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11 RA 62/80

Tatbestand

Streitig ist - nur noch - die Anrechnung einer Praktikantenzeit als Ausfallzeit gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) für das Altersgeld des Klägers.

Für den 1907 geborenen Kläger wurden bis Mai 1924 sowie von November 1927 bis Oktober 1928 Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung der Angestellten entrichtet; in der Zwischenzeit war er berufsunfähig. Ab November 1929 bis März 1931 arbeitete er ohne Beitragsentrichtung als Praktikant; danach besuchte er das B. Seminar für Sozialarbeit und legte dort im Februar 1933 die staatliche Prüfung als Wohlfahrtspfleger ab. Im Jahre 1935 wanderte der Kläger verfolgungsbedingt nach Palästina aus.

Bei der Berechnung seines Altersruhegeldes (Bescheide vom 13. Juni 1974 und 10. Oktober 1975) berücksichtigte die Beklagte aufgrund des Sozialversicherungsabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staate Israel vom 17. Dezember 1973 ab Januar 1973 die Fachschulausbildung als Ausfallzeit (§ 36 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b AVG); die Zeiten der Krankheit und des Praktikums ließ sie außer Betracht.

Die auf Anrechnung dieser Zeiten als Ausfallzeiten gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen; das Landessozialgericht (LSG) hat ihr hinsichtlich der Praktikantenzeit teilweise - von April 1930 bis März 1931 - stattgegeben (Urteil vom 9. Juli 1980). Nach seiner Ansicht muß das unmittelbar vor der Fachschulausbildung liegende Jahr als Ausfallzeit berücksichtigt werden. Ein Praktikum sei zwar keine Lehrzeit. Eine einjährige Praktikantenzeit sei jedoch eine Voraussetzung für den Fachschulbesuch gewesen; sie habe deshalb in unmittelbarem Zusammenhang mit der Fachschulausbildung gestanden, der Vorbereitung auf diese der Schutzfunktion des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG unterliegende Berufsausbildung gedient und bedürfe mit allem des gleichen Schutzes. Die Würdigung der Praktikantenzeit als Ausfallzeit widerspreche zwar der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG); die vom BSG dargelegten Gründe überzeugten jedoch nicht. Möge auch Buchst. b der Vorschrift dem Wortlaut nach die an den Schulen verbrachte Ausbildungszeit meinen, so spreche doch der Sinn der Vorschrift hier für eine analoge Gesetzesanwendung. Die Argumente, die BSGE 19, 240 aus der erst mit der Rentenreform von 1957 eingetretenen Versicherungspflicht der Praktikanten herleite, träfen nicht zu. Das zeige Buchst. a, wo der Gesetzgeber trotz ebenfalls nunmehriger Versicherungspflicht aller Lehrlinge die vor 1957 liegenden nicht versicherungspflichtigen oder versicherungsfreien Lehrzeiten zu Ausfallzeiten erklärt habe. Bei Praktikantenzeiten sei darum nach dem § 36 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b AVG zugrundeliegenden Gedanken der Förderung einer qualifizierten Berufsausbildung eine entsprechende Regelung richtig.

Mit der - vom LSG insoweit zugelassenen - Revision beantragt die Beklagte,

  • das angefochtene Urteil abzuändern und die Berufung des Klägers in vollem Umfange zurückzuweisen.

Sie hält § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG für verletzt.

Der Kläger ist in der Revisionsinstanz nicht vertreten.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist begründet; entgegen der Ansicht des LSG ist die Praktikantenzeit des Klägers von April 1930 bis März 1931 bei der Berechnung seines Altersruhegeldes nicht rentensteigernd zu berücksichtigen.

Nach § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG i.d.F. des Rentenreformgesetzes vom 16. Oktober 1972 (BGBl. I S. 1965) sind Ausfallzeiten Zeiten einer nach Vollendung des 16. Lebensjahres liegenden abgeschlossenen nicht versicherungspflichtigen oder versicherungsfreien Lehrzeit (Buchst. a) und - mit zeitlicher Beschränkung - Zeiten einer weiteren Schulausbildung, abgeschlossenen Fach- oder Hochschulausbildung (Buchst. b).

Daß das strittige einjährige Praktikum keine „Lehrzeit“ darstellt, hat das LSG zu Recht angenommen, in dieser Meinung stimmt es mit der ständigen Rechtsprechung des BSG überein (BSGE 30, 163, 164; SozR Nrn. 40, 47 zu § 1259 RVO; SozR 2200 § 1259 Nrn. 22, 33 sowie neuestens BSG, Urteil vom 17. Dezember 1980 - 12 RK 20/79 zu § 165 Abs. 1 Nr. 2 RVO).

Das Praktikum ist ferner keine „Zeit einer Fachschulausbildung“ im Sinne des § 36 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b AVG. Das ist selbst dann nicht in Zweifel zu ziehen, wenn das Praktikum eine Voraussetzung für die Aufnahme in die Fachschule (oder für eine spätere Prüfung an der Schule) war. Zeiten einer Fachschulausbildung sind nur diejenigen Ausbildungszeiten, die ein Fachschüler an der Fachschule verbringt. Dementsprechend hat das BSG schon mehrfach die für Hochschulstudien erforderlichen Praktikantenzeiten ebenfalls nicht als „Zeiten einer Hochschulausbildung“ angesehen (BSGE 19, 239; 20, 38; 30, 163; SozR Nrn. 40, 47 zu § 1259 RVO). Der Senat sieht keinen Anlaß, von dieser Rechtsprechung abzugehen, zumal das Praktikum dem Sammeln praktischer Erfahrungen und damit anderen Zwecken als die Fach- oder Hochschulausbildung dient.

Entgegen der Auffassung des LSG besteht aber auch keine Möglichkeit, auf die streitige Praktikantenzeit § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG insgesamt - so wohl das LSG - oder doch in dem Buchst. b analog anzuwenden. Dazu wäre erforderlich, daß § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG hinsichtlich der Praktikantenzeit eine Lücke enthielte, deren Ausfüllung in dem vom LSG gewollten Sinne dem zu vermutenden Willen des Gesetzgebers entspräche. Eine solche Gesetzeslücke läßt sich nicht feststellen.

Das BSG hat es schon in einer Reihe von Fällen abgelehnt, § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG (= § 1259 Abs. 1 Nr. 4 RVO) auf andere als die dort bezeichneten Ausbildungszeiten (entsprechend) anzuwenden (BSGE 31, 230 = SozR Nr. 30 zu § 1259 RVO; Nrn. 40, 46 a.a.O.; SozR 2200 § 1259 Nrn. 22, 38, 43; Urteil vom 15. Oktober 1970 - 11 RA 248/68 -) das Urteil BSGE 24, 241 betraf keine Ausbildungs-, sondern eine kurze Zwischenzeit zwischen zwei Ausbildungsausfallzeiten, die den Schul- oder Semesterferien gleichstehend erachtet wurde -. Bei seinen Entscheidungen hat das BSG darauf hingewiesen, daß der Gesetzgeber nur bestimmte Ausbildungen und diese zudem meist zeitlich begrenzt als Ausfallzeiten habe berücksichtigen wollen; daher habe er bewußt davon abgesehen, Ausbildungszeiten schlechthin den Charakter von Ausfallzeiten zu verleihen; hieran könnten Hinweise auf den durch andere Ausbildungen ebenfalls bedingten Beitragsausfall, auf den Wert und die Förderung von Ausbildungen im allgemeinen und auf deren Zweckmäßigkeit, Üblichkeit oder Notwendigkeit für den späteren Beruf im besonderen nichts ändern (SozR Nr. 46 zu § 1259 RVO). Deshalb wurde beispielsweise eine Zeit des Lehrgangsbesuches an einer Heimvolkshochschule, der Vorbereitungsdienst auf die Zweite juristische Staatsprüfung, eine berufliche Umschulungszeit, ein nicht abgeschlossenes Hochschulstudium, eine Lotsenkandidatenzeit und der studentische Ausgleichsdienst - der ebenfalls Voraussetzung für ein Hochschulstudium war - nicht als Ausfallzeit betrachtet (SozR Nr.. 23, 30, 38 zu §1259 RVO; SozR 2200 § 1259 Nrn. 4, 22, 35; BSG, Urteil vom 22. April 1981 - 1 RA 17/80).

Der hier zu entscheidende Fall kann kein anderes Ergebnis haben. Hierfür genügt es nicht, (wiederum) den Gedanken einer „besonderen Schutzbedürftigkeit der qualifizierten Berufsausbildung“ herauszustellen. Eines solchen Sammelbegriffs sozialpolitischer Prägung können sich die gesetzgebenden Gremien bedienen; für die analoge Anwendung des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG kann er jedenfalls keine ausreichende Grundlage bilden.

Bei seiner Argumentation hat das LSG nicht genügend beachtet, daß der Gesetzgeber der Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze von 1957 bei der Schaffung der Ausfallzeittatbestände des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG von vornherein um eine klare Grenzziehung bemüht war. Anders ist die damals getroffene Auswahl und Beschränkung auf bestimmte Schulausbildungszeiten nicht zu erklären (vgl. demgegenüber z.B. § 28 Abs. 2 AVG, wo von Ausbildungen schlechthin die Rede ist, wie auch §§ 2 Abs. 1 Nrn. 1 und 7, 4 Abs. 1 Nr. 4, 39 Abs. 3 Satz 2 AVG zu anderen Ausbildungsbegriffen). Maßgebend dafür waren sowohl Gesichtspunkte der durch die Anrechnung von beitragslosen Zeiten entstehenden finanziellen Mehrbelastung der Versichertengemeinschaft als auch solche der Praktikabilität; denn bei einer Erstreckung des Gesetzes auf andere als die dort bezeichneten Ausbildungsarten wäre eine Abgrenzung der dann als Ausfallzeiten in Betracht kommenden Zeiten einer Ausbildung nicht mehr möglich (s. hierzu SozR Nr. 46 zu § 1259 RVO; SozR 2200 § 1259 Nr. 33). Schon von diesen im Gesetzgebungsverfahren vorherrschenden Beweggründen her ergibt sich demnach kein Anhalt für ein planwidriges Übersehen der Praktikantenausbildungszeiten.

Insoweit kommt jedoch noch hinzu, daß der Gesetzgeber trotz seitdem wiederholter Änderungen des § 36 Abs. 1 AVG die Praktikantenzeit auch später als Ausfallzeit im Gesetz nicht erfaßt hat, obgleich er im Rentenversicherungs-Änderungsgesetz (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 für die nicht versicherungspflichtige oder versicherungsfreie Lehrzeit eine positive Regelung getroffen hat. Nichts hätte näher gelegen, nun auch die Zeiten der Ausbildung als Praktikant (und ebenso als Volontär) mit zu Ausfallzeiten zu erklären, falls der Gesetzgeber hier ein gleiches „Schutzbedürfnis“ gesehen hätte. Wenn er, worauf der 1. Senat des BSG in SozR 2200 § 1259 Nr. 33 zu Recht hingewiesen hat, weder hier noch bei späteren Gesetzesänderungen in diesem Sinne tätig geworden ist, obschon er die ständige Rechtsprechung des BSG zu den Praktikantenzeiten kannte, so ist aus dieser Tatsache nicht auf eine Lücke im Gesetz, sondern eher auf eine Billigung dieser Rechtsprechung zu schließen.

Daß der Gesetzgeber auch nicht wenigstens diejenigen Praktikantenzeiten, die im Zusammenhang mit Fach- oder Hochschulausbildungen stehen, als Ausfallzeiten anerkennen will, wird ferner aus der Begrenzung der Ausfallzeiten der Fach- und Hochschulausbildung auf die Höchstdauer von vier bzw. fünf Jahren deutlich. Diese Dauer entspricht einer angenommenen üblichen Zeit der Ausbildung an der Fach- bzw. Hochschule selbst, ohne daß dabei eine Zeitspanne für damit in Zusammenhang stehende Praktikantenzeiten einbezogen worden ist. Damit ist zugleich die Ansicht des LSG widerlegt, es sei (nur) bei einem für den Fachschulbesuch unmittelbar vorausgesetzten Praktikum „unausweichlich geboten“, es als Ausfallzeit anzuerkennen. Diese Auffassung würde im übrigen, anders als es bei den Lehrzeiten der Fall ist, unter den Praktikantenzeiten differenzieren; von den vor 1957 zurückgelegten würden nur die im „Zusammenhang“ mit einer Fach- oder Hochschulausbildung stehenden begünstigt, ohne daß sich für einen derartigen Differenzierungswillen des Gesetzgebers Anhaltspunkte ergäben.

Ebensowenig nötigen schließlich die Argumente des LSG gegen BSGE 19, 240 zu einer anderen Betrachtungsweise. Die genannte Entscheidung stammt vom 19. Juli 1963; sie hat darum auf die Schaffung des § 36 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a AVG durch das RVÄndG 1965 noch nicht eingehen können. Der nur zusätzlich gemachte Hinweis, daß sich Zeiten der Versicherungspflicht und Ausfallzeiten gegenseitig ausschließen, ist als Grundsatz nach wie vor richtig. Die Entscheidung hat jedoch selbst eingeräumt, daß das Gesetz Ausnahmen festlegen kann. Das ist 1965 für die Lehrlingszeiten geschehen, so daß es seitdem einerseits Lehrlingszeiten als Pflichtversicherungszeiten und andererseits Lehrlingszeiten als Ausfallzeiten gibt. Diese Regelung kann indessen nicht zu der Folgerung zwingen, es müßten nun auch die nicht pflichtversicherten Praktikantenzeiten vor 1957 - in erweiternder Auslegung von § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG - gleichfalls Ausfallzeiten sein, seien es Praktikantenzeiten allgemein oder wenigstens solche im Zusammenhang mit Fach- oder Hochschulausbildungen. Denn die 1965 eingeführte Ausfallzeitregelung in § 36 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a AVG bezieht sich allein auf die Lehrlingszeiten.

Nach alledem vermag eine Praktikantenzeit insgesamt keine Ausfallzeit darzustellen, so daß es auf die weiter vom LSG entschiedene Frage, welcher Teil der mehr als ein Jahr umfassenden Zeit als solche in Betracht zu ziehen wäre, nicht mehr ankommt; ebenso kann unerörtert bleiben, daß die Fachschulausbildung nach den Ausführungen des LSG nur „regelmäßig“ ein Praktikum voraussetzte.

Das Urteil des LSG war deshalb aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das klageabweisende Urteil erster Instanz zurückzuweisen. Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

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