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4 RJ 130/77

Gründe

Die Beklagte fordert von der Klägerin Rente zurück, die ihr für die Monate Mai 1974 bis Februar 1975 zu Unrecht gezahlt worden ist.

Die Beklagte hatte der Klägerin mit Bescheid vom 22.01.1974 Rente wegen EU für die Zeit vom 07.11.1973 bis zum 30.04.1 974 bewilligt. Der Bescheid enthielt den Hinweis, die Rente falle mit dem 30.04.1974 weg, ohne daß es eines Entziehungsbescheides oder einer Mitteilung bedürfe. Gegen die zeitliche Begrenzung der Rente erhob die Klägerin Klage, nahm diese jedoch am 18.02.1975 wieder zurück.

Während der Dauer des Rechtsstreits hatte die Beklagte der Klägerin die Rente über den Wegfalltermin hinaus „aus nicht näher geklärten Gründen“ weitergezahlt. Erst als der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin dies der Beklagten am 10.03.1975 mitteilte - nach seinen Angaben in späteren Schriftsätzen hatte er es selbst erst am 07.03.1975 von der Klägerin erfahren - und um Überprüfung bat, stellte die Beklagte die Rentenzahlung zum 31.03.1975 ein und forderte die überzahlte Rente (2.807,60 DM) von der Klägerin zurück. Deren Widerspruch hatte keinen Erfolg, auch das SG hat die Klage als unbegründet abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das LSG die Rückforderung der Rente für rechtswidrig erklärt.

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Ein Rückforderungsanspruch wegen der unstreitig überzahlten Rentenbeträge steht ihr nach § 1301 RVO nicht zu.

Wie der Senat schon entschieden hat, kann nach der genannten Vorschrift ein VersTr. zu Unrecht gewährte Leistungen nicht zurückfordern, wenn ihn selbst an der Überzahlung ein Verschulden im Sinne einer leichten Fahrlässigkeit trifft und dem Empfänger ebenfalls nur leichte Fahrlässigkeit zur Last fällt (SozR 2200 § 1301 Nr. 7); in solchen Fällen trifft der Grundgedanke der Rechtspr., daß arglistiges, vorsätzliches oder grob fahrlässiges Verhalten des Leistungsempfängers bei nur leichter Fahrlässigkeit des VersTr. keinen Vertrauensschutz verdient, nicht zu; vielmehr bleibt hier der Leistungsempfänger gegenüber dem VersTr. schutzbedürftig. Da im vorliegenden Fall auch die Beklagte, wie sie einräumt, an der Überzahlung nicht schuldlos ist, wäre für einen Rückforderungsanspruch nur Raum, wenn der Klägerin nicht nur leichte, sondern grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen wäre. Das LSG hat dies mit eingehender Begr. verneint. Seine Ausführungen sind, soweit sie vom Revisionsgericht nachgeprüft werden können, rechtlich nicht zu beanstanden.

Eine Prüfung, ob im Einzelfall leichte oder grobe Fahrlässigkeit vorgelegen hat, lehnen die Revisionsgerichte in einer schon auf das RG zurückgehenden Rechtspr. „fast einhellig ab“ (Henke, Die Tatfrage, Berlin 1966, S. 283 mit zahlreichen Nachweisen). Sie begründen dies vor allem damit, daß die Frage, ob jemand leicht oder grob fahrlässig gehandelt hat, „nicht einheitlich für alle Fälle, sondern nur von Fall zu Fall“ zu beantworten sei; dabei seien auch subjektive, in der Individualität des Handelnden begründete Umstände zu berücksichtigen; deshalb könne es für den Begriff der groben Fahrlässigkeit „keine für alle Fälle gültige feste Norm geben“ (BGHZ 10, 14, 17). Dieser Begriff enthalte „einen bestimmten Beurteilungsspielraum für die Tatsacheninstanz, der sich, sofern seine Grenzen unter Beachtung der Umstände des Einzelfalles nicht überschritten werden, der Nachprüfung durch die Revisionsinstanz entzieht“ (BAGE 7, 290, 301; vgl. ferner BAGE 23, 151). Auch das BSG hat schon die Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe - wegen der größeren „Tatsachenferne“ des Revisionsgerichts - dem Tatrichter überlassen, zumal dessen Entscheidung in der Regel kaum Anlaß zu grundsätzlichen, über den Einzelfall hinausgehenden und für eine einheitliche Rechtsanwendung bedeutsamen Überlegungen bietet (SozR 2200 § 539 Nr. 32, dort entschieden für die Abgrenzung der Mitarbeit der Ehefrau im Geschäft des Ehemannes, soweit diese nach den jeweiligen ehelichen Verhältnissen „üblich“ ist).

Gerade der letzte Gesichtspunkt ist auch im Schrifttum hervorgehoben und aus der „mangelnden Beispielswirkung“ der Revisionsentscheidung die grundsätzliche Irrevisibilität der „Steigerungsbegriffe“ des Grades und des Maßes, insbesondere des Begriffs der „groben“ Fahrlässigkeit, abgeleitet worden (Henke a.a.O. S. 280 ff. und ZZP 81, 196, hier besonders 321 ff. und 337 ff.; ihm folgend Rosenberg / Schwab, Zivilprozeßrecht, 12. neubearbeitete Aufl. 1977, § 144 V, S. 825 ff.; ähnlich Stein / Jonas. Komm. zur Zivilprozeßordnung, 20. Aufl. § 549 Rdnrn. 20, 25 bis 27, und Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, 2. neubearbeitete Aufl. 1960, S. 136). Der erkennende Senat schließt sich dieser Auffassung an; dabei läßt er offen, ob der Tatrichter mit der Entsch. über das Vorliegen „grober“ Fahrlässigkeit eine Tatsachenfeststellung trifft (so der BGH a.a.O.), oder ob er damit einen Rechtsbegriff anwendet, der einen irrevisiblen Beurteilungsspielraum enthält (so das BAG).

Auch nach Ansicht des BGH, der bei Beurteilung der Fahrlässigkeit den Begriff „grob“ in der Revisionsinstanz nur in demselben Umfang wie jede andere Tatsachenfeststellung für nachprüfbar hält, muß das Revisionsgericht allerdings prüfen, ob der Tatrichter sich des Unterschiedes der Begriffe der gewöhnlichen und der groben Fahrlässigkeit bewußt gewesen ist, ob er mithin von einem zutreffenden Begriff der groben Fahrlässigkeit ausgegangen ist. Insofern bestehen jedoch gegen das angefochtene Urt. des LSG keine Bedenken; denn dieses hat seiner Entsch. den allgemein anerkannten Begriff der groben Fahrlässigkeit zugrunde gelegt, wonach nur derjenige grob fahrlässig handelt, der die erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich großem Maße verletzt und unbeachtet läßt, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen (so der BGH a.a.O. und das angeführte Urt. des Senats; vgl. ferner BSGE 42, 184, 187: schlechthin unentschuldbare Pflichtverletzung). Auch wenn darüber hinaus vom Revisionsgericht zu prüfen wäre, ob der Tatrichter den Begriff „grob“ in einer vertretbaren Weise angewendet hat oder ob er dabei gegen Rechtsvorschriften, gegen allgemein anerkannte Bewertungsmaßstäbe, gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßen hat, insbesondere bei der Bewertung offensichtlich fehlerhaft verfahren ist oder nicht alle dafür in Betracht kommenden Umstände gewürdigt hat (so das BAG a.a.; ähnlich Rosenberg / Schwab a.a.O. S. 827: „handgreiflich falsche“ Schlußfolgerungen; Stein / Jonas a.a.O. Rdnr. 25: nicht alle festgestellten Tatsachen und Umstände bei der Subsumtion berücksichtigt), könnte hier das Urt. des LSG nicht beanstandet werden. Denn das LSG hat bei der Beurteilung des Verschuldens der Klägerin weder gegen Rechtsvorschriften noch gegen allgemein anerkannte Bewertungsmaßstäbe, Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstoßen. Es ist auch nicht offensichtlich fehlerhaft, wenn das LSG meint, aus der Sicht eines Laien wie der Klägerin sei es keineswegs völlig abwegig gewesen anzunehmen, daß die Beklagte bis zur endgültigen Entscheidung des - gegen die zeitliche Begrenzung der Rente geführten - Rechtsstreits die Rente weiter zu zahlen habe (zumal der Rentenbescheid keinen Hinweis enthält, daß die Rente zu dem festgesetzten Zeitpunkt auch dann wegfalle, wenn gegen den Bescheid ein Rechtsbehelf eingelegt werde). Dabei kommt es entgegen der Ansicht der Beklagten nicht darauf an, ob die vom LSG genannten Vergleichsfälle - Rentenentziehung und Zusprechung einer sog. Urteilsrente - im engeren Sinne vergleichbar sind; es genügt, daß es im sozialgerichtlichen Verfahren in der Tat Fälle gibt, in denen eine streitige Leistung vorläufig (weiter) zu zahlen ist. Die Revision der Beklagten hat schließlich nicht vorgetragen, daß und welche Umstände das LSG bei der Bewertung des Verschuldens der Klägerin nicht gewürdigt hat.

Kann somit die Feststellung des LSG, die Klägerin habe beim Empfang der überzahlten Rentenbeträge nicht grob fahrlässig gehandelt, vom Revisionsgericht nicht beanstandet werden, so hat die Beklagte gegen die Klägerin keinen weiteren Rückforderungsanspruch.

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