns einerseits und dem Vertrauensschutz des Begünstigten sowie der Rechtssicherheit andererseits.

Bei der Ermessensausübung sind die Gründe, die „für“ eine Bescheidrücknahme sprechen, und die Gründe, die „gegen“ eine Bescheidrücknahme sprechen, abzuwägen.

Die Ermessensentscheidung kann sich daher zugunsten des Betroffenen auswirken; sie muss es jedoch nicht. Letztlich ist entscheidend, dass die Ermessensausübung - zu welchem Ergebnis sie auch immer geführt hat - ausführlich im Bescheid begründet wird (vergleiche Abschnitt 7.2). Auch die Widerspruchsstelle muss Ermessen ausüben, das heißt, sie muss in dem von ihr erlassenen Widerspruchsbescheid die Ermessensgründe erkennen lassen. Soweit die Widerspruchsstelle sich den Ermessenserwägungen der Ausgangsbehörde uneingeschränkt anschließt, ist jedoch eine Bezugnahme auf die entsprechenden Ausführungen im Ausgangsbescheid ausreichend, solange hinreichend deutlich wird, dass auch die Widerspruchsstelle davon ausgegangen ist, eine Ermessensentscheidung treffen zu müssen (Urteil des BSG vom 11.02.2015, AZ: B 13 R 15/13 R).

Wird im Rahmen der Ermessensausübung eine Entscheidung zugunsten des Betroffenen getroffen, bedeutet dies hinsichtlich des Umfangs der Bescheidrücknahme, dass der zurückzunehmende Verwaltungsakt in dem Maße bestehen bleibt, in dem sich die Entscheidung zu seinen Gunsten auswirkt.

Bei den Ermessenserwägungen können auch Umstände berücksichtigt werden, die bereits zur Begründung der Voraussetzungen einer Rücknahme herangezogen wurden, zum Beispiel bei den Vertrauensausschlussgründen des Absatzes 2 Satz 3 oder der Interessenabwägung des Absatzes 2 Satz 1.

Beachte:

Auch in Fällen, in denen sich der Leistungsempfänger der Unrechtmäßigkeit der Leistung voll bewusst war, ist es - um das Risiko der gerichtlichen Kassation abzuwenden - sinnvoll, aus dem Akteninhalt oder aus den Äußerungen des Betroffenen erkennbare Umstände zumindest „hilfsweise“ in Ermessenserwägungen darzustellen, selbst wenn die Meinung vertreten werden sollte, dass dies eigentlich entbehrlich ist.

Ermessensgründe

Für eine sachgerechte Ermessensentscheidung ist zunächst die Feststellung sämtlicher Umstände des Einzelfalles notwendig. Derartige Umstände dürften sich insbesondere aus der Anhörung ergeben.

Schlechte wirtschaftliche Verhältnisse des Betroffenen sind kein im Rahmen des Ermessens zu berücksichtigender Grund. Die Tatsache, dass ein Betroffener möglicherweise nicht in der Lage ist, einen überzahlten Betrag erstatten zu können, ist nämlich nicht bereits bei der Bescheidrücknahme, sondern erst bei der Durchsetzung des Erstattungsanspruches zu berücksichtigen. Möglichen Härten und Unzumutbarkeiten ist erst im Durchsetzungsverfahren gemäß § 76 Abs. 2 SGB IV (Stundung, Niederschlagung oder Erlass) Rechnung zu tragen (in diesem Sinne: Urteile des BSG vom 15.08.2002, AZ: B 7 AL 24/01 R, BSG vom 05.06.2003, AZ: B 11 AL 70/02 R, BSG vom 12.02.2004, AZ: B 13 RJ 28/03 R, und BSG vom 07.09.2006, AZ: B 4 RA 43/05 R).

Gute wirtschaftliche Verhältnisse des Betroffenen sind hingegen ein im Rahmen des Ermessens zu berücksichtigender Grund.

Weitere Ermessensgründe können zum Beispiel sein:

  • Öffentliches Interesse (Interesse der Versichertengemeinschaft) an der Rückzahlung beziehungsweise Nicht-Weiterzahlung von Leistungen, auf die nach dem Recht der gesetzlichen Rentenversicherung kein Anspruch bestand beziehungsweise besteht,
  • Verschulden des Rentenversicherungsträgers,
  • Lebensalter des Betroffenen,
  • soziale Verhältnisse, Familienstand,
  • Eintritt von Sozialhilfebedürftigkeit oder verstärkter Inanspruchnahme von Sozialhilfe,
  • Gesundheitszustand (Gebrechlichkeit, Pflegebedürftigkeit),
  • entgangene und nachträglich nicht mehr erzielbare andere Sozialleistungen,
  • Weiterleitung der zu Unrecht erhaltenen Leistung an Dritte ohne eigenen finanziellen Nutzen (zum Beispiel Kinderzuschuss an das Kind oder den Erziehenden),
  • besondere Aufwendungen wegen Behinderung (Anschaffung von behindertengerechten Einrichtungsgegenständen oder von Hilfsmitteln),
  • Unterstützung anderer bedürftiger Personen.

Diese Aufzählung ist nicht abschließend; nach Lage des Einzelfalles können sich weitere Ermessensgründe ergeben. Denkbar ist auch ein Zusammenwirken mehrerer Ermessensgründe, die dadurch ein besonderes Gewicht bekommen.

Diesbezügliche Erwägungen können nur im Rahmen der Bescheidrücknahme nach § 45 SGB X eine Rolle spielen. Hat die Behörde jedoch zurückgenommen, hat sie kein Ermessen bezüglich der Rückforderung nach § 50 Abs. 1 SGB X, weil dies eine gebundene Entscheidung ist.

Umfang und Begründung des Ermessens

Bei der konkreten Ermessensausübung ist insbesondere ein mögliches Mitverschulden oder das alleinige Verschulden des Rentenversicherungsträgers sowie das öffentliche Interesse (Interesse der Versichertengemeinschaft) zu berücksichtigen, Leistungen, auf die nach dem Recht der gesetzlichen Rentenversicherung kein Anspruch bestand beziehungsweise besteht, zurückzufordern beziehungsweise nicht weiter erbringen zu müssen.

Daneben sind im Rahmen der konkreten Ermessensausübung die in Abschnitt 7.1 genannten Ermessensgründe mit in die Entscheidung einzubeziehen.

Ein Mitverschulden oder ein alleiniges Verschulden des Rentenversicherungsträgers bedeutet nicht zwangsläufig, dass der Umfang der Bescheidrücknahme und damit die Höhe der Überzahlung zu reduzieren ist. Denn auch bei einem Mitverschulden des Rentenversicherungsträgers ist es denkbar, dass andere Ermessensgründe (vergleiche Abschnitt 7.1), insbesondere das öffentliche Interesse (Interesse der Versichertengemeinschaft), so schwer wiegen, dass es sachgerecht ist, von der vollumfänglichen Bescheidrücknahme nicht abzusehen.

Gibt der Betroffene im Rahmen des Anhörungsverfahrens keine Ermessensgesichtspunkte an, ist eine Ermessensentscheidung nach Aktenlage zu treffen. Auch dabei ist auf die genannten Ermessensgründe - aber in diesem Fall eben auf Basis des Akteninhalts - einzugehen.

Als Ergebnis der Ermessensausübung kann in Betracht kommen:

  • Von der Rücknahme abzusehen mit der Folge, dass der überzahlte Betrag nicht zurückgefordert werden kann (§ 50 Abs. 1 SGB X).
  • Von der Rücknahme teilweise abzusehen mit der Folge, dass der überzahlte Betrag nur teilweise zurückgefordert werden kann (§ 50 Abs. 1 SGB X).
  • Von der Rücknahme nicht abzusehen mit der Folge, dass der überzahlte Betrag in vollem Umfang zurückgefordert werden muss (§ 50 Abs. 1 SGB X).

Bei der Begründung des Ergebnisses der Ermessensausübung ist von entscheidender Bedeutung, dass im Rücknahmebescheid zum Ausdruck gebracht wird, dass sich der Rentenversicherungsträger der Erforderlichkeit einer Ermessensausübung bewusst war und Ermessen auch ausgeübt hat. Die Ermessensentscheidung - mit welchem Ergebnis auch immer - ist daher ausführlich zu begründen. Die Begründung muss alle Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen bei der Ausübung des Ermessens ausgegangen wurde (§ 35 Abs. 1 S. 3 SGB X).

Trifft zum Beispiel den Rentenversicherungsträger ein Mitverschulden oder das alleinige Verschulden und soll von der vollumfänglichen Bescheidrücknahme nicht abgesehen werden, muss bei der Begründung der Ermessensentscheidung zum Ausdruck kommen, dass er sich des Mitverschuldens oder des alleinigen Verschuldens bewusst war, dies aber im Hinblick auf andere Ermessensgründe zurücksteht.

Sollen sich die festgestellten Umstände zugunsten des Betroffenen auswirken, ist zu entscheiden, in welchem Umfang von der Rücknahme abgesehen werden soll.

Wird im Rahmen der Ermessensausübung der Verwaltungsakt nur teilweise zurückgenommen mit der Folge der Reduzierung der Überzahlung um zum Beispiel 30 %, genügt es für eine ausreichende Begründung nicht, allein die Tatsache der Reduzierung festzustellen, sondern es ist notwendig darzulegen, wie sich dieser Verhältniswert ergibt. Es muss also zum Ausdruck kommen, dass die gegen eine Rücknahme sprechenden Gründe (mit der Rückforderung verbundene wirtschaftliche Härte, Mitverschulden des Rentenversicherungsträgers) nicht so schwer wiegen, dass von einer Rücknahme abgesehen werden kann; diese jedoch in der Gesamtschau des Falls (also auch im Hinblick auf die anderen Ermessensgründe) zumindest teilweise berücksichtigt werden konnten.

Formulierungen wie

„Auch im Wege des Ermessens halten wir die Bescheidrücknahme für gerechtfertigt.“ oder

„Gründe für eine Ermessensentscheidung zu Ihren Gunsten liegen nicht vor.“

genügen damit dem Begründungsgebot nicht. Ein Verstoß gegen die Begründungspflicht führt zur Rechtswidrigkeit des Bescheides und gegebenenfalls zur Aufhebung durch die Sozialgerichtsbarkeit (zur Nachholung der Begründung vergleiche Abschnitt 9).

Rücknahmebescheid

Über die Rücknahme eines Verwaltungsaktes nach § 45 SGB X ist dem Betroffenen ein förmlicher Verwaltungsakt im Sinne des § 31 SGB X zu erteilen (vergleiche hierzu GRA zu § 31 SGB X).

Der Rücknahmebescheid muss Folgendes enthalten: 

  • Im Tenor (§ 33 Abs. 1 SGB X)
    • Bezeichnung des zurückzunehmenden Verwaltungsaktes,
    • Zeitpunkt, von dem an zurückgenommen wird,
    • bei zurückgenommenen Leistungsbescheiden gegebenenfalls Feststellung der Überzahlung und Geltendmachung des Erstattungsanspruchs (gemäß § 50 Abs. 1 S. 1 SGB X).
  • In der Begründung (§ 35 Abs. 1 SGB X)
    • Ausführungen zum materiellen Recht (Grund der Rechtswidrigkeit),
    • Angabe der Aufhebungsvorschrift sowie Ausführungen zu den im Einzelfall vorliegenden Rücknahmevoraussetzungen des § 45 SGB X, gegebenenfalls auch zum Erstattungsanspruch nach § 50 SGB X (siehe auch GRA zu § 50 SGB X, Abschnitt 3.1).
      Die Aufhebungsvorschrift kann zusätzlich bereits im Tenor genannt werden, auch wenn sie Teil der Begründung des Bescheides im Sinne des § 35 SGB X ist und lediglich im Begründungsteil enthalten sein muss.
    • Darlegung der Ermessenserwägungen (§ 35 Abs. 1 S. 3 SGB X), aus der unter anderem hervorgehen soll, dass der Rentenversicherungsträger unter Berücksichtigung der Gegenvorstellungen des Betroffenen aus dem Anhörungsverfahren geprüft hat, inwieweit sich diese auf die Entscheidung ausgewirkt haben; eine allgemeine Aussage, dass Ermessen ausgeübt wurde, ist nicht ausreichend.
  • In der Rechtsbehelfsbelehrung (§ 36 SGB X)
    • Widerspruchsklausel.

Folgen von Verfahrens- und Formfehlern

Ist ein Rücknahmebescheid mangels Anhörung oder Begründung (Ausführungen zum Vertrauensschutz und zur Ermessensausübung) rechtswidrig und insoweit mit einem Verfahrens- oder Formfehler behaftet, ist es zulässig, die fehlenden Handlungen im Widerspruchsverfahren oder im sozialgerichtlichen Verfahren nachzuholen und somit zu heilen im Sinne des § 41 SGB X (siehe GRA zu § 41 SGB X).

Die Möglichkeit der Heilung von Verfahrens- und Formfehlern bedeutet jedoch nicht, dass es zulässig ist, den Rücknahmebescheid - im Hinblick auf die Möglichkeit einer späteren Heilung - unter Außerachtlassung von Formvorschriften für eine Rücknahme (wie zum Beispiel §§ 24, 35 SGB X) zu erteilen.

Wurde dennoch - aus welchem Grund auch immer - in einem sozialgerichtlichen Verfahren ein angefochtener Rücknahmebescheid aus formellen Gründen durch Urteil aufgehoben, sind für einen neuen Rücknahmebescheid die Fristen des § 45 Abs. 3 und Abs. 4 S. 2 SGB X erneut zu prüfen (Urteile des BSG vom 27.07.1989, AZ: 11/7 RAr 111/87, AZ: 11/7 RAr 115/87 und AZ: 11 RAr 7/88, BSG vom 09.11.1989, AZ: 11 RAr 39/89, und BSG vom 15.02.1990, AZ: 7 RAr 28/88).

Aussparung

Ist ein Rentenbescheid oder ein Nichtleistungsbescheid (zum Beispiel ein Verwaltungsakt über die Anerkennung einer rentenrechtlichen Zeit) nicht nach § 45 SGB X rücknehmbar, ist eine Aussparung nach § 48 Abs. 3 S. 1 SGB X oder § 48 Abs. 3 S. 2 SGB X vorzunehmen.

Ein Aussparungsfall nach § 48 Abs. 3 S. 2 SGB X liegt allerdings nicht vor, wenn es sich bei dem nicht rücknehmbaren Nichtleistungsbescheid um einen Verwaltungsakt handelt, der Grundlage für die Zahlung von Beiträgen war (zum Beispiel ein Verwaltungsakt über die Berechtigung zur laufenden freiwilligen Versicherung oder ein Verwaltungsakt über die Zulassung zur Nachzahlung von freiwilligen Beiträgen). Wegen der weiteren Bestandskraft des Verwaltungsaktes sind die Beiträge als rechtmäßig gezahlt anzusehen, sodass sie bei einer Rente als rechtswirksame Beiträge zu berücksichtigen sind (in diesem Sinn: Urteile des BSG vom 07.11.1995, AZ: 12 RK 66/94, und BSG vom 19.12.1995, AZ: 12 RK 25/95). Der Rente liegen dann diese rechtswirksamen Beiträge und nicht der rechtswidrig begünstigende Nichtleistungsbescheid zugrunde, sodass die Voraussetzungen der Aussparungsvorschrift des § 48 Abs. 3 S. 2 SGB X nicht erfüllt sind (siehe hierzu auch Abschnitt 11.7).

Näheres zur Aussparung ergibt sich aus der GRA zu § 48 SGB X, Abschnitt 9.

Einzelfälle

Nachstehend sind einige Einzelfälle zur Anwendung des § 45 SGB X aufgeführt.

Rücknahme eines Rentenbescheides in Verbindung mit einem Nichtleistungsbescheid

Liegt einem Rentenbescheid ein rechtswidriger begünstigender Nichtleistungsbescheid zugrunde und kann der Nichtleistungsbescheid nach § 45 SGB X

  • für die Vergangenheit und die Zukunft zurückgenommen werden, erweist sich der Rentenbescheid als rechtswidrig begünstigend im Sinne des § 45 SGB X. Es ist in einer weiteren Prüfung zu entscheiden, ob auch der Rentenbescheid nach § 45 SGB X zurückgenommen werden kann.
  • nur für die Zukunft zurückgenommen werden, ergibt sich für den Rentenbescheid eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen im Sinne des § 48 SGB X. Der Rentenbescheid stellt sich ab diesem Zeitpunkt als rechtswidrig dar. Seine Aufhebung ist nach Maßgabe des § 48 SGB X zu prüfen.
  • nicht zurückgenommen werden, erweist sich der Rentenbescheid als rechtmäßig. Die Leistungen aufgrund dieses rechtmäßigen Rentenbescheides sind allerdings - wie beim rechtswidrigen Rentenbescheid - nach § 48 Abs. 3 S. 2 SGB X auszusparen (vergleiche GRA zu § 48 SGB X, Abschnitte 9, 9.1.2 und 9.1.4).

Anwendung des § 45 SGB X nach dem Tode des Rentenberechtigten

Nach § 39 Abs. 2 SGB X bleibt ein Verwaltungsakt so lange wirksam, bis er zurückgenommen wird oder sich auf andere Weise erledigt. Durch den Tod tritt eine Erledigung eines Rentenbescheides auf andere Weise ein, ohne dass die Wirksamkeit für die Zeit vor dem Tod beseitigt wird. Diese Wirksamkeit kann aber unter den Voraussetzungen des § 45 SGB X beseitigt werden, wenn im Verhältnis zum Verstorbenen eine Rücknahme für die Vergangenheit zulässig gewesen wäre.

Hat der Rentner vor seinem Tod die Leistungen selbst erhalten oder sind sie nach seinem Tod den Erben zugeflossen, wird der Rücknahme- und Rückforderungsbescheid an die gesamtschuldnerisch haftenden Erben gerichtet (vergleiche §§ 1967, 2058 BGB). Hinsichtlich der Voraussetzungen zur Rücknahme ist auf die Umstände des Erblassers, nicht aber auf in der Person des Erben begründete Umstände abzustellen. Hat der Rentner vor seinem Tod die Leistungen nicht mehr erhalten und sind sie nach seinem Tod nicht den Erben, sondern einem Sonderrechtsnachfolger zugeflossen, wird der Rücknahme- und Rückforderungsbescheid nach dem Gedanken des § 57 Abs. 2 S. 1 und 2 SGB I an den Sonderrechtsnachfolger gerichtet.

Die Frage, ob ein Verwaltungsakt noch nach dem Tode des Berechtigten für Bezugszeiten vor dem Tode gemäß § 45 SGB X zurückgenommen werden kann, ist auch für die Anwendung von § 46, § 48 SGB VI in Verbindung mit § 88 Abs. 2 SGB VI von Bedeutung: Kann der Versichertenrentenbescheid nach § 45 SGB X zurückgenommen werden, ist für die Hinterbliebenenrente die zutreffende Höhe der persönlichen Entgeltpunkte der Versichertenrente für die Ermittlung des Besitzschutzes nach § 88 Abs. 2 SGB VI zugrunde zu legen.

Kann der Versichertenrentenbescheid nach § 45 SGB X nicht mehr zurückgenommen werden, sind für die Ermittlung des Zahlbetrages der Rente wegen Todes die „fehlerhaften“ persönlichen Entgeltpunkte der Versichertenrente zu berücksichtigen; es hat aber eine Aussparung nach § 48 Abs. 3 SGB X zu erfolgen. Das ergibt sich daraus, dass die Besitzschutzregelung des § 88 Abs. 2 SGB VI unmittelbar nur rechtmäßig zustehende persönliche Entgeltpunkte schützt. Die Verpflichtung zur Berücksichtigung der „fehlerhaften“ persönlichen Entgeltpunkte aus der vorherigen Versichertenrente ergibt sich jedoch aus der weiteren Bestandskraft des Versichertenrentenbescheides. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich hieraus eine dynamische Rente ergibt. Es ist vielmehr ein Aussparungsfall nach § 48 Abs. 3 SGB X gegeben. Das bedeutet, dass die Rente wegen Todes auf der Grundlage der „fehlerhaften“ persönlichen Entgeltpunkte so lange statisch zu zahlen ist, bis die Rente wegen Todes aufgrund der zutreffenden persönlichen Entgeltpunkte infolge von Anpassungen diesen Zahlbetrag erreicht. Dabei ist die Aussparung bereits vom Beginn der Rente wegen Todes an vorzunehmen.

Hinsichtlich der Rücknahme und Rückforderung nach dem Tod des Berechtigten gelten darüber hinaus die Ausführungen in der GRA zu § 50 SGB X, Abschnitt 3.2.

Änderung der Rentenart

Die Besitzschutzregelung des § 88 Abs. 1 SGB VI greift dann nicht ein, wenn der bisherige Rentenbescheid rechtswidrig im Sinne von § 45 SGB X ist, wobei der Rentenanspruch entweder zu hoch oder unter Umständen sogar dem Grunde nach zu Unrecht festgestellt wurde. In einem solchen Fall ist zu prüfen, ob der bisherige Rentenanspruch nach § 45 SGB X nachträglich - also für die Vergangenheit - bereinigt werden kann.

Ist eine Korrektur nach § 45 SGB X zulässig, ist die zutreffende Höhe der persönlichen Entgeltpunkte für die Besitzschutzprüfung nach § 88 Abs. 1 SGB VI zugrunde zu legen.

Ist eine Korrektur nach § 45 SGB X wegen fehlender Voraussetzungen nicht mehr möglich, sind für die Ermittlung des Zahlbetrages der nachfolgenden Versichertenrente die „fehlerhaften“ persönlichen Entgeltpunkte der bisherigen Versichertenrente zu berücksichtigen; es hat aber eine Aussparung nach § 48 Abs. 3 SGB X zu erfolgen. Das ergibt sich daraus, dass die Besitzschutzregelung des § 88 Abs. 1 SGB VI unmittelbar nur rechtmäßig zustehende persönliche Entgeltpunkt schützt. Die Verpflichtung zur Berücksichtigung der „fehlerhaften“ persönlichen Entgeltpunkte aus der bisher geleisteten Versichertenrente ergibt sich jedoch aus der weiteren Bestandskraft des Versichertenrentenbescheides. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich hieraus eine dynamische Rente ergibt. Es ist vielmehr ein Aussparungsfall nach § 48 Abs. 3 SGB X gegeben. Das bedeutet, dass die Nachfolgerente auf der Grundlage der „fehlerhaften“ persönlichen Entgeltpunkte so lange statisch zu zahlen ist, bis die Nachfolgerente aufgrund der zutreffenden persönlichen Entgeltpunkte infolge von Anpassungen diesen Zahlbetrag erreicht. Dabei ist die Aussparung bereits vom Beginn der nachfolgenden Versichertenrente an vorzunehmen.

Auswirkungen von Änderungen der Rechtsauslegung zuungunsten des Betroffenen

Bei eingetretenen Rentenminderungen aufgrund einer Änderung der Rechtsauslegung (vergleiche Abschnitt 2.1) zuungunsten des Betroffenen ist Folgendes zu beachten:

  • Ist die Rentenminderung ausschließlich auf die geänderte Rechtsauslegung zurückzuführen, ist dem Betroffenen in der Regel ein Vertrauensschutz nach § 45 Abs. 2 SGB X zuzubilligen; eine Herabsetzung des Rentenzahlbetrages findet nicht statt. Es ist lediglich die Aussparung nach § 48 Abs. 3 SGB X vorzunehmen.
  • Ist die Rentenminderung dagegen ganz oder teilweise auf sonstige Gründe (zum Beispiel Hinzutritt oder Herausnahme von Zeiten), die den Rentenbescheid rechtswidrig machen und sich allein auf die Rentenberechnung beziehen, zurückzuführen, ist eine Prüfung nach § 45 SGB X uneingeschränkt durchzuführen.

Überzahlter Zuschuss zur Krankenversicherung nach § 106 SGB VI

Soweit es bei der Prüfung, ob ein Verwaltungsakt über die Bewilligung eines Zuschusses zur Krankenversicherung für die Vergangenheit zurückgenommen werden kann, um die Frage der „Bösgläubigkeit“ im Sinne des § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 SGB X geht, ist zu beachten, dass der Rentenempfänger aufgrund der im „Antrag auf Beitragszuschuss“ aufgegebenen Mitteilungspflichten im Zusammenhang mit dem Beitragszuschuss letztlich auch darüber informiert wurde, wann die Voraussetzungen für den Beitragszuschuss nicht gegeben sind.

Neufeststellung einer Rente bei Änderung eines Überführungsbescheides nach § 8 Abs. 3 AAÜG

Wird nach Eintritt der Bindungswirkung eines Neufeststellungsbescheides nach § 307b Abs. 1 SGB VI oder eines sonstigen Rentenbescheides der der Rentenberechnung zugrunde liegende Überführungsbescheid (§ 8 Abs. 3 AAÜG) durch den Versorgungsträger rückwirkend korrigiert und führt dies zu einer Verminderung des Rentenanspruches, so ist die Rücknahme des Rentenbescheides nach § 45 SGB X zu beurteilen. Zwar war der Rentenversicherungsträger wegen § 8 Abs. 5 S. 2 AAÜG zunächst an die Feststellungen im fehlerhaften Überführungsbescheid gebunden. Diese Feststellungen des Versorgungsträgers haben aber keinen konstitutiven Charakter, wie dies beispielsweise bei einer Bescheinigung über eine fiktive Nachversicherung der Fall ist. Insoweit bedeutet die rückwirkende Änderung des Überführungsbescheides nicht eine Änderung in den rechtlichen Verhältnissen im Sinne des § 48 SGB X; der Rentenbescheid erweist sich vielmehr als von Anfang an rechtswidrig im Sinne des § 45 SGB X.

Da die Änderung des Überführungsbescheides einen Wiederaufnahmegrund entsprechend § 580 Nr. 6 ZPO darstellt, ist eine Rücknahme des Rentenbescheides mit Wirkung für die Vergangenheit nicht von vornherein ausgeschlossen (§ 45 Abs. 4 S. 1 in Verbindung mit Abs. 3 S. 2 SGB X). Ob und in welchem Umfang der Rentenbescheid dann aber zurückgenommen werden kann, hängt vom Ergebnis der Vertrauensschutzprüfung nach § 45 Abs. 2 SGB X und der anschließend zu treffenden Ermessensentscheidung ab.

In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, aus welchen Gründen die Korrektur des Überführungsbescheides notwendig war. Kann dies nicht anhand der Erläuterungen zum geänderten Überführungsbescheid oder der Ausführungen des Rentenberechtigten im Rahmen der Anhörung (§ 24 SGB X) geklärt werden, ist hierzu Rückfrage beim Versorgungsträger zu halten. Allein aus dem Umstand, dass der Rentenberechtigte gegebenenfalls gegen den ursprünglichen Überführungsbescheid Widerspruch oder Klage erhoben hat, kann jedenfalls nicht geschlossen werden, dass nicht zumindest in die bisherige Höhe der Rentenzahlung vertraut wurde.

Rücknahme eines Verwaltungsaktes über die Zulassung zur Nachzahlung von freiwilligen Beiträgen

Ist ein Zulassungsbescheid zur Nachzahlung von freiwilligen Beiträgen (zum Beispiel § 282 SGB VI) rechtswidrig begünstigend (weil zum Beispiel im Nachzahlungszeitraum bereits freiwillige Beiträge gezahlt sind oder das 65. Lebensjahr zur Zeit der Antragstellung bereits vollendet war), ist bei der Anwendung des § 45 SGB X zu unterscheiden, ob die Beiträge aufgrund des Zulassungsbescheides bereits gezahlt worden sind oder noch nicht gezahlt sind. Dies ergibt sich aus der unterschiedlichen Bedeutung, die der Zulassungsbescheid vor und nach der Zahlung der Beiträge hat (Urteile des BSG vom 07.11.1995, AZ: 12 RK 66/94, und BSG vom 19.12.1995, AZ: 12 RK 25/95).

  • Sind die Beiträge noch nicht gezahlt worden, ist die Rücknahme des Verwaltungsaktes mit Wirkung für die Zukunft zu prüfen (§ 45 Abs. 1 bis 3 SGB X). Vom Erlass eines antragsgemäßen Zulassungsbescheides an bis zu dem Zeitpunkt, in dem der Begünstigte von seinem Nachzahlungsrecht Gebrauch macht, hat dieser Verwaltungsakt lediglich die Wirkung, dass der Begünstigte berechtigt ist, Beiträge in dem ausgesprochenen Umfang nachzuzahlen. Im Regelfall dürfte das Vertrauen des Versicherten auf den Bestand des Verwaltungsaktes unter Abwägung mit dem Interesse der Versichertengemeinschaft (öffentliches Interesse) an der Rücknahme des Verwaltungsaktes nicht schutzwürdig sein; daraus folgt, dass eine Bescheidrücknahme für die Zukunft - soweit Ermessenserwägungen dem nicht entgegenstehen - grundsätzlich möglich ist. Er beseitigt dann das Recht, die Beiträge nachzuzahlen.
  • Sind die Beiträge bereits gezahlt worden, ist die Rücknahme des Verwaltungsaktes mit Wirkung für die Vergangenheit, das heißt für die Zeit des Erlasses des Zulassungsbescheides bis zum Zeitpunkt der Nachzahlung, zu prüfen (§ 45 Abs. 1 bis 4 SGB X). Ein Zulassungsbescheid kann nach dem Zeitpunkt, in dem die Beiträge gezahlt sind, in seinen Rechtswirkungen nicht in der Weise aufgespalten werden, dass er eine Wirkung für die Vergangenheit und eine Wirkung für die Zukunft hat und er demgemäß mit Wirkung für die Vergangenheit bestehen bleiben, mit Wirkung für die Zukunft hingegen zurückgenommen werden kann. Vom Zeitpunkt der tatsächlichen Nachzahlung an erschöpft sich der Regelungsgehalt des Zulassungsbescheides vielmehr in der Feststellung des Nachzahlungsrechts. Er ist dann Rechtsgrund für die Beitragszahlung und bewirkt, dass die Beiträge rechtmäßig gezahlt sind. Unerheblich ist, dass der Zulassungsbescheid auch in die Zukunft gerichtete Auswirkungen hat, weil die aufgrund des Zulassungsbescheides nachgezahlten Beiträge bei einer künftigen Leistungsbewilligung als wirksame Beiträge zu berücksichtigen sind. Mit Wirkung für die Vergangenheit kann ein Verwaltungsakt nur in den Fällen des § 45 Abs. 2 S. 3 und Abs. 3 S. 2 SGB X zurückgenommen werden. Beruht der rechtswidrig begünstigende Verwaltungsakt allein auf einem Fehler des Rentenversicherungsträgers, sollte von einer Rücknahme des Zulassungsbescheides für die Vergangenheit im Wege des Ermessens abgesehen werden.

Ist die Bescheidrücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit nicht möglich, sind die aufgrund des Zulassungsbescheides gezahlten Nachzahlungsbeiträge als rechtswirksame Beiträge anzusehen. Einer späteren Rentenberechnung liegen dann diese rechtswirksamen Beiträge und nicht der rechtswidrig begünstigende Zulassungsbescheid zugrunde, das heißt es liegt kein Fall des § 48 Abs. 3 S. 2 SGB X vor.

Anwendung auf die Mitteilung über die Abrechnung einer Rentennachzahlung

Bei der Mitteilung über die Abrechnung einer Rentennachzahlung handelt es sich um einen Verwaltungsakt über die rechtsverbindliche Festsetzung der Rentennachzahlung (BSG vom 07.04.2022, AZ: B 5 R 24/21 R; AGVR 3/2022, TOP 13 sowie GRA zu § 31 SGB X, Abschnitt 7). Eine fehlerhafte Mitteilung über die Abrechnung einer Rentennachzahlung ist daher nach den §§ 44, 45 SGB X zu behandeln. Wurde ein zu hoher Nachzahlungsbetrag festgestellt, findet demnach § 45 SGB X Anwendung. Dies ist der Fall, wenn

  • bei der Abrechnung der Nachzahlung ein Erstattungsanspruch (§§ 102 ff. SGB X), eine Abtretung (§ 53 SGB I) oder Pfändung (§ 54 SGB I) zu Unrecht nicht oder fehlerhaft zu niedrig berücksichtigt wurde (siehe Abschnitt 11.8.1).
  • der Rentenbescheid bei seinem Erlass rechtswidrig begünstigend war und eine Rentennachzahlung vorläufig einbehalten und dann abgerechnet wurde (siehe Abschnitt 11.8.2).

Bei der Abrechnung der Nachzahlung wurde ein Erstattungsanspruch, eine Abtretung oder Pfändung zu Unrecht nicht oder fehlerhaft zu niedrig berücksichtigt

Die Rücknahme des Bescheides über die Abrechnung der Rentennachzahlung ist nach § 45 SGB X zu prüfen. Der Rückforderungsanspruch gegenüber der rentenberechtigten Person richtet sich - unter Rücknahme des Abrechnungsbescheides - nach § 50 Abs. 1 SGB X (vergleiche GRA zu § 50 SGB X, Abschnitt 2.2).

Beachte:

Hinsichtlich der Beträge, die bei einer zu Unrecht nicht oder fehlerhaft zu niedrig berücksichtigten Abtretung oder Pfändung ab dem Zeitpunkt des Beginns der laufenden Zahlung erbracht wurden, ist hingegen § 50 Abs. 2 S. 2 SGB X in Verbindung mit § 45 SGB X Rechtsgrundlage für die Rückforderung gegenüber der rentenberechtigten Person (vergleiche GRA zu § 50 SGB X, Abschnitt 2.2).

Es gelten darüber hinaus die Ausführungen in der GRA zu § 53 SGB I, Abschnitt 11.4 und in der GRA zu § 54 SGB I, Abschnitt 10.4.

Der Rentenbescheid war bei seinem Erlass rechtswidrig begünstigend und eine Rentennachzahlung wurde vorläufig einbehalten und dann abgerechnet

Es ist sowohl eine Rücknahme des Rentenbescheides als auch des Bescheides über die Abrechnung der Rentennachzahlung nach § 45 SGB X zu prüfen.

Der Rückforderungsanspruch gegenüber der rentenberechtigten Person hinsichtlich der Beträge, die ab dem Zeitpunkt des Beginns der laufenden Zahlung erbracht wurden, richtet sich - unter Rücknahme des Rentenbescheides - nach § 50 Abs. 1 SGB X. Auch hinsichtlich des Nachzahlungszeitraums richtet sich der Rückforderungsanspruch - unter Rücknahme des Abrechnungsbescheides - nach § 50 Abs. 1 SGB X.

Beispiel 1: Rechtswidrigkeit und Abgrenzung zu § 48 SGB X

(Beispiel zu Abschnitt 2.1)

SachverhaltDatum
Hinterbliebenenrentenbescheid mit Einkommensanrechnung (§ 97 SGB VI)11.03.2014
Beginn der Hinterbliebenenrente01.02.2014
Kenntnis, dass sich das Einkommen wegen einer Tariferhöhung rückwirkend ab 01.01.2014 erhöht hat05.05.2014

Lösung:

Wegen der Fiktion des § 48 Abs. 1 S. 3 SGB X gilt als Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse der 01.02.2014 mit der Folge, dass der Hinterbliebenenrentenbescheid ab Rentenbeginn (01.02.2014) nach § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB X aufgehoben werden kann.

Beispiel 2: Rechtswidrigkeit und Abgrenzung zu § 48 SGB X

(Beispiel zu Abschnitt 2.1)

SachverhaltDatum
EM-Rentenbescheid10.06.2010
Beginn der EM-Rente01.12.2009
Verletzten-Rentenbescheid05.08.2014
Beginn der Verletztenrente01.12.2009
Laufende Zahlung der Verletztenrente01.09.2014
Nachzahlungszeitraum der Verletztenrente01.12.2009 bis 31.08.2014
Neuberechnungsbescheid (§ 93 SGB VI)23.10.2014
Zeitraum der Rentenüberzahlung01.12.2009 bis 30.11.2014

Lösung:

Wegen der Erfüllungsfiktion des § 107 SGB X, die dazu führt, dass der Rentenbescheid für den Zeitraum des Bestehens des Erstattungsanspruches rechtmäßig bleibt, tritt die Rechtswidrigkeit des Rentenbescheides erst mit der laufenden Zahlung der Verletztenrente am 01.09.2014 ein. Der Rentenbescheid vom 10.06.2010 ist daher erst ab 01.09.2014 hinsichtlich der Rentenhöhe nach § 48 SGB X aufzuheben.

Bekanntmachung der Neufassung des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch vom 18.01.2001 (BGBl. I S. 130)
Inkrafttreten: 01.01.2001

Aufgrund des Artikels 66 des 4. Euro-Einführungsgesetzes vom 21.12.2000 (BGBl. I S. 1983) wurde die Neufassung des SGB X in der vom 01.01.2001 an geltenden Fassung bekannt gemacht.

Gesetz zur sozialrechtlichen Absicherung flexibler Arbeitszeitregelungen vom 06.04.1998 (BGBl. I S. 688)

Inkrafttreten: 15.04.1998

Quelle zum Entwurf: BT-Drucksache 13/10033

Durch Artikel 5 Nummer 2 des „Gesetzes zur sozialrechtlichen Absicherung flexibler Arbeitszeitregelungen“ vom 06.04.1998 (BGBl. I S. 688) wurden dem Absatz 3 die Sätze 4 und 5 angefügt. Danach ist die Rücknahme eines wiederkehrende Leistungen bewilligenden Verwaltungsaktes auch nach Ablauf der Frist von zehn Jahren zulässig. Die Anfügung basiert auf einer Forderung des Bundesrechnungshofes (BT-Drucksache 13/5700).

Einigungsvertragsgesetz vom 23.09.1990 (BGBl. II S. 885)
Inkrafttreten: 01.01.1991

Der Anwendungsbereich des § 45 wurde durch Anlage 1 Kapitel VIII Sachgebiet D Abschnitt III Nummer 2 des „Einigungsvertragsgesetzes“ vom 23.09.1990 (BGBl. II S. 885 ff., 1032) auf das Beitrittsgebiet ausgeweitet.

1. SGB-Änderungsgesetz vom 20.07.1988 (BGBl. I S. 1046)
Inkrafttreten: 27.07.1988

Durch das 1. SGB-Änderungsgesetz vom 20.07.1988 (BGBl. I S. 1046) ist in Absatz 3 Nummer 1 das Wort „und“ durch „oder“ ersetzt worden.

SGB X vom 18.08.1980 (BGBl. I S. 1469, 2218)

Inkrafttreten: 01.01.1981

Quelle zum Entwurf: BT-Drucksache 7/910

§ 45 wurde durch das „Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren“ vom 18.08.1980 (BGBl. I S. 1469) zum 01.01.1981 eingeführt.

Zusatzinformationen

Rechtsgrundlage

§ 45 SGB X