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§ 12 WGSVG: Gleichstellung von Zeiten einer Beschäftigung oder Tätigkeit mit Pflichtbeitragszeiten

Änderungsdienst
veröffentlicht am

20.08.2019

Änderung

ohne Veröffentlichung der GRA mit Zustimmung der DRV Rheinland vom 28.05.2015

Dokumentdaten
Stand29.05.2015
Erstellungsgrundlage in der Fassung des RRG 1992 vom 18.12.1989 in Kraft getreten am 01.01.1992
Rechtsgrundlage

§ 12 WGSVG

Version001.00

Inhalt der Regelung

§ 12 WGSVG stellt Zeiten, in denen der Verfolgte eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat, für die aus Verfolgungsgründen tatsächlich keine Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung gezahlt worden sind, den Pflichtbeitragszeiten gleich (Beitragsfiktion).

§ 12 WGSVG gilt gemäß § 1 Abs. 1 WGSVG für Verfolgte im Sinne des BEG, die durch die Verfolgung Schaden in der Sozialversicherung erlitten haben, sowie für ihre Hinterbliebenen.

Ergänzende/korrespondierende Regelungen

Die Regelungen des WGSVG werden ergänzt durch das Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) vom 20.06.2002.

Rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit

Sind für Verfolgte für Zeiten einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit aus Verfolgungsgründen keine Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung geleistet worden, gelten diese Zeiten nach § 12 WGSVG als Pflichtbeitragszeiten. In dem Zeitraum, in dem die Beschäftigung beziehungsweise Tätigkeit ausgeübt wurde, muss Versicherungspflicht in der deutschen Rentenversicherung nach den in diesem Zeitraum maßgebenden Vorschriften bestanden haben. Die Beschränkung auf eine nach deutschem Recht versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ergibt sich aus dem Sinn und Wortlaut des § 12 WGSVG; sie entspricht auch dem in der Rentenversicherung für die Versicherungspflicht herrschenden Territorialitätsprinzip, somit werden auch Zeiten in den eingegliederten Gebieten erfasst, in denen durch die Schlesien-VO beziehungsweise die Ostgebiets-VO das Reichsrecht eingeführt wurde.

Eine nach deutschen Rechtsvorschriften versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit lag nur dann vor, wenn der Verfolgte zum Kreis der Versicherungspflichtigen nach § 1 AVG alte Fassung/§ 1226 RVO alte Fassung gehörte. Wurde für eine Beschäftigung keine Barvergütung beziehungsweise nur freier Unterhalt gewährt oder wurde eine Barvergütung gezahlt, die ein Drittel beziehungsweise ein Sechstel des seinerzeit maßgebenden Ortslohnes nicht überstieg, bestand Versicherungsfreiheit (§ 9 AVG alte Fassung/§ 1227 RVO alte Fassung). In diesen Fällen kann § 12 WGSVG nicht angewandt werden.

Für eine nach ausländischen Rechtsvorschriften zu beurteilende Beschäftigung oder Tätigkeit ist die Fiktion einer Pflichtbeitragszeit über § 12 WGSVG auch dann nicht möglich, wenn diese Zeit in Verbindung mit dem Fremdrentengesetz in der deutschen Rentenversicherung berücksichtigt werden kann (BSG vom 23.08.2001, AZ: B 13 RJ 59/00 R). Somit kann eine im Ausland ausgeübte Beschäftigung oder Tätigkeit, die wegen fehlender tatsächlicher Beitragsleistung zu einem nichtdeutschen Träger nicht nach § 15 Abs. 1 FRG und auch nicht als fiktive ausländische Beitragszeit nach § 15 Abs. 3 Satz 1 FRG anrechenbar ist, allenfalls unter den Voraussetzungen des § 16 FRG als Beschäftigungszeit beurteilt werden.

Eine Ausnahme gilt nur für die Fremdzeiten nach § 17 Abs. 1 Buchst. b FRG (zum Beispiel polnische Zeiten im Warthegau, die nach der Ostgebiets-Verordnung auf die deutsche Rentenversicherung übergegangen sind). Nach der Rechtsprechung (BSG vom 14.07.1999, AZ: B 13 RJ 71/98 R, vom 18.06.1997, AZ: 5 RJ 66/95 und vom 21.04.1999, AZ: B 5 RJ 48/98 R) ist die Fiktionsregelung des § 12 WGSVG hier entsprechend anwendbar.

Selbst wenn § 12 WGSVG/§ 14 Abs. 2 WGSVG alte Fassung anwendbar ist, ist aber zu beachten, dass dadurch eine Beitragszahlung fingiert wird, wenn aus Verfolgungsgründen für ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis Beiträge nicht entrichtet worden sind. Eine aus Verfolgungsgründen unterbliebene Entgeltzahlung wird nicht fingiert. Vielmehr bedarf es eines Beschäftigungsverhältnisses sowie eines darauf begründeten Entgeltanspruches.

Zwangsarbeit

Zwangsarbeiten werden nicht von § 12 WGSVG erfasst. Zwangsarbeiten sind unfreiwillige Arbeitsleistungen, die in der Regel unentgeltlich aufgrund eines öffentlich-rechtlichen Gewaltverhältnisses erbracht worden sind (zum Beispiel Arbeiten auf der Grundlage der VO über die Einführung des Arbeitszwangs für die jüdische Bevölkerung des Generalgouvernements vom 26.10.1939 und der hierzu erlassenen 2. DVO vom 12.12.1939).

Zeiten einer KZ-Haft sind Zeiten der Freiheitsentziehung und werden von § 12 WGSVG auch dann nicht erfasst, wenn der Inhaftierte zu Arbeiten innerhalb oder außerhalb des Konzentrationslagers herangezogen wurde. Nichtversicherungspflichtige Zwangsarbeit liegt selbst dann vor, wenn die Betriebe, denen jüdische Häftlinge zugewiesen wurden, an diese Stellen bestimmte Geldbeträge abführen mussten; hierin ist keine Entlohnung an den Häftling zu sehen, da sie ihm nicht selbst zugute kam (BSG vom 10.12.1974, AZ: 4 RJ 379/73).

Entsprechendes gilt für die jüdischen Arbeitskräfte, die in geschlossenen Zwangsarbeitslagern kaserniert waren.

Sofern es sich bei der Arbeit in einem Ghetto um unentgeltliche Zwangsarbeit gehandelt hat, wird diese ebenfalls nicht nach § 12 WGSVG berücksichtigt (BSG vom 04.10.1979, AZ: 1 RA 95/78). Zur Abgrenzung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung von einer Zwangsarbeit in einem Ghetto siehe Abschnitt 2.2.

Zeiten in einem Ghetto in den eingegliederten Ostgebieten

Ob ein Beschäftigungsverhältnis im Einzelfall frei oder unfrei begründet worden ist, kann nicht nach den verfolgungsbedingten Lebensumständen - wie der zwangsweisen Wohnortnahme in einem Ghetto - beurteilt werden.

In den Urteilen des BSG vom 18.06.1997, AZ: 5 RJ 66/95 und 5 RJ 68/95 wurde entschieden, dass glaubhaft gemachte Zeiten der Beschäftigung in einem Produktionsbetrieb im Ghetto Lodz die Voraussetzungen für ein an sich rentenversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis erfüllen. Nach den in diesen Entscheidungen aufgestellten Kriterien ist grundsätzlich dann von einem rentenversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis auszugehen, wenn

  • das Arbeitsverhältnis aus eigenem Willensentschluss durch Vereinbarung zwischen den Beteiligten (Arbeitgeber/Arbeitnehmer) eingegangen wurde (Freiwilligkeit) und
  • Entgelt in Form von Bar- oder Sachlohn in Höhe von einem Drittel des damaligen Ortslohn gezahlt worden ist (Entgeltlichkeit).

Typisch für eine Zwangsarbeit, die ein rentenversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis ausschließt, sind dagegen zum Beispiel

  • die obrigkeitliche Zuweisung von Arbeitern an bestimmte Unternehmen, ohne dass die Arbeiter selbst hierauf Einfluss hatten,
  • dass ein Entgelt für die individuell geleistete Arbeit nicht oder nur in geringem Maße an den Arbeiter ausgezahlt wurde oder
  • dass die Arbeiter während der Arbeit am Arbeitsplatz bewacht wurden. Unschädlich ist in diesem Zusammenhang, wenn sich die Bewachung lediglich auf den Arbeitsweg und/oder das Betriebsgelände, also nicht auf den Arbeitsplatz des Einzelnen, erstreckt hat.

Von dem Aufenthalt in einem Ghetto und der Verrichtung von Arbeit allein kann nicht auf das Zustandekommen und Bestehen eines Beschäftigungsverhältnisses im sozialversicherungsrechtlichen Sinne geschlossen werden. Daher kann die Feststellung, ob es sich um ein dem Grunde nach versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis gegen Entgelt gehandelt hat, nicht allein aufgrund von historisch bekannten allgemeinen Tatsachen getroffen werden. In die Beweiswürdigung müssen vielmehr alle Tatsachen, die das konkret behauptete Beschäftigungsverhältnis betreffen, einbezogen werden. Hierzu gehören auch Angaben der Antragsteller oder Zeugen (zum Beispiel in Entschädigungsakten). Stehen diese Aussagen im Widerspruch zu den im Rentenverfahren aufgestellten Behauptungen oder liegen keine beziehungsweise nur unzureichende Angaben über das Beschäftigungsverhältnis vor, müssen die rechtserheblichen Tatsachen (insbesondere Entgeltlichkeit) aufgeklärt werden. An die Glaubhaftmachung der rechtserheblichen Tatsachen durch die Betroffenen sind keine überzogenen Anforderungen zu stellen.

Nach historisch gesicherten Erkenntnissen war für Beschäftigungsverhältnisse im Ghetto Lodz eine Entlohnung in Ghettogeld üblich. Ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis ist daher selbst dann nicht auszuschließen, wenn die Verfolgten zunächst im Entschädigungsverfahren an Eides statt anders lautende Erklärungen abgegeben hatten (zum Beispiel dass sie Zwangsarbeit verrichten mussten und für ihre Arbeit in einem Ressort keinerlei Entgelt, sondern nur notdürftige Verpflegung erhalten hätten).

Die für das Ghetto Lodz festgestellten Verhältnisse sind in Bezug auf die Merkmale „Freiwilligkeit“ und „Entgeltlichkeit“ nicht auf die Arbeitseinsätze in anderen Ghettos übertragbar. Es ist insofern eine Tatsachenfeststellung im Einzelfall erforderlich.

Kinderarbeit

Für die Beurteilung einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung im Kindesalter sind allein die tatsächlichen Verhältnisse maßgebend. Unabhängig vom Lebensalter des Kindes ist festzustellen, ob die Merkmale „Freiwilligkeit“ und „Entgeltlichkeit“ (siehe Abschnitt 2.2) vorliegen. Eine Anerkennung von fiktiven Beitragszeiten nach § 12 WGSVG ist nicht bereits deshalb ausgeschlossen, weil das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet ist (BSG vom 14.07.1999, AZ: B 13 RJ 61/98 R).

Für den organisierten Kindereinsatz im Ghetto Lodz ab Mitte 1942 kann grundsätzlich angenommen werden, dass eine „Freiwilligkeit“ im Sinne der Rechtsprechung vorlag. Ab Oktober 1942 kann regelmäßig davon ausgegangen werden, dass ein Lohn in ausreichender Höhe gezahlt wurde. Auch für davorliegende Zeiträume kann eine Lohnzahlung in ausreichender Höhe nicht generell ausgeschlossen werden.

Zeiten in einem Ghetto in den besetzten Ostgebieten

§ 12 WGSVG findet keine Anwendung für Arbeitszeiten in den besetzten Ostgebieten (unter anderen Generalgouvernement), weil dort die reichsgesetzlichen Vorschriften nicht eingeführt worden sind (siehe Abschnitt 2).

Familienhafte Mitarbeit

Mitarbeitende Familienangehörige unterlagen nicht der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung. Deshalb scheidet für die familienhafte Mitarbeit eines Verfolgten im elterlichen Betrieb eine Beitragsfiktion nach § 12 WGSVG aus (BSG vom 07.09.1982, AZ: 1 RA 35/81).

Hachscharah-Zeiten

Zeiten der „Hachscharah“ (hebräisch = Tauglichmachung) sind Zeiten, in denen schulentlassene jüdische Jugendliche im Alter zwischen 14 und 17 Jahren ab 1934 bis 1941 durch jüdische Organisationen auf ihre Auswanderung nach Palästina vorbereitet wurden. Die Hachscharah erfolgte in den Kollektivausbildungsstätten jüdischer Organisationen in Form einer

  • Erstausbildung (Grundausbildung von 1 ½ bis 2 Jahren in handwerklichen, landwirtschaftlichen oder hauswirtschaftlichen Berufen),
  • Grundlehre (Ausbildung in drei Grundberufen der Metall- und Holzbearbeitung sowie des Gartenbaus oder der Hauswirtschaft),
  • Vorlehre (wie bei der Grundlehre, jedoch in Form eines 9. Schuljahres oder einer halbjährigen Anlernzeit) oder
  • Umschichtung (Umschulung auf handwerkliche beziehungsweise land- oder hauswirtschaftliche Berufe von Personen, die bisher in anderen Berufen oder noch nicht tätig waren).

§ 12 WGSVG findet hier keine Anwendung. Die Hachscharah-Zeiten können nur nach Maßgabe der Nr. 10 Schlussprotokoll in der Fassung des Änderungsabkommens vom 07.01.1968 zum deutsch-israelischen Sozialversicherungsabkommen vom 17.12.1973 berücksichtigt werden.

War der Auszubildende ausnahmsweise im Rahmen der Hachscharah wie ein Lehrling im Betrieb eingegliedert und hat er im Rahmen dieser Lehrlingsausbildung Arbeiten von wirtschaftlichem Wert verrichtet, stellen die Sach- und Barleistungen Entgelt für geleistete Arbeit dar; in einem solchen atypischen Fall führen die Barbezüge, wenn sie die Taschengeldgrenze überschreiten, zur Versicherungspflicht (BSG vom 13.03.1979, AZ: 1 RJ 24/78). In diesem Ausnahmefall kommt eine Beitragsfiktion nach § 12 WGSVG in Betracht.

Maßgebende Beitragsbemessungsgrundlage

§ 12 WGSVG regelt ausschließlich die Gleichstellung von Zeiten einer Beschäftigung oder Tätigkeit, für die aus Verfolgungsgründen keine Beiträge gezahlt wurden, mit Pflichtbeitragszeiten.

Die besondere Ermittlung der Entgeltpunkte für diese Zeiten ist in § 14 Abs. 1 WGSVG geregelt. Wegen der Einzelheiten wird auf die GRA zu § 14 WGSVG verwiesen.

RRG 1992 vom 18.12.1989 (BGBl. I S. 2261)

Inkrafttreten: 01.01.1992

Quelle zum Entwurf: BT-Drucksache 11/4124

§ 12 WGSVG wurde durch Art. 21 Nr. 2 RRG 1992 mit Wirkung ab 01.01.1992 neu gefasst. Die Neufassung entspricht inhaltlich dem § 14 Abs. 2 Satz 1 WGSVG alte Fassung, der am 31.12.1991 außer Kraft getreten ist.

§ 12 WGSVG in der Fassung vor dem RRG 1992 sah für die Anrechnung von Ausfallzeiten und Zurechnungszeit eine günstigere Halbbelegungsberechnung vor. Mit dem Wegfall der speziellen Anrechnungsvoraussetzungen für die beitragsfreien Zeiten war § 12 WGSVG alte Fassung entbehrlich.

Zusatzinformationen

Rechtsgrundlage

§ 12 WGSVG