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11 RA 70/81

Tatbestand

Streitig ist die Vormerkung und Anrechnung der Zeit vom 1. April 1934 bis zum 30. September 1935 als Ausfallzeit der Fachschulausbildung.

In dieser Zeit leistete der Kläger unentgeltlich einen praktischen Bibliotheksdienst an zwei Bibliotheken in D. Der praktische Dienst war ein Teil der Ausbildung für den Mittleren Bibliotheksdienst nach der Preußischen Bibliotheksprüfungsordnung (PrBiblPrO) vom 24. September 1930 (Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen 30, 315 ff. = Zentralblatt für Bibliothekswesen 47-1930-642 ff.). Ein weiterer Teil war der Besuch der Bibliotheksschule in B.; dort war der Kläger vom 1. Oktober 1935 bis zu der am 17. März 1937 abgelegten Prüfung. Die Beklagte hat die Zeit des Schulbesuches in B. als Ausfallzeit der Fachschulausbildung nach § 36 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) vorgemerkt; für die Zeit des vorangegangenen praktischen Dienstes hat sie die Vormerkung dagegen abgelehnt (Bescheid vom 29. Juni 1977 und Widerspruchsbescheid vom 29. November 1977, dort mit der Begründung, daß Lehrzeiten im Ausland keine Ausfallzeiten nach § 36 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a AVG seien).

Nach Erhebung der Klage teilte die Beklagte in der Verhandlung vor dem Sozialgericht (SG) mit, daß dem Kläger durch Bescheid vom 15. Januar 1979 Altersruhegeld bewilligt worden sei. Das SG hat durch Urteil vom 5. April 1979 die Bescheide vom 29. Juni und 29. November 1977 sowie vom 15. Januar 1979 „aufgehoben“ und die Beklagte verpflichtet, die streitige Zeit „als Ausfallzeit nach § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG dem Grunde nach anzuerkennen und insoweit unter Berücksichtigung des § 36 Abs. 3 AVG das Altersruhegeld neu festzustellen“. Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen (Urteil vom 22. April 1981). Zur Begründung führte das LSG aus, der Kläger könne die Anrechnung des praktischen Dienstes als Ausfallzeit der abgeschlossenen Fachschulausbildung nach § 36 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b AVG beanspruchen. Dieser Dienst sei ein Teil der Gesamtausbildung gewesen, die teilweise mehr praktisch, teilweise mehr theoretisch bezogen durchgeführt worden sei. Der üblicherweise von gebührenfreien Vorlesungen (an Universitäten bzw. Hochschulen) begleitete praktische Dienst könne nicht einem nach Prüfungsordnungen vor oder während des Studienganges abzuleistendem Praktikum gleichgesetzt werden, das nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht anrechenbar sei. Hier entspreche die Anrechnung zudem dem Grundgedanken des § 36 AVG, Versicherten, die mangels Entgelt keine Beiträge abführen können, einen Ausgleich zu gewähren. Die Regelung der PrBiblPrO finde sich auch in der vorläufigen Studienordnung für die öffentlichen Fachhochschulen in Bayern vom 21. September 1971 (Bayer. Ges. u. VOBl 1971, 397 ff.). Diese bestimme sogar ausdrücklich, daß die praktische Regelstudienzeit in zwei „praktischen Studiensemestern“ außerhalb der Fachschule, gleichfalls begleitet von Lehrveranstaltungen, abgeleistet werde.

Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung von § 36 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b AVG. Der Rechtsprechung des BSG lasse sich die Tendenz entnehmen, daß auch der nach der PrBiblPrO vorgeschriebene praktische Bibliotheksdienst kein Teil der Fachschulausbildung, sondern lediglich Voraussetzung für die Zulassung zur Bibliotheksprüfung gewesen sei. Die Aufteilung der Ausbildung in einen theoretischen und einen praktischen Dienst habe dem seinerzeitigen dualistischen Ausbildungsverständnis entsprochen. Die PrBiblPrO habe theoretische Begleitveranstaltungen für den praktischen Ausbildungsabschnitt nicht vorgesehen. Der Kläger habe während seiner praktischen Ausbildung nicht den Status eines Fachschülers besessen.

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

  • die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

  • die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen ist.

Diese Entscheidung wäre schon auf der Grundlage des materiell-rechtlichen Standpunkts des LSG geboten gewesen. Auch bei diesem Rechtsstandpunkt durfte das LSG nicht das erstinstanzliche Urteil durch Zurückweisung der von der Beklagten eingelegten Berufung in vollem Umfang bestätigen. Das LSG hätte schon richtigstellen müssen, daß die angefochtenen Bescheide einschließlich des Altersruhegeldbescheides, der in entsprechender Anwendung von § 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gegenstand des Verfahrens geworden war (vgl. SozR 1500 § 96 Nr. 13, § 53 Nr. 2), nicht „aufgehoben“, sondern nur geändert werden konnten. Bedenken bestehen auch gegen die Verurteilung eines Versicherungsträgers zur „Anerkennung“ einer Ausfallzeit „dem Grunde nach“. Vor allem aber durfte das LSG nicht wie das SG es der Beklagten überlassen, für die Anrechnung beim Altersruhegeld noch die Voraussetzungen des § 36 Abs. 3 AVG (Halbbelegung) zu prüfen; das mußten die Tatsachengerichte selbst tun, wozu es der Beiziehung auch der Verwaltungsakten zu dem Rentenbescheid bedurfte. Der Frage der Zurückverweisung vom materiell-rechtlichen Standpunkt des LSG aus braucht der Senat indessen hier nicht weiter nachzugehen, weil der Senat diesen Standpunkt nicht teilt, er jedoch aus anderen Gründen eine weitere Klärung durch das LSG für erforderlich hält.

Zu Unrecht hat das LSG die streitige Zeit als Zeit einer Fachschulausbildung i.S. des § 36 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b AVG gewertet. Während dieser Zeit - und nur darauf kommt es an (SozR 2200 § 1259 Nr. 52) - hat keine Ausbildung an einer Fachschule stattgefunden. Der Kläger hat vielmehr praktischen Dienst an Bibliotheken geleistet. Hierbei kann offen bleiben, ob er nur Gelegenheit zum Kennenlernen von Arbeitsgebieten oder darüber hinaus eine praktische Unterweisung in diesen erhielt (vgl. dazu §§ 3, 4, 9 der Ausführungsanweisung vom 24. September 1930, Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen, 30, 317). Im einen wie im anderen Falle lag keine Fachschulausbildung vor. Ebenso ist es für die Frage nach der Fachschulausbildung unerheblich, ob und inwieweit sich der praktische Dienst des Klägers von einem sogenannten „Praktikum“ (vgl. dazu SozR Nrn. 8 und 47 zu § 1259 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) oder einer „berufspraktischen Tätigkeit“ i.S. des § 165 Abs. 1 Nr. 6 RVO unterschied oder dem gleichstand.

Der praktische Dienst wurde nicht dadurch zu einer Fachschulausbildung - oder gar zu einer Hochschulausbildung -, daß er von gebührenfreien Vorlesungen an Universitäten und Hochschulen begleitet war, d.h. daß der Kläger daneben die Möglichkeit zum Besuch dieser Vorlesungen hatte. Die Vorlesungen waren weder in der PrBiblPrO noch in der Ausführungsanweisung verlangt oder vorgesehen, sie spielten außerdem nur eine untergeordnete Rolle. Dementsprechend hat das LSG seine Auffassung wohl auch nicht entscheidend hierauf gestützt.

Das LSG ist zu seiner Auffassung vielmehr durch den Blick auf die Gesamtausbildung des Klägers gekommen. Aber auch insoweit vermag der Senat dem LSG nicht zu folgen. Der Vergleich mit der bayerischen Studienordnung vom 21. September 1971 war verfehlt. Dort ist ausdrücklich bestimmt, daß die Regelstudienzeit praktische Studiensemester umfaßt, die Bestandteile des Studiums sind und unter Betreuung der Hochschule abgeleistet werden, sowie daß der Betreffende auch in dieser Zeit dem Status nach Student bleibt. Von alledem kann im vorliegenden Falle keine Rede sein. Es fehlt jeder Anhaltspunkt dafür, daß der praktische Dienst des Klägers in die Fachschulausbildung an der Bibliotheksschule in B. eingeschlossen (integriert) gewesen ist oder auch nur sein sollte. Vielmehr handelte es sich um zwei getrennte Ausbildungsabschnitte mit jeweils eigenem Charakter, der dem eigenen Abschnitt vorbehalten war und nicht auch noch dem anderen aufgeprägt sein konnte. Daran kann auch die Verbindung zu einer Gesamtausbildung mit einer später sich auf beide Abschnitte beziehenden Prüfung nichts ändern. Unberührt hiervon bleibt der eine Teil ein praktischer Dienst und der andere Teil - und nur er - eine Fachschulausbildung.

Zu Recht hat die Beklagte ferner im Widerspruchsbescheid ausgeführt, daß der praktische Dienst ebensowenig eine Ausfallzeit der Lehrzeit i.S. des § 36 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a AVG bilden kann, weil zu den hierunter fallenden „nicht versicherungspflichtigen oder versicherungsfreien Lehrzeiten“, wie der Senat schon entschieden hat (SozR 2200 § 1259 Nr. 47), Lehrzeiten im Ausland nicht gehören. Davon abgesehen war der Kläger seinerzeit nicht „Lehrling“, sondern „Bibliothekspraktikant“; selbst wenn er - was zweifelhaft ist - in dieser Eigenschaft durch eine praktische Unterweisung zugleich ausgebildet worden sein sollte, konnte es sich dabei um keine Lehre handeln, weil ihm auf diese Weise nicht alle notwendigen Grundlagen für den angestrebten Beruf vermittelt worden sind (SozR 2200 § 1259 Nr. 22); dazu bedurfte es vielmehr noch der Fachschulausbildung in B.

Der praktische Dienst des Klägers gehört damit zu den Ausbildungen, die nicht von § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG erfaßt sind. Hierzu hat der Senat schon wiederholt darauf hingewiesen, daß nach dieser Vorschrift nur bestimmte, dort genannte Ausbildungen den Tatbestand der Ausfallzeit erfüllen können; das gilt auch dann, wenn in den anderen Ausbildungen eine Beitragsentrichtung zum Rentenversicherungsträger ebenfalls ohne ein „Verschulden“ des Versicherten unterblieben ist.

Zu prüfen bleibt allerdings noch - zumal die Anrechnung der Zeit auf das Altersruhegeld mit im Streit ist -, ob sich eine solche Anrechnung nicht über eine andere Vorschrift als § 36 AVG ermöglichen läßt. Hierbei dürfte § 16 des Fremdrentengesetzes (FRG) i.V.m. § 2 Abs. 1 Nr. 1 AVG („Beschäftigung zur Berufsausbildung“) jedenfalls deshalb ausscheiden, weil der Kläger offenbar nicht zum Personenkreis des § 1 FRG gehört. Der Senat kann jedoch nicht ausschließen, daß die im Gebiet der Freien Stadt D. zurückgelegte Zeit des praktischen Dienstes von der Beklagten aufgrund des deutsch-polnischen Abkommens vom 9. Oktober 1975 i.V.m. dem Zustimmungsgesetz vom 12. März 1976 (BGBl. II 393) berücksichtigt werden muß. Zur Auslegung dieses Abkommens und des Zustimmungsgesetzes hat der Senat schon im Urteil vom 12. August 1982 - 11 RA 58/81 - Stellung genommen. Dort handelte es sich ebenfalls um eine in der Freien Stadt D. zurückgelegte Zeit, aber im Gegensatz zu hier um eine Beschäftigung „im entlohnten Arbeitsverhältnis“. Trotz der Unentgeltlichkeit könnte jedoch auch ein praktischer Dienst der hier abgeleisteten Art nach polnischem Recht als Beschäftigungszeit oder gleichgestellte Zeit anrechenbar sein. Insoweit wird auf den im Gesamtkommentar zur RVO, Internationales Sozialversicherungsrecht, Deutschland-Polen, Seite 97 abgedruckten Katalog verwiesen; dort ist auf Seite 99 unter 9.3 die „Zeit aufgrund eines Vertrages zur Ableistung eines Arbeitspraktikums“, auch ohne Entgeltzahlung und Beitragsentrichtung, als anrechenbar bezeichnet, allerdings mit dem Hinweis, daß hierzu nicht „Zeiten eines Einführungspraktikums (bzw. Vorbereitungsstudiums)“ gehören. Da diese Abgrenzungen keine eindeutige Entscheidung erlauben, hält es der Senat auch zur besseren Wahrung des rechtlichen Gehörs der Beteiligten für zweckmäßig, daß das LSG dieser Frage noch im einzelnen nachgeht.

Aus diesem Grunde war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das LSG zurückzuverweisen.

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