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11 RA 40/76

Aus den Gründen

Aus Entstehungsgeschichte und Sinnzusammenhang des WGSVG ergibt sich, daß § 14 Abs. 1 Satz 1 WGSVG überhaupt nicht auf Zeiten nach dem 08.05.1945 angewandt werden darf. Dieses Gesetz ist eine Neufassung des Gesetzes über die Behandlung der Verfolgten des Nationalsozialismus in der Sozialversicherung (NVG) vom 22.08.1949 (vgl. Art. 1 des Gesetzes vom 22.12.1970, BGBl. 1970 I 1846). Mit ihm bezweckte der Gesetzgeber die Einführung bestimmter Verbesserungen sowie eine Anpassung an das seit 1957 geltende Recht der gesetzlichen RentV (vgl. BT-Drucks. VI/715 S. 8). Bei seiner Auslegung ist daher von dem unter der Herrschaft des NVG bestehenden Rechtszustand auszugehen, soweit nicht ein Wille des Gesetzgebers zur Änderung erkennbar ist. Das gilt insbesondere für den § 14 Abs. 1 WGSVG. Gerade daraus, daß die Vorschrift wie auch § 13 Abs. 2 nicht für alte Vers. Fälle gilt (vgl. Art. 4 § 1 WGSVG und BT-Drucks. VI/715 S. 12 J), folgt, daß sie den Vorschriften des § 4 Abs. 4, 5 NVG grundsätzlich im Inhalt gleichen sollen und daß der Gesetzgeber die zu jenen Vorschriften ergangene Rechtsprechung des BSG billigen wollte (vgl. SozR 5080 § 4 Nr. 1). Nach dieser Rechtsprechung aber sollte durch das NVG nur der Schaden wiedergutgemacht werden, der durch Ausfall oder Minderung des Arbeitsentgelts während der Verfolgungszeiten entstanden ist (Breith. 1961, 38; SozR Nrn. 8, 11, 14 zu VerfolgG Allg). Auf derselben Linie lag es, wenn die Anrechnung von nach dem 08.05.1945 liegender Zeiten einer durch Verfolgung ausgelösten Arbeitslosigkeit als Ersatzzeiten abgelehnt worden war (BSGE 10, 173, 175 f.). Wenn sich der Gesetzgeber in diesem Punkt zu einer begrenzten Verbesserung durch Änderung von § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG entschlossen hat - wobei die Begründung beim Hinweis auf das geltende Recht ausdrücklich auf die oben genannte Entscheidung des BSG (Breith. 1961, 38) Bezug nimmt (BT-Drucks. V/4383) -, so zwingt das zu dem Schluß, daß im übrigen der 08.05.1945 weiterhin den Endpunkt darstellen sollte, bis zu dem nach den §§ 11 ff. WGSVG auszugleichende Schäden eingetreten sein können. Andernfalls müßten VersFälle vor und nach dem 31.01.1971 in dieser Hinsicht unterschiedlich behandelt werden; gerade das hat der Gesetzgeber aber nicht gewollt (vgl. BT-Drucks. VI/715 S. 13).

Es kann dem Gesetzgeber auch nicht unterstellt werden, er habe die Möglichkeit eines Fortwirkens der Verfolgung im beruflichen Fortkommen über den 08.05.1945 hinaus übersehen; § 92 Abs. 1 i.V.m. §§ 75 Abs. 1, 78 BEG setzt die Möglichkeit eines über diesen Zeitpunkt hinaus fortdauernden Berufsschadens geradezu als selbstverständlich voraus (vgl. BGH in RzW 1962, 174 Nr. 24; 63, 412). Allerdings hat der Gesetzgeber mit der Schaffung des WGSVG den Betroffenen einen vollen Ausgleich des Verfolgungsschadens ermöglichen wollen (BT-Drucks. VI/1449). Daraus ergibt sich indessen nichts für die Beantwortung der Frage nach dem Regelungsbereich dieses Gesetzes und damit danach, ob und ggf. inwieweit auch mittelbare Nachwirkungen einer Verfolgung, die selbst spätestens mit dem 08.05.1945 ihr Ende gefunden hat, noch verfolgungsbedingte Schäden in der SozVers darstellen sollen. Daß ein zeitlich unbegrenzter Ausgleich solcher Folgewirkungen nicht gewollt sein kann, ergibt bereits die schon erwähnte Neufassung von § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG; denn es liegt auf der Hand, daß eine durch Verfolgungsmaßnahmen ausgelöste Arbeitslosigkeit noch über den 31.12.1946 hinaus angedauert haben kann. Dieser Stichtag ließe sich auch nicht im Wege der Analogie auf Fälle eines Minderverdienstes i.S. von § 14 Abs. 1 WGSVG übertragen. Die Fälle des Minderverdienstes und der Arbeitslosigkeit sind voneinander wesentlich verschieden. § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG regelt die Anrechnung einer Ersatzzeit, woraus sich nur mittelbar die Zuordnung von Tabellenwerten ergibt (§§ 1 Abs. 2 Buchst. a, 13 Abs. 1 WGSVG), während Zeiten des Minderverdienstes i.S. von § 14 Abs. 1 WGSVG bereits als Beitragszeiten (§ 27 Abs. 1 Buchst. a AVG) anzurechnen sind. Wer durch eine Verfolgung seinen Arbeitsplatz verloren hatte, mochte zudem unter den Verhältnissen unmittelbar nach dem Zusammenbruch trotz energischer Bemühungen der Arbeitsverwaltung (vgl. BSGE 10, 175) vielfach zumindest nicht sogleich im Erwerbsleben Fuß zu fassen; demgegenüber war derjenige, der über das Kriegsende hinaus in Arbeit stand, regelmäßig in einer wesentlich günstigeren Lage.

Soweit die Bewertung der Beschäftigungszeiten bis zum 08.05.1945 streitig ist, hat es das LSG zu Recht abgelehnt, anstelle von Tabellenwerten nach § 22 FRG die Beträge anzusetzen, die der Kläger nach seinem Vorbringen ohne die Verfolgung bezogen hätte. § 14 Abs. 1 Satz 1 WGSVG regelt die bei seiner Anwendung eintretende Rechtsfolge durch Verweis auf § 13; danach ist § 13 mit der Maßgabe anzuwenden, daß bei Zuordnung der Tabellenwerte die tatsächlich ausgeübte Beschäftigung zugrunde zu legen ist. Weder der Wortlaut des § 14 Abs. 1 Satz 1 noch der des § 13 WGSVG bietet dabei einen Anhalt für die Annahme, es handele sich hier nur um eine Vermutung zugunsten des Verfolgten, die den Ansatz entgangener höherer Entgelte bei entsprechendem Nachweis nicht ausschließe. Wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, ist der Gesetzgeber hier von einer generalisierenden Betrachtungsweise ausgegangen und hat eine pauschalierende Regelung getroffen. Soweit der Kläger meint, die einer benachteiligenden Typisierung von Verfassung wegen gezogenen Grenzen seien überschritten, übersieht er, daß es sich um eine Typisierung begünstigender Art handelt. Die Zuordnung von Tabellenwerten nach § 13 WGSVG soll stets zu einer Anrechnung höherer als der tatsächlich erzielten Entgelte führen; es trifft mithin nicht zu, daß § 14 Abs. 1 WGSVG die Rechte Betroffener beschränke. Mit dem Bemühen des Gesetzgebers um einen vollen Ausgleich der Verfolgungsschäden steht eine pauschalierende Regelung nicht im Widerspruch. Wo - wie das im Bereich des Wiedergutmachungsrechts weitgehend der Fall ist - der Umfang eines konkreten Schadens nur mittels hypothetischer Annahmen aufgrund lange zurückliegender und vielfach nicht zuverlässig zu rekonstruierender Umstände festgestellt werden kann, führt eine Pauschalierung am ehesten zu dem insgesamt möglichst gerechten und in diesem Sinne „vollen“ Ausgleich; es widerspräche der Zielsetzung des Gesetzes, wollte man den Umfang der Entschädigung demgegenüber von den Zufälligkeiten mehr oder minder günstiger Beweislagen abhängig machen; auch hätte die gebotene Aufklärung des Sachverhalts zudem regelmäßig Verzögerungen im Gefolge, die in keinem vernünftigen Verhältnis zu den zu erwartenden Ergebnissen stünden.

Soweit das LSG dem Kläger für die Beschäftigungszeiten bis zum 08.05.1945 zur Ermittlung der Tabellenwerte Leistungsgruppen zugeordnet hat und dies noch streitig ist, kann der Senat dem LSG nur zum Teil folgen. Nicht zu billigen ist die Zuordnung zur Leistungsgruppe B 3 der Anl. 1 zu §22 FRG für die Beschäftigungszeiten vom 01.01.1943 bis 30.09.1943. Zu dieser Leistungsgruppe gehören nach ihrer allgemeinen Definition Angestellte mit mehrjähriger Berufserfahrung oder besonderen Fachkenntnissen und Fähigkeiten oder mit Spezialtätigkeiten, die nach allgemeiner Anweisung selbständig arbeiten, jedoch keine Verantwortung für die Tätigkeit anderer tragen. Das LSG meint, dem Kläger seien für die in Betracht kommende Zeit „besondere Fähigkeiten“ nicht abzusprechen; es stützt sich dabei ersichtlich darauf, daß der Kläger die Kaufmannsgehilfenprüfung mit der Note „gut“ bestanden und danach schwierige Aufgaben zur vollen Zufriedenheit seiner Vorgesetzten bewältigt habe. Es mag dahinstehen, ob es damit den Begriff der „besonderen Fähigkeiten“ zutreffend gedeutet hat; jedenfalls ist das daneben noch erforderliche Merkmal „besonderer Fachkenntnisse“ weder vom LSG festgestellt noch sind mögliche Anhaltspunkte für sein Vorliegen ersichtlich. Aus dem Stufenverhältnis der einzelnen Leistungsgruppen (vgl. SozR 5050 § 22 Nr. 1) ist zu folgern, daß ein bloßer Abschluß, wie die Ablegung der Kaufmannsgehilfenprüfung, die schon Voraussetzung für eine Zugehörigkeit zur Leistungsgruppe 4 ist, „besondere Fachkenntnisse“ i.S. der Definition der Leistungsgruppe 3 noch nicht verbürgen kann. Dafür, daß Fachkenntnisse dann „besondere“ sein sollten, wenn eine fachliche Prüfung zu einem günstigen Ergebnis geführt hat, ist dem Gesetz ebenfalls nichts zu entnehmen. Fachkenntnisse sind vielmehr dann „besondere“, wenn sie zu den „allgemeinen“ Fachkenntnissen, deren Erwerb im Abschluß einer Berufsausbildung seinen Ausdruck findet, hinzutreten. Dabei ist in erster Linie an solche zur Ausübung des Berufs benötigten Fachkenntnisse zu denken, zu deren Erlangung es einer - in der Definition gesondert aufgeführten - mehrjährigen Berufserfahrung nicht oder nicht notwendigerweise bedarf; es können auch Kenntnisse sein, die vor oder neben der Berufsausbildung erworben worden sind. Dafür, daß der Kläger während der in Betracht kommenden Zeit über solche Fachkenntnisse verfügt hat, ist nichts dargetan; das Medizinstudium hat ihm offenbar keine damals bei seiner kaufmännischen Tätigkeit verwertbaren Fachkenntnisse vermittelt. Die anderen Alternativen der Leistungsgruppendefinition (mehrjährige Berufserfahrung, Spezialtätigkeit) sind nach dem festgestellten Sachverhalt ebenfalls nicht gegeben.

Dagegen ist dem LSG zuzustimmen, daß der Kläger keinen Anspruch auf Zuordnung der Zeiten vom 01.10.1943 bis Kriegsende zur Leistungsgruppe B 2 hat. Wie das LSG mit Recht ausgeführt hat, fehlt hier jedenfalls die Erfüllung der Voraussetzungen des Merkmals der „besonderen Erfahrungen“. Der Kläger war bei Kriegsende noch nicht einmal 27 Jahre alt; „besondere Erfahrungen“ sind jedoch regelmäßig nicht vor Vollendung des 45. Lebensjahres erworben (vgl. SozR 5050 § 22 Nr. 1). Ein Unterschreiten dieser Grenze ist regelmäßig nur bei Angestellten, deren Tätigkeit eine abgeschlossene Hochschulausbildung erfordert, möglich, weil sie die geforderten Erfahrungen bereits in kürzerer Zeit sammeln können; davon konnte hier mangels einer auf den ausgeübten Beruf vorbereitenden Hochschulausbildung nicht die Rede sein.

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