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12 RJ 28/63

Aus den Gründen:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Klägerin, die Vertriebene und im Mai 1960 in die Bundesrepublik gekommen ist, Witwenrente zusteht.

Zu dieser Frage hat der Senat ausgeführt:

Das LSG hat zwar richtig erkannt, daß grundsätzlich das FRG Anwendung findet (Art. 6 § 5 FANG), weil die Klägerin als Vertriebene unter § 1 Buchst. a FRG fällt, auch wenn ihr verstorbener Ehemann nicht zu den dort in Buchst. a bis d genannten Personen zählte, insbesonderer nicht Vertriebener war, weil er im Memelland gestorben ist. § 1 Buchst. e FRG, wonach das Ges. auf „Hinterbliebene der in Buchst. a bis d genannten Personen bezüglich der Gewährung von Leistungen an Hinterbliebene" anzuwenden ist, besagt nämlich nicht, daß das FRG, wenn es um Leistungen an Hinterbliebene geht, nur für solche Hinterbliebenen gilt, die Hinterbliebene der in den Buchst. a bis d genannten Personen sind; vielmehr erweitert er den Personenkreis über die in Buchst. a bis d genannten Personengruppen hinaus, zu denen auch die Klägerin als Vertriebene gehört, auf die Hinterbliebenen solcher „Versicherter", die selbst nicht zu den Personengruppen a bis d gehören, weil sie in der früheren Heimat gestorben sind (ebenso: Jantz / Zweng / Eicher, Das neue Fremdrenten- und Auslandsrentenrecht, 2. Aufl. 1961, § 1 FRG Anm. 8). Dies ergibt sich aus dem Sinn und Zweck des Ges.: Durch das FRG sollen die begünstigten Personengruppen den einheimischen Versicherten gleichgestellt werden (Eingliederungsprinzip). Daher wird ihr Arbeits- und VersLeben so behandelt, als ob es im Geltungsbereich des Ges. zurückgelegt worden wäre. Soweit die Gewährung von Leistungen an Hinterbliebene in Frage steht, wird die vom Ges. gewollte Eingliederung aber nur erreicht, wenn es genügt, daß entweder der Hinterbliebene oder aber derjenige, von dem das Recht hergeleitet wird, zu den begünstigten Personen zählt. Daß § 1 FRG nach dem Willen des Gesetzgebers auch so verstanden werden sollte, ergibt sich aus der Begründung des Regierungsentw. zu § 1 FRG (BT-Drucks. III/1109), wonach von dem Buchst. a auch die Hinterbliebenen solcher Personen erfaßt werden sollten, die keine Vertriebenen sind, „unter der Voraussetzung, daß die Hinterbliebenen selbst dem Personenkreis der Vertriebenen angehören". Damit in Einklang steht auch die bisherige Rechtslage. Bereits durch das 2. ÄndG v. 4.9.1956 (BGBl I 767) war in § 1 Abs. 2 Nr. 2 FremdRG v. 7.8.1953 (BGBl I 848) ausdrücklich bestimmt worden, daß Hinterbliebene auch dann leistungsberechtigt sind, wenn nur sie selbst die persönlichen Voraussetzungen des Ges. erfüllten. Durch das FRG sollte hieran nichts geändert werden (vgl. RegEntw. aaO).

Das LSG hat hingegen zu Unrecht angenommen, die Anrechnung von Beschäftigungszeiten gem. § 16 FRG setze voraus, daß der Beschäftigte selbst vertrieben worden sei.

Nach § 16 FRG steht allerdings nur eine „vor der Vertreibung" verrichtete Beschäftigung unter bestimmten Voraussetzungen einer vers.-pflichtigen Beschäftigung gleich, für die Beiträge entrichtet sind; hieraus kann jedoch nicht gefolgert werden, daß deswegen, weil die Beschäftigung „vor der Vertreibung" liegen müsse, es nicht genüge, wenn nur der Hinterbliebene, nicht aber der Beschäftigte vertrieben worden ist. Entscheidend für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift ist nicht allein ihr Wortlaut, sondern auch der Sinn und Zweck der Regelung, sofern er im Ges. erkennbar geworden ist. An ihm ist der Wortlaut zu messen. Ergibt sich, daß der Gedanke des Ges. einen zu engen oder zu weiten und deshalb unrichtigen Ausdruck gefunden hat, so ist eine berichtigende Auslegung zulässig und geboten (BSG 14, 238, 239 = SozR Nr. 2 zu § 1291 RVO).

Der Sinn und Zweck des § 16 FRG ergibt sich jedoch aus der Entstehungsgeschichte des Ges. Während, wie schon erwähnt, das FremdRG vor allem eine Entschädigung für soz.vers.rechtliche Verluste gewährte (Entschädigungsprinzip), sollte durch das FRG die Gleichstellung der begünstigten Personengruppen mit den einheimischen Versicherten erreicht werden (Eingliederungsprinzip). Diesem gesetzgeberischen Zweck dient insbesondere § 16 FRG. Die Vorschrift soll diejenigen schützen, „die gewaltsam aus ihren früheren Lebensverhältnissen herausgerissen wurden und die in diesen Verhältnissen begründete Sicherung gegen die Wechselfälle des Lebens verloren haben" (RegEntw. zu § 17 FRG). Dieser gesetzgeberische Gedanke trifft in gleicher Weise auf Hinterbliebene von Vertriebenen wie auf vertriebene Hinterbliebene von Personen zu, die vor ihrer Vertreibung gestorben sind. Sinn und Zweck des Ges. fordern daher, daß § 16 FRG, soweit die Gewährung von Leistungen an Hinterbliebene in Frage steht, auch Anwendung findet, wenn nur der Hinterbliebene Vertriebener ist, ohne daß es darauf ankäme, ob der Beschäftigte gleichfalls vertrieben wurde.

Für eine solche Auslegung spricht vor allem § 17 Abs. 2 Satz 2 FRG. Diese Vorschrift schränkt die Anwendbarkeit des §16 FRG nur insofern ein, als sie die in § 1 Buchst. b und d FRG genannten Personen sowie deren Hinterbliebene von der Vergünstigung ausnimmt. § 17 Abs. 2 Satz 2 FRG bestätigt, daß die Wendung „vor der Vertreibung" in § 16 FRG nicht wörtlich ausgelegt werden kann; denn sofern es zB um Beschäftigungszeiten verschleppter Deutscher nach § 1 Buchst. c FRG geht, kann die Beschäftigung ebenfalls nicht „vor der Vertreibung" verrichtet worden sein.

§ 16 FRG ist somit in Fällen, in denen ein Vertriebener (§ 1 Buchst. a FRG) Hinterbliebenenansprüche geltend macht, dahin auszulegen, daß es genügt, wenn die Beschäftigung desjenigen, von dem das Recht hergeleitet wird, vor der Vertreibung des Hinterbliebenen verrichtet worden ist. Dies gilt jedenfalls dann, wenn - wie hier - der Beschäftigte nicht selbst Vertriebener war, weil er vor der Vertreibung des Hinterbliebenen gestorben ist (ebenso Jantz / Zweng / Eicher, aaO, § 16 FRG Anm. 7).

Der Ehemann der Klägerin hat daher Beschäftigungszeiten i.S. des § 16 FRG zurückgelegt, wenn er als Arbeitnehmer gegen Entgelt beschäftigt war (§ 1227 Abs. 1 Nr. 1 RVO).

Die Ansicht der Vorinstanzen, der Ehemann der Klägerin habe schon deswegen nicht in einem Arbeitnehmerverhältnis stehen können, weil er Miteigentümer der Kolchose und damit selbständiger Landwirt gewesen sei, läßt sich nicht halten. Sie beruht auf unrichtiger Auslegung des § 1227 Abs. 1 Nr. 1 RVO sowie einer Verkennung der rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse in den unter fremder Verw. stehenden deutschen Ostgebieten.

Nach § 1227 Abs. 1 Nr. 1 RVO werden Personen versichert, die als Arbeitnehmer gegen Entgelt beschäftigt sind. Eine Person ist dann als Arbeitnehmer beschäftigt, wenn ein Verhältnis persönlicher Abhängigkeit besteht, mit der im allg. auch eine wirtschaftliche Abhängigkeit verbunden ist. Bei der Beurteilung sind die gesamten Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen. Die wichtigsten Kriterien für ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis sind nach der Rechtspr. des BSG Weisungsgebundenheit hinsichtlich der Art und Ausführung der Arbeit sowie des Arbeitsortes und der Arbeitszeit, ferner ist wesentlich, ob eine Eingliederung des Beschäftigten in den Betrieb vorliegt (vgl. BSG 16, 289, 293 = SozR Nr. 30 zu § 165 RVO; 19, 265, 267 = SozR Nr. 39 zu § 165 RVO).

Das LSG hat ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis vor allem mit dem Hinweis auf das Miteigentum des Ehemannes der Klägerin an der Kolchose verneint. Dieser kann aber nicht als Miteigentümer der Kolchose angesehen werden. Nach sowjet-russischem Recht - sowie demjenigen der von ihm beeinflußten Rechtssysteme - steht aller Grund und Boden im gemeinschaftlichen (sozialistischen) Eigentum. Daher ist es nicht möglich, die rechtliche Stellung eines Kolchosbauern zu den Kollektivgütern derjenigen eines Miteigentümers nach deutschem Recht gleichzustellen. Eine dem Eigentum nach deutschem Recht vergleichbare Verfügungsmacht steht dem Mitglied einer Kolchose allenfalls an dem Kolchosehof und der Hauswirtschaftsparzelle (Nebenwirtschaft) mit Zubehör zu.

Hiergegen spricht auch nicht, daß Kolchosebauern nach Lastenausgleichsrecht für den Verlust entschädigt werden, den sie als Kolchosemitglieder erlitten haben. Vielmehr zeigt die in § 1 der 12. DVO v. 19. 3. 1953 (BGBl I 165) zu § 6 des Ges. über die Feststellung von Vertreibungsschäden und Kriegsschäden (FG) idF v. 14. 8. 1952 (BGBl I 535) enthaltene Fiktion deutlich, daß gerade kein Miteigentümerverhältnis nach deutschem Recht vorliegt. Wenn der durch die Kollektivierung erlittene Eigentumsverlust nach Lastenausgleichsrecht entschädigt wird, so schließt dies im übrigen nicht aus, die Beschäftigung des Kolchosemitglieds als VersZeit i.S. des § 16 FRG zu berücksichtigen, wenn die Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllt sind. Aus der ges. Regelung läßt sich nämlich nicht entnehmen, daß die Entschädigung nach dem Lastenausgleichsrecht im Rahmen des FRG von Bedeutung sein könnte.

Das LSG wird daher für die Entsch., ob die Voraussetzungen des § 16 FRG i.V.m. § 1227 Abs. 1 Nr. 1 RVO erfüllt sind, im einzelnen zu ermitteln haben, ob der Ehemann der Klägerin bei der Kolchosearbeit in der Zeit von 1948 bis zum 8.4.1955 in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis gestanden hat, insbesondere ob er hinsichtlich der Art, des Ortes und der Zeit sowie der Ausführung der Arbeit an fremde Weisungen gebunden war, und ob von einer Eingliederung in den Kolchosebetrieb gesprochen werden kann. ….

Das LSG wird im Hinblick auf § 1228 Abs. 2 RVO auch Ermittlungen darüber anzustellen haben, in welchem Umfang der Ehemann der Klägerin seine Arbeitskraft auf den ihm zur eigenen Bewirtschaftung überlassenen 60 Ar Land eingesetzt hat und welchen Wert der Ertrag hieraus gegenüber dem Verdienst aus der Kolchosearbeit hatte. ….

Bei seinen Ermittlungen wird das LSG schließlich auch noch zu berücksichtigen haben, daß nach den bisherigen tatsächlichen Feststellungen auch Ansprüche der Klägerin auf Grund des § 15 FRG nicht auszuschließen sind.

Zwar hat das LSG zu Recht angenommen, daß Kolchosebauern von der allg. staatlichen RentV der Sowjetunion nicht erfaßt wurden. Ein einheitliches, staatlich garantiertes System der RentV ist für sie erst durch das „Ges. über Renten und Beihilfen für Kolchosemitglieder" v. 15. 7. 1964 geschaffen worden. Gleichwohl könnte bei einzelnen Kolchosen schon früher ein System der sozialen Sicherheit i.S. des § 15 Abs. 2 FRG bestanden haben. Teilweise waren nämlich anscheinend sogenannte Hilfskassen eingerichtet, aus denen die Mitglieder in bestimmten Fällen Leistungen erhielten (vgl. hierzu ua Michalke, DAngV 1963, 308; Sand, Arb. u. SozP 1965, 188, 192; ferner Bulletin der Internationalen Vereinigung für soziale Sicherheit 1960, 17; 1962, 83, 88, 204).

Das LSG wird daher auch zu ermitteln haben, ob bei der in Frage stehenden Kolchose in der Zeit von 1948 bis zum 8.4.1955 eine derartige Kasse bestanden hat. War dies der Fall, so ist zu prüfen, ob sie als ges. RentV i.S. des § 15 Abs. 2 FRG anzusehen ist.

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