§ 44 SGB X: Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes
veröffentlicht am |
04.10.2022 |
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Änderung | Ergänzung Abschn. 3.2.2 zur Abgrenzung Begünstigung-Belastung eines Bescheides nach § 7a SGB IV. Neuer Abschn. 7 (Zugunstenverfahren und Verstöße gegen vertrauensschützende Normen der §§ 45, 48 SGB X) wegen BSG-Rechtsprechung. |
Stand | 26.09.2022 |
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Erstellungsgrundlage | in der Fassung des 4. Euro - Einführungsgesetzes vom 21.12.2000 in Kraft getreten am 01.01.2001 |
Rechtsgrundlage | |
Version | 003.00 |
Schlüsselwörter |
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- Inhalt der Regelung
- Allgemeines
- Anwendungsbereich
- Abgrenzung einer Rücknahme nach § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X und § 44 Abs. 2 SGB X
- Rückwirkende Leistungserbringung, Erstattung von Beiträgen
- Zuständigkeit
- Verstöße gegen die vertrauensschützenden Regelungen der §§ 45, 48 SGB X
- Überprüfungsverfahren nach dem Tod des Berechtigten
- Überprüfungsanträge durch Sozialhilfeträger
- Inhalt der Regelung
- Allgemeines
- Anwendungsbereich
- Abgrenzung einer Rücknahme nach § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X und § 44 Abs. 2 SGB X
- Rückwirkende Leistungserbringung, Erstattung von Beiträgen
- Zuständigkeit
- Verstöße gegen die vertrauensschützenden Regelungen der §§ 45, 48 SGB X
- Überprüfungsverfahren nach dem Tod des Berechtigten
- Überprüfungsanträge durch Sozialhilfeträger
Inhalt der Regelung
Die Vorschrift regelt die Rücknahme von nicht begünstigenden Bescheiden sowohl leistungsrechtlicher als auch versicherungsrechtlicher Art, die bereits bei Erlass fehlerhaft waren.
Absatz 1 findet Anwendung, wenn Sozialleistungen zu Unrecht vorenthalten oder Beiträge zu Unrecht erhoben wurden.
Absatz 2 enthält im Vergleich zu Absatz 1 eine Auffangregelung, die vor allem für die Rücknahme solcher rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakte gilt, die weder über eine Leistungsberechtigung noch über eine Beitragsverpflichtung befinden.
Nach Absatz 3 entscheidet nach Unanfechtbarkeit des Verwaltungsakts der zuständige Rentenversicherungsträger (§§ 125 SGB VI ff.) über die Rücknahme. Das gilt grundsätzlich auch dann, wenn der zurückzunehmende Bescheid von einem anderen Rentenversicherungsträger erteilt worden ist.
Nach Absatz 4 sind Sozialleistungen nur für vier Jahre rückwirkend zu erbringen, wenn ein Leistungsbescheid zurückgenommen wurde.
Ergänzende/korrespondierende Regelungen
Nachstehend einige Sonderregelungen zu § 44 SGB X:
§ 100 Abs. 4 SGB VI:
Durch § 100 Abs. 4 SGB VI wird der Anspruch auf Rücknahme eines rechtswidrig belastenden, bestandskräftigen Bescheides über eine Rente oder eine laufende Zusatzleistung für den Fall abweichend von § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X geregelt, dass eine im Bescheid angewandte Vorschrift im Nachhinein durch das Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt oder in ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts anders als durch die Träger der Deutschen Rentenversicherung ausgelegt wird. Die Vorschrift bestimmt, dass in einem solchen Fall der betreffende Bescheid nur mit Wirkung für die Zeit ab dem Beginn des Kalendermonats nach dem Wirksamwerden der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts beziehungsweise dem Bestehen der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zurückzunehmen ist. § 100 Abs. 4 SGB VI findet jedoch keine Anwendung, wenn der Überprüfungsantrag vor dem Bestehen der ständigen Rechtsprechung gestellt wurde. In diesem Fall bleibt es bei der uneingeschränkten Anwendung des § 44 SGB X (FAVR 3/2008, TOP 5, vergleiche GRA zu § 100 SGB VI, Abschnitt 6).
§ 300 Abs. 3b SGB VI:
Ist eine nach dem bis zum 31.12.1991 im Beitrittsgebiet geltenden Rentenrecht berechnete Rente nach dem 31.12.1991 neu festzustellen, darf die erhöhte Leistung abweichend von § 44 Abs. 4 SGB X nicht für Zeiten vor dem 01.01.1992 gezahlt werden (§ 300 Abs. 3b SGB VI). Zur Neufeststellung von Bestandsrenten aus dem Beitrittsgebiet und zur Zahlungsbeschränkung vergleiche GRA zu § 300 SGB VI, Abschnitt 4.5.
§ 307b Abs. 2 S. 4 SGB VI:
Erweist sich ein bindender Bescheid über die Neufeststellung nach § 307b Abs. 1 SGB VI als rechtswidrig belastend im Sinne des § 44 SGB X, ist die Rente von Beginn an, jedoch frühestens ab 01.07.1990, erneut festzustellen. Dabei findet § 44 Abs. 4 SGB X keine Anwendung, wenn das Überprüfungsverfahren innerhalb von vier Kalenderjahren nach der Erteilung des erstmaligen Neufeststellungsbescheides nach § 307b Abs. 1 SGB VI anhängig geworden ist. Hat das Überprüfungsverfahren erst danach begonnen, sind Rentenleistungen rückwirkend nur im Rahmen des § 44 Abs. 4 SGB X zu erbringen.
§ 309 Abs. 1, 1a und 3 SGB VI:
Ist eine Rente im Rahmen des § 309 Abs. 1, 1a oder 3 SGB VI neu festzustellen, sind Rentenbeträge von Beginn an zu leisten; § 44 Abs. 4 SGB X findet insoweit keine Anwendung.
Art. 16 Abs. 6 Rü-ErgG in der Fassung bis 17.08.2006:
Bei der rückwirkenden Gewährung von Kindererziehungsleistungen nach Art. 1 Nr. 23c Rü-ErgG in der Fassung bis 17.08.2006 (Einfügung des § 294 Abs. 2 Nr. 3 SGB VI) und bei der rückwirkenden Anrechnung von Kindererziehungszeiten nach Art. 11 Rü-ErgG (Einfügung des § 12a WGSVG) gilt § 44 Abs. 4 SGB X mit der Maßgabe, dass Leistungen für einen Zeitraum ab Inkrafttreten der oben genannten Regelungen (01.01.1986) gewährt werden können.
Art. 11 des 2. AAÜG-ÄndG:
Die Vorschrift des Art. 11 des 2. AAÜG-ÄndG steht im Zusammenhang mit den am 28.04.1999 zum AAÜG-Komplex ergangenen Urteilen des Bundesverfassungsgerichts (Aktenzeichen des sogenannten Leiturteils BVerfG vom 28.04.1999: AZ: 1 BvL 32/95, 1 BvR 2105/95 und andere), durch die unter anderem § 4 Abs. 4 AAÜG, § 6 Abs. 2 und 3 AAÜG (in der Fassung des Rü-ErgG), §§ 7 und 10 Abs. 1 sowie § 307b SGB VI für verfassungswidrig erklärt wurden. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts sowie die zu den jeweiligen Vorschriften durch das 2. AAÜG-ÄndG erfolgten Neuregelungen wirken sich in Rentenfällen, in denen am 28.04.1999 bereits ein bestandskräftiger Bescheid vorlag, frühestens für Rentenbezugszeiten ab 01.05.1999 aus (siehe hierzu insbesondere GRA zu § 307b SGB VI und GRA zu § 310b SGB VI sowie GRA zu § 4 AAÜG und GRA zu § 10 AAÜG). In diesem Zusammenhang stellt Art. 11 des 2. AAÜG-ÄndG noch einmal ausdrücklich klar, dass hinsichtlich der für verfassungswidrig erklärten Vorschriften eine Korrektur des am 28.04.1999 bestandskräftigen Bescheides für die Zeit vor dem 01.05.1999 auch nicht über § 44 SGB X beansprucht werden kann (Gesetzesbegründung in BT-Drucksache 14/6063, S. 31).
Die Bestimmung des Art. 11 des 2. AAÜG-ÄndG ist im Übrigen auch dann zu beachten, wenn eine Rente aus sonstigen Gründen (zum Beispiel der Berücksichtigung weiterer rentenrechtlicher Zeiten) für Bezugszeiten vor dem 01.05.1999 neu festzustellen ist. Das bedeutet, dass es auch in diesen Fällen für die Zeit vor dem 01.05.1999 bei der Anwendung der für verfassungswidrig erklärten Vorschriften verbleibt (zum Beispiel Anwendung des § 307b SGB VI alter Fassung).
§ 3 Abs. 3 ZRBG:
Nach der Vorschrift des § 3 Abs. 3 ZRBG ist die Anwendung des § 44 Abs. 4 SGB X für Renten mit Zeiten nach dem ZRBG ausgeschlossen. Erhöhungsbeträge aufgrund der Neufeststellung einer Rente, der Zeiten nach dem ZRBG zugrunde liegen, sind somit stets ab Rentenbeginn (frühestens ab 01.07.1997) zu erbringen (siehe hierzu GRA zu § 3 ZRBG).
Allgemeines
Für die Anwendung des § 44 SGB X muss ein Verwaltungsakt im Sinne des § 31 SGB X vorliegen. Dazu zählen alle Bescheide (zum Beispiel Bewilligungs-, Ablehnungs-, Aufhebungs- und Feststellungsbescheide) der Rentenversicherungsträger.
Sinn und Zweck des § 44 SGB X besteht darin, dem Grundsatz der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns Geltung zu verschaffen und der Verwaltungsbehörde zur Herstellung materieller Gerechtigkeit die Möglichkeit zu eröffnen, Fehler, die im Zusammenhang mit dem Erlass eines Verwaltungsaktes unterlaufen sind, zu berichtigen.
Zu den Fehlern, die im Zusammenhang mit dem Erlass eines Verwaltungsaktes unterlaufen sein können, gehören auch Verstöße gegen die vertrauensschützenden Regelungen der §§ 45 und 48 SGB X (siehe Abschnitt 7).
Die fehlerhafte oder fehlerhaft unterbliebene Aufhebung eines Vormerkungsbescheides allein genügt jedoch nicht, um einen Anspruch auf Korrektur eines bestandskräftigen Rentenbescheides und Gewährung einer höheren Rente unter Berücksichtigung der im Vormerkungsbescheid festgestellten und nicht mehr zutreffenden Zeiten begründen zu können (Urteil des BSG vom 24.04.2014, AZ: B 13 R 3/13 R).
Für die Zulässigkeit der Rücknahme eines Verwaltungsaktes ist nicht entscheidend, ob er unanfechtbar ist oder nicht. Wird dem Rentenversicherungsträger die Rechtswidrigkeit des Bescheides bereits vor Eintritt der Unanfechtbarkeit bekannt, steht dies einer Rücknahme nach § 44 SGB X somit nicht entgegen.
Der Abwehranspruch der betroffenen Person, der mit einem Rechtsbehelf durchgesetzt werden kann, und der Rücknahmeanspruch nach § 44 SGB X können also nebeneinander bestehen (Urteil des BSG vom 10.04.2003, AZ: B 4 RA 56/02 R). Allerdings heißt das nicht, dass während eines laufenden Widerspruchsverfahrens die Rücknahme des rechtswidrigen Verwaltungsaktes nach § 44 SGB X erfolgen kann, vielmehr ist in diesem Fall dem Widerspruch der betroffenen Person aufgrund des gegenüber dem Rücknahmeanspruch weiter reichenden Abwehranspruchs abzuhelfen. Insofern wird, wenn die Unanfechtbarkeit des Verwaltungsaktes noch nicht eingetreten ist, das Verfahren nach § 44 SGB X im Regelfall nicht benötigt (Urteil des BSG vom 25.02.2010, AZ: B 13 R 130/08 R).
Ein Überprüfungsverfahren ist nur im Einzelfall entweder auf Antrag der betroffenen Person oder von Amts wegen durchzuführen.
Die Rentenversicherungsträger sind nur dann verpflichtet, rechtswidrige nicht begünstigende Verwaltungsakte zurückzunehmen, wenn ihnen die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes im Rahmen der Bearbeitung eines Vorgangs bekannt wird. Dies ist unter anderen dann der Fall, wenn ein entsprechender Überprüfungsantrag gestellt oder im Rahmen der sonstigen Sachbearbeitung die Rechtswidrigkeit erkannt wird. Eine Verpflichtung zur Durchsuchung des Aktenbestandes besteht nicht. Soll dennoch ein Suchlauf durchgeführt werden, sollte die Vorgehensweise zuvor unter den verschiedenen Rentenversicherungsträgern abgestimmt werden, damit die Berechtigten möglichst gleich behandelt werden (FAVR 2/2011, TOP 4).
Die Durchführung eines Überprüfungsverfahrens allein lässt die Bestandskraft des betreffenden Bescheides unberührt. Das gilt auch für den Fall, dass das Überprüfungsverfahren auf einen Antrag des Betroffenen zurückgeht, da ein Überprüfungsantrag lediglich die Geltendmachung eines behaupteten Anspruchs auf Rücknahme eines Bescheides darstellt (siehe Urteil des BSG vom 10.04.2003, AZ: B 4 RA 56/02 R). Die Bestandskraft des überprüften Bescheides bleibt selbst dann noch bestehen, wenn der Überprüfungsantrag abgelehnt wurde und wegen dieser Ablehnung ein Widerspruchs-, Klage-, Berufungs- oder Revisionsverfahren geführt wird. Wird dagegen dem Überprüfungsantrag entsprochen und der Bescheid ganz oder teilweise zurückgenommen, ist damit dessen Bestandskraft durchbrochen. Das Gleiche gilt, wenn der Rentenversicherungsträger rechtskräftig zur Rücknahme des überprüften Bescheides verurteilt wird (siehe ebenfalls Urteil des BSG vom 10.04.2003, AZ: B 4 RA 56/02 R).
Das Überprüfungsverfahren kann nicht mit dem Hinweis abgelehnt werden, dass kein Anlass für eine neue Entscheidung gegeben sei.
Werden mit einem Überprüfungsantrag keine neuen Gesichtspunkte vorgetragen, beschränkt sich die Überprüfung darauf, ob bei der unveränderten Sachlage eine andere Entscheidung - gegebenenfalls unter Berücksichtigung einer neuen Rechtsauffassung - möglich ist (zur Änderung der Rechtsauffassung vergleiche Abschnitt 3.1). Wird dagegen der Überprüfungsantrag mit bisher nicht berücksichtigten Tatsachen näher begründet, ist auch eine Sachverhaltsprüfung erforderlich.
Ergibt die Überprüfung, dass der ursprüngliche Bescheid nicht rechtswidrig ist, so ist die vollständige oder teilweise Rücknahme dieses Bescheides mit der Begründung abzulehnen, dass weder das Recht unrichtig angewandt noch von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen worden ist. Stellt sich dagegen die Fehlerhaftigkeit des ursprünglichen Bescheides heraus und wurden deshalb Leistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben, muss der Bescheid nach § 44 Abs. 1 SGB X von Beginn an zurückgenommen werden. Hinsichtlich der rückwirkenden Leistungserbringung beziehungsweise Erstattung von Beiträgen vergleiche Abschnitt 5. Hat die betroffene Person den ursprünglichen Bescheid innerhalb der Rechtsbehelfsfrist angefochten und wird dem Begehren entsprochen, sind eventuelle Leistungen jedoch von Anfang an ohne Einschränkungen zu erbringen.
Der Anspruch auf Überprüfung entfällt auch nicht dadurch, dass die Verwaltung bereits (mehrfach) die Erteilung eines Zugunstenbescheides abgelehnt hat und dies durch rechtskräftige Gerichtsurteile als rechtmäßig bestätigt worden ist. Die aus § 141 Abs. 1 SGG resultierende Bindung an rechtskräftige Urteile ist Ausfluss des Prinzips der Rechtssicherheit. Im Einzelfall kann dieses Prinzip mit dem gleichrangigen Gebot der materiellen Gerechtigkeit konkurrieren. Zur Lösung des Konflikts eröffnet § 44 SGB X der Behörde die Möglichkeit zur Korrektur der Verwaltungsentscheidung (BSG vom 10.12.2013, AZ: B 13 R 91/11 R).
Eine nach § 44 SGB X rücknehmbare Entscheidung liegt auch vor, wenn sich die getroffene Regelung aus einem Anerkenntnis oder einem (gerichtlichen) Vergleich ergibt. Etwas anderes gilt, sofern in dem Vergleich der Verzicht auf den später geltend gemachten Anspruch im Sinne des § 46 SGB I zum Ausdruck gekommen ist. In diesem Fall ist nur eine Rücknahme für die Zukunft möglich (BSG vom 15.10.1985, AZ: 11a RA 58/84). Sofern sich aus den Umständen des Einzelfalles ergibt, dass die Beteiligten mit dem Abschluss des Vergleiches eine endgültige Regelung in der Sache treffen und eine erneute Überprüfung ausschließen wollten, ist die Anwendung des § 44 SGB X gänzlich ausgeschlossen (BSG vom 12.12.2013, AZ: B 4 AS 17/13 R). So ein Fall ist beispielsweise dann gegeben, wenn ein klarstellender Zusatz folgender Art in den Vergleich aufgenommen wurde: „Die Beteiligten sind sich einig, dass der Rechtsstreit durch diesen Vergleich in vollem Umfang erledigt ist.“ (RBRTS 1/2014, TOP 12).
Anwendungsbereich
Die Anwendung des § 44 SGB X setzt voraus, dass der Bescheid bereits bei seinem Erlass rechtswidrig war und den Betroffenen in seinen Rechten belastet (rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt). Zur Frage, wann der Bescheid
- bereits bei seinem Erlass rechtswidrig war, vergleiche Abschnitt 3.1,
- eine nicht begünstigende Regelung enthält, vergleiche Abschnitt 3.2.
Rechtswidrigkeit und Abgrenzung zu § 48 SGB X
Rechtswidrig im Sinne des § 44 SGB X ist ein Bescheid, wenn bei seinem Erlass
- das Recht unrichtig angewandt oder
- von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist.
Bei der Beurteilung der Rechtswidrigkeit kommt es darauf an, ob im Zeitpunkt der Erteilung des ursprünglichen Bescheides eine andere Entscheidung als die getroffene erforderlich gewesen wäre. Hierbei ist grundsätzlich auch eine zwischenzeitliche Änderung der Rechtsauffassung durch den Rentenversicherungsträger zu beachten. Das gilt auch dann, wenn sich die andere Rechtsauffassung aufgrund höchstrichterlicher Rechtsprechung gebildet hat. In einem solchen Fall bringt die Rechtsprechung regelmäßig zum Ausdruck, was bereits in der Vergangenheit gegolten hat. Gegebenenfalls ist aber § 100 Abs. 4 SGB VI zu beachten.
Anfängliche Rechtswidrigkeit ist auch dann gegeben, wenn die Behörde den Bescheid seinerzeit gar nicht anders erlassen konnte, weil sich die Rechtswidrigkeit erst aus dem nachträglichen Zutagetreten einer - die objektiven Verhältnisse im Zeitpunkt des Erlasses des früheren Bescheides (mit-)bestimmenden - Tatsache ergibt. Das trifft zum Beispiel für den Fall zu, in dem der Versicherte nach Bescheiderteilung (und Eintritt der Bindungswirkung) weitere Quittungskarten, Aufrechnungsbescheinigungen usw. beibringt oder Beschäftigungszeiten durch Zeugenerklärungen glaubhaft macht.
War der ursprüngliche Bescheid dagegen rechtmäßig und ist er erst später infolge einer Änderung der Verhältnisse in Widerspruch zur Rechtsordnung geraten, richtet sich seine Aufhebbarkeit nach § 48 SGB X. Die Aufhebung wird frühestens ab Änderung der Verhältnisse wirksam.
Nicht begünstigende Wirkung und Abgrenzung zu § 45 SGB X
‘Nicht begünstigend’ sind alle Bescheide, die ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil verweigern, versagen, ablehnen, entziehen oder mindern, also belasten, sowie die, welche weder eine begünstigende noch eine belastende Wirkung haben. Derartige Bescheide sind nach § 44 SGB X zurückzunehmen.
‘Begünstigend’ sind dagegen alle Bescheide, die ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründen oder bestätigen. Die Rücknahme derartiger Bescheide richtet sich nach § 45 SGB X.
Ob der ursprüngliche Bescheid nicht begünstigend im Sinne des § 44 SGB X oder begünstigend im Sinne des § 45 SGB X war, beurteilt sich nach dem Ergebnis der Überprüfung. Dabei ist zu unterscheiden, ob es sich um
handelt.
Leistungsbescheide
Bei einem Leistungsbescheid (zum Beispiel einem Rentenbescheid) kommt es für die Beurteilung der Begünstigung oder Nichtbegünstigung darauf an, was dem Berechtigten an Leistung zustand und was er erhalten hat.
Ergibt die Neuberechnung beziehungsweise Neufeststellung eine Leistungserhöhung, handelt es sich um einen Fall des § 44 SGB X.
Ergibt die Neuberechnung beziehungsweise Neufeststellung eine Leistungsminderung, ist ein Fall des § 45 SGB X gegeben. Das gilt auch dann, wenn bei der Neuberechnung beziehungsweise Neufeststellung der Leistung sowohl leistungserhöhende als auch leistungsmindernde Umstände zu berücksichtigen sind. Eine tatsächliche Leistungsminderung kann jedoch nur unter den Voraussetzungen des § 45 SGB X vorgenommen werden.
Zu betrachten ist grundsätzlich nur die Auswirkung innerhalb des jeweiligen Leistungssystems. Daher kann eine nicht gewährte Rentenleistung selbst dann als nicht begünstigend angesehen werden, wenn durch ihre Bewilligung eine andere (höhere) Sozialleistung wegfallen würde. Denn innerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung stellt sich die Bewilligung als Begünstigung dar.
Nichtleistungsbescheide
Bei einem Nichtleistungsbescheid ist hinsichtlich der Beurteilung einer Begünstigung oder Nichtbegünstigung grundsätzlich darauf abzustellen, wie sich dessen Regelungsinhalt in Anbetracht der Sach- und Rechtslage objektiv darstellt. Es kommt maßgeblich darauf an, ob die mit dem Bescheid getroffene hoheitliche Maßnahme nach der Verkehrsauffassung als Belastung oder Begünstigung anzusehen ist. Es ist somit regelmäßig unerheblich, wie die betroffene Person den Regelungsinhalt des Bescheides subjektiv auffasst, ob also ihr der Regelungsinhalt des Nichtleistungsbescheides günstig oder ungünstig erscheint (vergleiche Urteil des BSG vom 22.03.1984, AZ: 11 RA 22/83).
In Einzelfällen kann es allerdings für die Einordnung des Nichtleistungsbescheides in ‘begünstigend’ oder ‘nicht begünstigend’ auch angezeigt erscheinen, die Interessenlage der betroffenen Person mit zu berücksichtigen. Auch in einem derartigen Fall kommt es aber nicht auf ihr subjektives Empfinden an. Vielmehr ist dann die Interessenlage der betroffenen Person aus der Sicht eines unabhängigen und verständigen (fiktiven) Dritten zu würdigen.
Bei einem Bescheid, mit dem eine Entscheidung über einen Antrag der betroffenen Person verlautet wurde (zum Beispiel zur Versicherungspflicht nach § 4 SGB VI), ist für die Beurteilung einer Begünstigung oder Nichtbegünstigung entscheidend, ob dem Antrag entsprochen oder aber nicht entsprochen wurde. Wurde dem Antrag entsprochen, stellt sich der Bescheid als begünstigend dar, sodass im Fall seiner Rechtswidrigkeit § 45 SGB X maßgeblich ist. Wurde dem Antrag dagegen nicht entsprochen, ist der Bescheid belastend, sodass bei seiner Rechtswidrigkeit § 44 SGB X zum Zuge kommt.
Anders verhält es sich in der Situation, in der eine Erwerbsperson die Überprüfung eines Statusfeststellungsbescheides im Sinne des § 7a SGB IV begehrt und sowohl die Erwerbsperson als auch der Auftraggeber gleichermaßen das Interesse haben, den Statusfeststellungsbescheid nach § 44 SGB X zu beseitigen. Das Bundessozialgericht hat für diesen Fall entschieden, dass für die Zuordnung eines Statusfeststellungsbescheides als die Erwerbsperson "nicht begünstigend" im Sinne des § 44 SGB X oder "begünstigend" im Sinne des § 45 SGB X auf das subjektive Interesse der Erwerbsperson zum Zeitpunkt der Überprüfung des Statusfeststellungsbescheides abzustellen ist (Urteil des BSG vom 29.03.2022, AZ: B 12 R 2/20 R).
Dies hat das Bundessozialgericht damit begründet, dass es sich bei einem Statusfeststellungsbescheid um einen Verwaltungsakt mit sogenannter Doppel- oder Mischwirkung handelt, da er zugleich eine begünstigende und belastende Wirkung hat. Wurde zum Beispiel mit dem Statusfeststellungsbescheid die Versicherungspflicht der Erwerbsperson aufgrund abhängiger Beschäftigung festgestellt, liegt die begünstigende Wirkung in der sozialversicherungsrechtlichen Absicherung der Erwerbsperson, während sich die belastende Wirkung in der daraus resultierenden Pflicht zur Beitragszahlung zeigt. Im umgekehrten Fall, wenn also mit dem Statusfeststellungsbescheid entschieden wurde, dass keine Versicherungspflicht aufgrund abhängiger Beschäftigung vorliegt, ist die Erwerbsperson auf der einen Seite wegen der dann nicht eintretenden Beitragspflicht begünstigt, auf der anderen Seite aber belastet, weil sie sozialversicherungsrechtlich nicht abgesichert ist.
Da eine Teilaufhebung allein der belastenden oder begünstigenden Wirkung eines Statusfeststellungsbescheides nicht in Betracht kommt, bedarf es eines weiteren Kriteriums. Nach der genannten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist hierfür das subjektive Interesse der Erwerbsperson maßgeblich, das sie zum Zeitpunkt der Überprüfung des Statusfeststellungsbescheides hat.
Bei einem Bescheid über rentenrechtliche Zeiten (zum Beispiel einem Feststellungsbescheid nach § 149 Abs. 5 SGB VI) ist bei der Einordnung in ‘begünstigend’ oder ‘belastend’ im Regelfall danach zu unterscheiden, ob die Feststellung der jeweiligen, einzelnen rentenrechtlichen Zeit zu Unrecht abgelehnt oder zu Unrecht vorgenommen wurde. Wurde die Feststellung der rentenrechtlichen Zeit zu Unrecht abgelehnt, ist von einer Nichtbegünstigung auszugehen, sodass der Bescheid insoweit nach § 44 SGB X zurückzunehmen ist. Wurde die Feststellung der rentenrechtlichen Zeit hingegen zu Unrecht vorgenommen, ist von einer Begünstigung auszugehen, sodass der Bescheid insoweit nur nach § 45 SGB X zurückgenommen werden kann. In beiden Fallgestaltungen ist grundsätzlich unbeachtlich, ob und gegebenenfalls inwieweit sich die betreffende Zeit in einem künftigen Leistungsfall auf die Leistung auswirken würde.
Ist eine rentenrechtliche Zeit festzustellen, die bisher noch nicht Gegenstand eines Nichtleistungsbescheides war (bisherige ‘Lücke’), stellt sich die Frage einer Begünstigung oder Nichtbegünstigung nicht. Denn mit der erstmaligen Feststellung der rentenrechtlichen Zeit in einem neuen Nichtleistungsbescheid ergeht erstmals ein Verwaltungsakt im Sinne des § 31 SGB X. Ein Anwendungsfall der Vorschriften der §§ 44 ff. SGB X, die das Vorhandensein eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes voraussetzen, ist bei diesem Sachverhalt somit nicht gegeben. Etwas anderes gilt nur, wenn die bisherige ‘Lücke’ auf eine fehlende Entscheidung des Rentenversicherungsträgers zu beantragten Zeiten zurückzuführen ist (siehe GRA zu § 84 SGG, Abschnitt 6).
Abgrenzung einer Rücknahme nach § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X und § 44 Abs. 2 SGB X
Siehe nachfolgende Abschnitte.
Rücknahme nach § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X
Nach § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X ist im Einzelfall ein rechtswidriger Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit infolge der Rechtswidrigkeit zu Unrecht Sozialleistungen nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben wurden.
Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht
Zu den Sozialleistungen gehören gemäß § 11 SGB I Dienst-, Sach- und Geldleistungen. In § 23 SGB I sind die in der Rentenversicherung vorgesehenen Leistungen aufgeführt.
Sozialleistungen sind dann zu Unrecht nicht erbracht worden, wenn sie dem Betroffenen nicht zugeflossen sind, obwohl nach materiellem Recht ein Anspruch auf sie besteht (Beispiele: Ablehnung eines Rentenantrages, obwohl die Voraussetzungen der begehrten Rente vorlagen; Zahlung einer Rente in zu niedriger Höhe).
Beiträge zu Unrecht erhoben
Erfasst werden diejenigen Beiträge, deren Entrichtung im Rahmen eines Sozialversicherungsverhältnisses im Sinne der §§ 20 ff. SGB IV in Betracht kommt. Die Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 SGB X sind erfüllt, wenn Beiträge entweder überhaupt nicht oder nicht in der festgesetzten Höhe hätten erhoben werden dürfen. Bescheide, die Zuzahlungsbeträge bei Leistungen zur Teilhabe festsetzen, treffen jedoch keine Entscheidung über Beiträge im sozialversicherungsrechtlichen Sinn.
Ausschlussgrund nach § 44 Abs. 1 S. 2 SGB X
Gemäß § 44 Abs. 1 S. 2 SGB X ist eine Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit ausgeschlossen, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Betroffene vorsätzlich in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat.
Erforderlich ist, dass die Auskunft oder Mitteilung des Betreffenden relevant-kausal war für die rechtswidrige Entscheidung des Leistungsträgers. Vorsätzlich handelt, wer mit Wissen und Wollen die Angaben unrichtig oder unvollständig gemacht oder die Rechtswidrigkeit der Entscheidung zumindest bewusst in Kauf genommen hat.
Die Vorschrift des § 44 Abs. 1 S. 2 SGB X enthält nur hinsichtlich der zeitlichen Wirkung der Rücknahme eine Ausnahme von Satz 1 des § 44 Abs. 1 SGB X. Das lässt die Verpflichtung zur Rücknahme im Prinzip unberührt. Grundsätzlich besteht für den Betroffenen daher weiterhin ein Anspruch auf Rücknahme des rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Zukunft (§ 44 Abs. 2 S. 1 SGB X). Es ist allerdings in das Ermessen des Leistungsträgers gestellt, einen solchermaßen zustande gekommenen Verwaltungsakt auch für die Vergangenheit zurückzunehmen (§ 44 Abs. 2 S. 2 SGB X).
Rechtsfolge des § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X
Soweit wegen der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben wurden, ist der Verwaltungsakt nach der Regelung des § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X generell mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.
Die Rücknahme steht nicht im Ermessen des Leistungsträgers, sondern „ist“ (zwingend) vorzunehmen. Auf die Rücknahme des rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes besteht für den Betroffenen ein Rechtsanspruch.
Soweit ein Beitragsbescheid mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden ist, richtet sich die Erstattung der zu Unrecht entrichteten Beiträge nach den §§ 26, 27 SGB IV.
Rücknahme nach § 44 Abs. 2 SGB X
Nach § 44 Abs. 2 SGB X ist im Übrigen ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Er kann auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden.
Von § 44 Abs. 2 SGB X erfasste Bescheide
§ 44 Abs. 2 SGB X enthält im Vergleich zu § 44 Abs. 1 SGB X eine Auffangregelung. Sie gilt - soweit es um die Rücknahme für die Zukunft geht - für rechtswidrig nicht begünstigende Leistungs- und Beitragsbescheide. Unter diese Vorschrift fallen beispielsweise Bescheide, in denen rentenrechtliche Zeiten in zu geringem Umfang anerkannt wurden (Feststellungsbescheide nach § 149 Abs. 5 SGB VI) oder ablehnende Bescheide über eine Zulassung zur freiwilligen Versicherung oder Nachzahlung von freiwilligen Beiträgen. Auch Bescheide, die Zuzahlungsbeträge bei Leistungen zur Teilhabe festsetzen, können nach dieser Vorschrift zurückgenommen werden. Sie ist zudem einschlägig für den Fall der Anwendung des § 44 Abs. 1 S. 2 SGB X auf belastende anfänglich rechtswidrige Leistungs- und Beitragsbescheide, deren Erlass auf unrichtigen oder unvollständigen Angaben des Betroffenen beruht.
Rechtsfolge des § 44 Abs. 2 SGB X
Rechtswidrige nicht begünstigende Verwaltungsakte, auch solche, aufgrund derer Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben wurden, sind nach § 44 Abs. 2 S. 1 SGB X für die Zukunft zurückzunehmen. Ein Ermessen besteht für die zukunftsgerichtete Rücknahme nicht. Die Zukunft beginnt regelmäßig mit der Bekanntgabe (Zustellung) der Rücknahmeentscheidung (BSG vom 24.02.1987, AZ: 11b RAr 53/86).
Eine Rücknahme für die Vergangenheit ist demgegenüber nach § 44 Abs. 2 S. 2 SGB X für Verwaltungsakte, durch die weder Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht noch Beiträge zu Unrecht erhoben wurden sowie für Fälle des § 44 Abs. 2 S. 1 SGB X in das Ermessen des Leistungsträgers gestellt. Regelmäßig sollte durch eine Rücknahme für die Vergangenheit der wahren Rechtslage entsprochen werden, soweit dies Billigkeitsgesichtspunkten entspricht. Dies dürfte insbesondere für die Fälle gelten, in denen die Rücknahme aus Sicht des Betroffenen begünstigende Auswirkungen auf Sozialleistungen oder Beitragserhebungen hat.
Eine Rücknahme nur für die Zukunft kann gerechtfertigt sein, wenn den Versicherten ein alleiniges Verschulden trifft. Insoweit ist gegebenenfalls ein Verwaltungsakt zurückzunehmen, wenn die unrichtigen oder unvollständigen Angaben des Betroffenen die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes bewirkt haben und nach dem gesamten Sachzusammenhang die Annahme begründet erscheint, dass der Betroffene sich durch die unrichtigen oder unvollständigen Angaben einen Vorteil erhofft hatte.
Rückwirkende Leistungserbringung, Erstattung von Beiträgen
Wurde ein Bescheid nach § 44 SGB X zurückgenommen und sind deshalb nachträglich Leistungen zu erbringen, ist zu unterscheiden, ob es sich um eine
- Nachzahlung laufender Geldleistungen (vergleiche Abschnitt 5.1),
- Nachzahlung einmaliger Geldleistungen (vergleiche Abschnitt 5.2),
- Erstattung zu Unrecht erhobener Beiträge (vergleiche Abschnitt 5.3)
handelt.
Nachzahlung laufender Geldleistungen
Laufende Geldleistungen (zum Beispiel Renten), die einem bestimmten Bezugszeitraum zuzuordnen sind, dürfen nach § 44 Abs. 4 SGB X längstens für vier Jahre rückwirkend erbracht werden. Hierbei handelt es sich um eine materiell-rechtliche Ausschlussfrist, die selbst dann gilt, wenn den Rentenversicherungsträger ein Verschulden trifft.
Der Zahlungsausschluss gemäß § 44 Abs. 4 SGB X gilt entsprechend für den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch. Der 13. Senat des BSG hat diese Auffassung der Rentenversicherungsträger wiederholt bestätigt (BSG vom 24.04.2014, AZ: B 13 R 23/13 R; BSG vom 27.03.2007, AZ: B 13 R 58/06 R). Der gegenteiligen Auffassung des 4. Senats (BSG vom 06.03.2003, AZ: B 4 RA 38/02 R) folgen die Rentenversicherungsträger nicht (AGFAVR 2/2004, TOP 10).
Ein über den Zeitraum von vier Jahren hinausgehender Anspruch kann gegebenenfalls im Rahmen einer Amtshaftung nach § 839 BGB bestehen. Der Amtshaftungsanspruch ist nur im Einzelfall bei Geltendmachung durch den Betroffenen zu prüfen (RBRTB 2/2010, TOP 21).
Ausnahmen vom Zahlungsausschluss gemäß § 44 Abs. 4 SGB X
Über den Zeitraum von vier Jahren hinaus ist in den Fällen des § 307b Abs. 2 SGB VI, § 309 Abs. 1, 1a und 3 SGB VI, Art. 16 Abs. 6 Rü-ErgG in der Fassung bis 17.08.2006 sowie § 3 Abs. 3 ZRBG eine rückwirkende Erbringung von Geldleistungen zulässig (vergleiche Abschnitt Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden.).
Ebenfalls über den Zeitraum von vier Jahren hinaus ist eine rückwirkende Erbringung von Geldleistungen zulässig, wenn gemäß § 119 SGB X der Anspruch eines geschädigten Versicherten auf Ersatz von Rentenversicherungsbeiträgen auf den Rentenversicherungsträger übergegangen ist und eine Neufeststellung der Rente des Geschädigten aufgrund dieser Beiträge erfolgt (siehe GRA zu § 100 SGB VI, Abschnitt 2.2.7). § 44 Abs. 4 SGB X findet keine Anwendung (Urteil des BSG vom 31.01.2002, AZ: B 13 RJ 23/01 R).
Wurde die Zahlung zum Beispiel einer Rente eingestellt, ohne dass der zugrunde liegende Bescheid aufgehoben wurde, gilt der Zahlungsausschluss nach § 44 Abs. 4 SGB X für die rückwirkende Leistungserbringung nicht (BSG vom 22.06.1994, AZ: 10 RKg 32/93).
Ein Anwendungsfall des § 44 Abs. 4 SGB X ist nicht gegeben, wenn es zu einer verspäteten Antragstellung durch die Berechtigten kommt, weil das Verfahren zur Feststellung einer großen Witwen- oder Witwerrente nicht von Amts wegen eingeleitet wurde (vergleiche GRA zu § 115 SGB VI, Abschnitt 4). Denn in diesen Fällen gibt es keinen rechtswidrigen Verwaltungsakt, der nach § 44 SGB X zurückzunehmen ist.
Fristberechnung
Für die Berechnung des 4-Jahres-Zeitraums ist zu unterscheiden, ob die Bescheidrücknahme
vorgenommen wird.
Bescheidrücknahme von Amts wegen
Erfolgt die Bescheidrücknahme von Amts wegen, wird der 4-Jahres-Zeitraum vom Beginn des Jahres an zurückgerechnet, in dem der Neuberechnungs- beziehungsweise Neufeststellungsbescheid erteilt wird (§ 44 Abs. 4 S. 1 SGB X in Verbindung mit § 44 Abs. 4 S. 2 SGB X). Dies gilt auch in den Fällen, in denen die Rente zu Unrecht abgelehnt wurde und nunmehr der Rentenbewilligungsbescheid zu erteilen ist.
Siehe Beispiel 1
Ruht ein Widerspruchs- oder Überprüfungsverfahren, in dem es um die Regelung ‘Rentenhöhe’ (vergleiche GRA zu § 31 SGB X, Abschnitt 7) geht, und wird während dieses Ruhens zu einem späteren Zeitpunkt die Erhöhung der Rente aus einem weiteren Grund geltend gemacht, wird kein weiteres, neues Widerspruchs- oder Überprüfungsverfahren eröffnet. Es ist vielmehr von einem einheitlichen Widerspruchs- beziehungsweise Überprüfungsverfahren auszugehen. Das bedeutet:
Ist in einem Überprüfungsverfahren ein weiterer Rentenerhöhungsgrund zu berücksichtigen, ist bei Berechnung des 4-Jahres-Zeitraums auf den ‘ersten’ Überprüfungsantrag abzustellen.
Ist in einem Widerspruchsverfahren ein weiterer Rentenerhöhungsgrund zu berücksichtigen, findet § 44 SGB X und somit auch die 4-jährige Ausschlussfrist des § 44 Abs. 4 SGB X schon deshalb keine Anwendung, weil der angefochtene Bescheid wegen des Widerspruchs nicht bindend geworden ist.
Bescheidrücknahme auf Antrag
Erfolgt die Bescheidrücknahme auf Antrag, wird der 4-Jahres-Zeitraum vom Beginn des Jahres an zurückgerechnet, in dem der Überprüfungsantrag gestellt wurde (§ 44 Abs. 4 S. 1 SGB X in Verbindung mit § 44 Abs. 4 S. 3 SGB X). Dies gilt auch in den Fällen, in denen die Rente zu Unrecht abgelehnt wurde und nunmehr der Rentenbewilligungsbescheid zu erteilen ist.
Siehe Beispiel 2
Die Rentenversicherungsträger sind nicht verpflichtet, betroffene Personen von Amts wegen auf die Rechtswidrigkeit eines nicht begünstigenden Verwaltungsaktes hinzuweisen und anzuregen, einen Antrag auf Rücknahme des rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes zu stellen, damit durch die Antragstellung der Zeitraum, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind (zum Beispiel vor einem Jahreswechsel), verlängert wird (FAVR 2/2011, TOP 4).
Ein Überprüfungsantrag, der beim Zusatzversorgungsträger oder bei einem Sonderversorgungsträger gestellt wird und zu einer Änderung von AAÜG-Daten und demzufolge zu einer Rentenneufeststellung zugunsten der rentenberechtigten Person führt, ist zugleich als maßgeblicher Antrag für die Bestimmung der rückwirkenden Leistungserbringung nach § 44 Abs. 4 SGB X zugrunde zu legen. Der Grund hierfür besteht in dem engen sachlichen und rechtlichen Zusammenhang zwischen den Datenfeststellungen des Sonderversorgungsträgers und der Rentenfeststellung des Rentenversicherungsträgers. Der Zusatzversorgungsträger beziehungsweise die Sonderversorgungsträger und der zuständige Rentenversicherungsträger bilden im Hinblick auf das gesamte Verfahren vom Antrag auf Überprüfung der AAÜG-Daten bis zur Rentenneufeststellung eine Funktionseinheit. Nachzahlungsbeträge der Rente sind daher für 4 Jahre vor dem Jahr zu erbringen, in dem der Überprüfungsantrag beim Zusatzversorgungsträger oder bei einem Sonderversorgungsträger gestellt wurde.
In der Vergangenheit haben die Rentenversicherungsträger die Auffassung vertreten, dass ein beim Sonderversorgungsträger gestellter Überprüfungsantrag bezüglich der rückwirkenden Leistungserbringung ohne Bedeutung ist. Nachzahlungsbeträge, die sich aufgrund der Rentenneufeststellung ergaben, wurden deshalb lediglich für 4 Jahre vor dem Jahr erbracht, in dem der Rentenneufeststellungsbescheid erlassen wurde. Diese Auffassung haben die Rentenversicherungsträger im Sinne der vorstehenden Ausführungen geändert (AGFAVR 4/2019, TOP 4).
Bei Überprüfungsanträgen, die beim Zusatzversorgungsträger gestellt wurden und zu einer Änderung von AAÜG-Daten führten, wurde aufgrund der besonderen Gegebenheiten (Einbinden des Zusatzversorgungsträgers in die Organisationsstruktur der DRV Bund) im Ergebnis bereits in der Vergangenheit entsprechend verfahren.
Nachzahlung einmaliger Geldleistungen
Für die nachträgliche Erbringung einmaliger Geldleistungen (zum Beispiel Abfindungen, Erstattungen zu Recht entrichteter Beiträge) findet § 44 Abs. 4 SGB X keine Anwendung, weil diese Leistungen einem bestimmten Bezugszeitraum nicht zugeordnet werden können. Hier ist jedoch gegebenenfalls die Verjährungsvorschrift des § 45 SGB I zu beachten.
Erstattung zu Unrecht erhobener Beiträge
Die Erstattung zu Unrecht erhobener Beiträge unterliegt nicht der 4-jährigen Ausschlussfrist des § 44 Abs. 4 SGB X. Zu beachten sind jedoch die Beschränkungen, die sich aus §§ 26, 27 SGB IV ergeben können.
Rückforderungsbescheide gemäß § 50 SGB X
Nach dem Urteil des BSG vom 12.12.1996, AZ: 11 RAr 31/96, schränkt die Vier-Jahresfrist des § 44 Abs. 4 SGB X die Überprüfung länger zurückliegender Rückforderungsbescheide nicht ein. In dem vom BSG entschiedenen Fall hatte der betroffene Leistungsempfänger gemäß § 44 SGB X die Überprüfung eines Bescheides hinsichtlich des Rückerstattungsanspruchs beantragt, der vor mehr als vier Jahren erlassen wurde. Der Leistungsträger hatte zusammen mit der Aufhebung eines Bewilligungsbescheides insoweit auch gemäß § 50 Abs. 1 SGB X die Erstattung bereits erbrachter Sozialleistungen geltend gemacht. Die Erstattung war bisher nicht erfolgt.
§ 44 Abs. 4 SGB X findet keine entsprechende Anwendung, soweit es um die Frage einer Erstattungsforderung des Leistungsträgers gegen einen Leistungsbezieher über eine bestimmte Geldsumme und nicht um eine rückwirkend zu erbringende Sozialleistung geht. Weder der Zweck des § 44 Abs. 4 SGB X noch die bisherige Rechtsprechung rechtfertigen es, die Vorschrift auf diese Fälle auszudehnen. Der Bescheid über die Erstattungsforderung ist daher auf Antrag auch dann zu überprüfen, wenn der Erstattungszeitraum mehr als vier Kalenderjahre zurückliegt.
Zuständigkeit
§ 44 Abs. 3 SGB X trifft eine Regelung für solche Fälle, in denen sich die örtliche oder sachliche Zuständigkeit der Behörde nach Erlass des zu überprüfenden Bescheides ändert und bestimmt, dass prinzipiell für die Korrektur unanfechtbar gewordener Verwaltungsakte zugunsten oder zulasten des Betroffenen diejenige Behörde zuständig ist, die nach dem im Zeitpunkt der Entscheidung über die Korrektur des Verwaltungsaktes maßgeblichen Recht örtlich und sachlich zuständig ist.
Die Behörde, die den ursprünglichen Verwaltungsakt erlassen hat, ist für seine Beseitigung nach geltendem Recht nicht mehr zuständig, wenn sie entweder zu keinem Zeitpunkt zuständig war oder ihre Zuständigkeit nach Erlass des Bescheides, um dessen Beseitigung es geht, entfallen ist. Damit wird verhindert, dass eine andere Behörde über die Beseitigung eines Bescheides zu entscheiden hat, als diejenige, die nunmehr zuständig ist, den maßgeblichen Sachverhalt zu regeln (BSG vom 09.06.1999, AZ: B 6 KA 70/98 R, SozR 3-2500 § 95 Nr. 20).Vor Unanfechtbarkeit des Verwaltungsaktes ist hingegen der Rentenversicherungsträger, der den Verwaltungsakt erlassen hat, für die Rücknahme zuständig.
Verstöße gegen die vertrauensschützenden Regelungen der §§ 45, 48 SGB X
Zu den Fehlern, die im Zusammenhang mit dem Erlass eines Verwaltungsaktes unterlaufen sein können, gehören auch Verstöße gegen die vertrauensschützenden Regelungen der §§ 45 und 48 SGB X. Das Bundessozialgericht hat entschieden, dass das Recht auch dann im Sinne des § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X unrichtig angewandt wurde, wenn
- gegen die Fristenregelungen des § 45 Abs. 3 SGB X verstoßen wurde (Urteil des BSG vom 21.10.2020, AZ: B 13 R 19/19 R),
- das Ermessen nach § 45 Abs. 1 SGB X beziehungsweise in atypischen Fällen nach § 48 Abs. 1 S. 2 SGB X nicht ausgeübt wurde (Urteil des BSG vom 20.01.2021, AZ: B 13 R 13/19 R),
- gegen die in § 45 Abs. 2 S. 3 SGB X oder § 48 Abs. 1 S. 2 SGB X genannten besonderen Voraussetzungen für eine Aufhebung mit Wirkung für die Vergangenheit verstoßen wurde (Urteil des BSG vom 03.02.2022, AZ: B 5 R 26/21 R).
Ist im Rahmen eines Zugunstenverfahrens im Sinne des § 44 SGB X ein bestandskräftiger Aufhebungsbescheid gemäß der §§ 45, 48 SGB X oder ein bestandskräftiger Erstattungsbescheid gemäß § 50 SGB X zu überprüfen, kommt es daher auch darauf an, ob der Bescheid gegen die vertrauensschützenden Regelungen dieser Vorschriften verstößt.
Beachte:
Die bisherige Auffassung, nach der es im Rahmen der Überprüfung eines bestandskräftigen Aufhebungsbescheides (§§ 45, 48 SGB X) nach § 44 SGB X nur darauf ankommt, ob mit der Aufhebung der materiell-rechtlich zutreffende Zustand hergestellt wurde, wird aufgegeben.
Ein Fehler im Sinne des § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X liegt beispielsweise vor, wenn bestimmte Aspekte bei der Vertrauensschutzprüfung nicht beachtet wurden, also zum Beispiel trotz Gutgläubigkeit eine Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit vorgenommen wurde oder eine Aufhebung für die Zukunft erfolgt ist, obwohl die betroffene Person Vermögensdispositionen getroffen hat, die sie nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen hätte rückgängig machen können (vergleiche GRA zu § 45 SGB X, Abschnitt 5.1).
Ebenso liegt ein Fehler im Sinne des § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X vor, wenn bei der Aufhebung eines Bescheides die erforderliche Ermessensausübung nicht erfolgt ist oder fehlerhaft ist, weil der gesetzliche Rahmen des Ermessens überschritten oder missachtet wurde (siehe GRA zu § 39 SGB I, Abschnitt 3 ff.). Werden von der betroffenen Person allerdings neue ermessensrelevante Gesichtspunkte vorgetragen, die sie bis zum Eintritt der Bestandskraft des Aufhebungsbescheides nicht geltend gemacht hatte, sind diese bei der Prüfung, ob ein Ermessensfehler vorliegt, nicht zu berücksichtigen (vergleiche Urteil des BSG vom 25.01.1994, AZ: 4 RA 16/92).
Wurde Ermessen unter Einhaltung des Ermessensspielraums erkennbar ausgeübt, liegt kein Ermessensfehler vor.
Auch in den Fällen, in denen eine Aufhebung mit Wirkung für die Vergangenheit nach den §§ 45, 48 SGB X erfolgte, obwohl die Einjahresfrist (§ 45 Abs. 4 S. 2 SGB X) bereits abgelaufen war, wurde das Recht im Sinne des § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X unrichtig angewandt. Zwar war die Einjahresfrist nicht Gegenstand der oben genannten Rechtsprechung, allerdings ergeben sich in der Gesamtschau der Urteilsbegründungen keine Anhaltspunkte dafür, dass gerade die Einjahresfrist in einem Zugunstenverfahren unbeachtlich wäre.
Eine unterlassene Anhörung (§ 24 SGB X) verpflichtet hingegen nicht bereits zur Rücknahme eines bestandskräftig gewordenen Aufhebungsbescheides (Urteil des BSG vom 03.05.2018, AZ: B 11 AL 3/17 R; vergleiche GRA zu § 41 SGB X, Abschnitt 4.3).
Die fehlerhafte oder fehlerhaft unterbliebene Aufhebung eines Vormerkungsbescheides allein genügt ebenfalls nicht, um einen Anspruch auf Korrektur eines bestandskräftigen Rentenbescheides und Gewährung einer höheren Rente unter Berücksichtigung der im Vormerkungsbescheid festgestellten und nicht mehr zutreffenden Zeiten begründen zu können (Urteil des BSG vom 24.04.2014, AZ: B 13 R 3/13 R). Durch die bloße Existenz eines rechtswidrigen Vormerkungsbescheides hat die betroffene Person keine Vertrauensposition wegen langjährig zu Unrecht bezogener Sozialleistungen erworben, die ihr durch einen Aufhebungsbescheid entzogen wurde, denn sie hat ihr nicht zustehende Leistungen nie erhalten.
Die objektive Beweislast für die Fehlerhaftigkeit eines bestandskräftigen Bescheides liegt bei der betroffenen Person (Urteil des BSG vom 10.12.1985, AZ: 10 RKg 14/85). Kann sie also nicht nachweisen, dass der Aufhebungsbescheid gegen die vertrauensschützenden Regelungen der §§ 45 und 48 SGB X verstößt und deshalb rechtswidrig ist, geht die Nichterweislichkeit zu ihren Lasten.
Überprüfungsverfahren nach dem Tod des Berechtigten
Es gelten die Ausführungen in der GRA zu § 59 SGB I, Abschnitte 5 und 6.
Überprüfungsanträge durch Sozialhilfeträger
Sozialhilfeträger sind im Rahmen des § 95 SGB XII berechtigt, die Feststellung einer Sozialleistung für einen Leistungsberechtigten selbständig zu betreiben. Diese Berechtigung beinhaltet grundsätzlich auch die Möglichkeit, an Stelle des Leistungsberechtigten einen Überprüfungsantrag im Sinne des § 44 Abs. 4 S. 3 SGB X zu stellen. Bei einer Rücknahme des überprüften Bescheides ist der 4-Jahres-Zeitraum für die Nachzahlung von Leistungsbeträgen dann vom Beginn des Jahres an zu bestimmen, in dem der Überprüfungsantrag durch den Sozialhilfeträger gestellt wurde (vergleiche Abschnitt 5.1.2.2).
In den nachfolgend beschriebenen Fallgestaltungen sind die Sozialhilfeträger allerdings nicht zur Stellung eines Überprüfungsantrages im vorgenannten Sinn berechtigt:
- Der Sozialhilfeträger hat das Ausgangsverfahren, also das ursprüngliche Verfahren zur Feststellung des Leistungsanspruches, selbst betrieben und die Sach- und Rechtslage ist seither unverändert geblieben. Hier muss sich der Sozialhilfeträger anlasten lassen, dass er von seinem durch § 95 SGB XII eingeräumten Recht, gegen den betreffenden Leistungsbescheid Rechtsmittel einzulegen, seinerzeit keinen Gebrauch gemacht hat (in diesem Sinn: Urteil des LSG Bayern vom 15.02.1995, AZ: L 13 An 56/93).
Ausnahme:
Hat sich dagegen die Auslegung einer Norm durch die Rentenversicherungsträger geändert oder liegt eine neue Rechtsprechung vor, hat der Sozialhilfeträger auch dann das Recht, einen Überprüfungsantrag zu stellen, wenn er das Ausgangsverfahren selbst betrieben hat. - Der Leistungsberechtigte ist bereits verstorben. Die Bestimmung des § 95 SGB XII räumt dem Sozialhilfeträger die Befugnis ein, im eigenen Namen einen Sozialleistungsanspruch des Berechtigten geltend zu machen (ist gleich gesetzliche Prozessstandschaft). Die Rechtsstellung des Sozialhilfeträgers geht hierbei aber nicht über die Rechtsstellung des Leistungsberechtigten hinaus. Der Sozialhilfeträger kann also nicht an Stelle des verstorbenen Leistungsberechtigten, der naturgemäß keine Anträge mehr stellen kann, die Überprüfung eines bestandskräftigen Bescheides beantragen. Ein Überprüfungsverfahren, das im Zeitpunkt des Todes des Leistungsberechtigten bereits anhängig war, darf der Sozialhilfeträger aber fortsetzen.
Die in den vorgenannten Fallgestaltungen fehlende Berechtigung der Sozialhilfeträger, einen Überprüfungsantrag an Stelle des Leistungsberechtigten zu stellen, schließt allerdings nicht aus, dass der Rentenversicherungsträger ein Überprüfungsverfahren von Amts wegen einleitet, wenn ein Sozialhilfeträger auf eine eventuelle Rechtswidrigkeit eines Leistungsbescheides hinweist. Im Fall einer Rücknahme des Leistungsbescheides wird der 4-Jahres-Zeitraum für die Nachzahlung von Leistungsbeträgen dann aber gemäß § 44 Abs. 4 S. 2 SGB X vom Beginn des Jahres an zurückgerechnet, in dem die Bescheidrücknahme erfolgt (vergleiche Abschnitt 5.1.2.1).
Die vorstehenden Ausführungen gelten sinngemäß auch für das besondere Antragsrecht der Träger der Jugendhilfe nach § 97 SGB VII, der Träger der Kriegsopferfürsorge nach § 27i BVG und der SGB II-Träger nach § 5 Abs. 3 SGB II. Allerdings erkennen die SGB II-Träger aufgrund von Vereinbarungen, die zwischen den Rentenversicherungsträgern und den Leistungsträgern nach dem SGB II getroffenen wurden, die im Rahmen eines Erwerbsminderungsrentenverfahrens vom Rentenversicherungsträger abgegebene ärztliche Stellungnahme über die Erwerbsfähigkeit (vergleiche GRA zu § 8 SGB II, Abschnitt 4) als für sich verbindlich an; somit kommen diesbezüglich Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X in der Regel nicht in Betracht.
Beispiel 1: Überprüfung von Amts wegen
(Beispiel zu Abschnitt 5.1.2.1) | |
Rentenbeginn | 01.10.2015 |
Beginn des Überprüfungsverfahrens von Amts wegen | 16.12.2020 |
Neufeststellungs- beziehungsweise Neuberechnungsbescheid | 11.02.2021 |
Rentenbeginn unverändert | 01.10.2015 |
Lösung: | |
4-Jahres-Zeitraum | 01.01.2017 bis 31.12.2020 |
frühester Leistungsbeginn | 01.01.2017 |
Beispiel 2: Überprüfung auf Antrag
(Beispiel zu Abschnitt 5.1.2.2) | |
Rentenbeginn | 01.10.2015 |
Überprüfungsantrag | 16.12.2020 |
Neufeststellungs- beziehungsweise Neuberechnungsbescheid | 11.02.2021 |
Rentenbeginn unverändert | 01.10.2015 |
Lösung: | |
4-Jahres-Zeitraum | 01.01.2016 bis 31.12.2019 |
frühester Leistungsbeginn | 01.01.2016 |
4. Euro-Einführungsgesetz vom 21.12.2000 (BGBl. I S. 1983) |
Inkrafttreten: 01.01.2001 Quelle zum Entwurf: BT-Drucksache 14/4375 |
Streichung der Nummer 2 in Absatz 1 Satz 2.
Gesetz zur sozialrechtlichen Absicherung flexibler Arbeitszeitregelungen vom 06.04.1998 (BGBl. I S. 688) |
Inkrafttreten: 01.01.1998 Quelle zum Entwurf: BT-Drucksache 13/10033 |
Absatz 1 Satz 2 wurde um eine Nummer 2 erweitert und enthielt eine Regelung in Bezug auf Beiträge für Wertguthaben, die nicht gemäß einer Vereinbarung über flexible Arbeitszeitregelungen verwendet werden.
Einigungsvertragsgesetz vom 23.09.1990 (BGBl. II S. 885) |
Inkrafttreten: 01.01.1991 |
Der Anwendungsbereich des § 44 wurde durch Anlage 1 Kapitel VIII Sachgebiet D Abschnitt III Nr. 2 des Einigungsvertragsgesetzes auf das Beitrittsgebiet ausgeweitet.
SGB X - Verwaltungsverfahren - vom 18.08.1980 (BGBl. I S. 1469) |
Inkrafttreten: 01.01.1981 Quelle zum Entwurf: BT-Drucksache 7/910 |
Mit § 44 SGB X wurde für den Bereich der Sozialverwaltung eine Generalvorschrift für die Rücknahme von nicht begünstigenden Bescheiden, die bereits bei Erlass fehlerhaft waren, geschaffen.