5/4 RA 37/94
Gründe I.
Der Kläger begehrt vom beklagten Rentenversicherungsträger noch die Verzinsung seines Anspruchs auf Zusatzversorgung für den Zeitraum vom 1. Januar bis 30. November 1991.
Im Jahre 1990 hatte die Sozialversicherung der DDR einen Anspruch des Klägers aus der Altersversorgung der technischen Intelligenz (AVI) anerkannt und sich zur Leistung einer Nachzahlung für die Zeit vom 1. November 1982 bis 30. November 1989 verpflichtet. Nachdem der Nachzahlungsbetrag trotz einer entsprechenden Mitteilung des Trägers der Sozialversicherung vom 5. September 1990 und mehrerer erfolgloser Mahnungen des Klägers nicht ausgezahlt worden war, erhob der Kläger im Oktober 1991 Leistungsklage vor dem Sozialgericht (SG) Leipzig. Am 11. Dezember 1991 wies die damalige Überleitungsanstalt Sozialversicherung - Bereich Zusatzversorgung - den Nachzahlungsbetrag zur Zahlung an; zum 14. Dezember 1991 konnte der Kläger darüber verfügen. Die auf die Leistung gerichtete Klage haben die Beteiligten daraufhin hinsichtlich der Hauptforderung für erledigt erklärt und den Rechtsstreit allein wegen des Anspruchs auf Verzinsung weitergeführt.
Das SG hat die Beklagte mit Urteil vom 19. August 1992 verurteilt, die Nachzahlung für den Zeitraum 1. Januar bis 30. November 1991 mit 4 v.H. zu verzinsen; die weitergehende Klage auf Verzinsung des Nachzahlungsbetrages bereits ab 5. September 1990 hat es abgewiesen. Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Chemnitz mit Urteil vom 24. Juni 1993 zurückgewiesen und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt: Hinsichtlich des Zinsanspruchs des Klägers für das Jahr 1991 bestehe eine Regelungslücke. Eine direkte Anwendung des § 44 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB I) sei ausgeschlossen, weil diese Ansprüche im Jahre 1991 noch nicht in die Rentenversicherung überführt gewesen seien. Auch die Verordnung der DDR über die zusätzliche AVI vom 17. August 1950 habe keine Verzinsungspflicht der Leistungen aus der Zusatzversorgung bestimmt. Für eine Lückenschließung im Wege einer analogen Anwendung des § 44 SGB I spreche die Interessenlage des Klägers, die im Jahre 1991 nicht anders zu beurteilen sei als ab dem 1. Januar 1992.
Die vom Kläger zunächst eingelegte Anschlußberufung mit dem Begehren auf Verzinsung des Nachzahlungsanspruchs ab 5. September 1990 nach den Vorschriften des Zivilgesetzbuchs der DDR hat der Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem LSG zurückgenommen.
Die Beklagte rügt mit ihrer vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen Revision die Verletzung materiellen Rechts durch unzutreffende Anwendung des § 44 Abs. 1 SGB I. Sie ist der Ansicht: Die Regelung in der Anlage I Kap. VIII Sachgebiet D Abschn. III Nr. 1 zu dem Vertrag vom 31. August 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag <BGBl. II 889 ff., 1032>) erkläre u.a. § 44 SGB I für den „Bereich der Rentenversicherung“ ab 1. Januar 1991 im Beitrittsgebiet für anwendbar, wohingegen eine vergleichbare Regelung für die Zusatz- und Sonderversorgungssysteme fehle. Aus der Anlage II Kap. VIII Sachgebiet H Abschn. III Nr. 9 Buchst. b Satz 2 zum Einigungsvertrag ergebe sich bis zur Überführung vielmehr die ausschließliche Anwendbarkeit der „leistungsrechtlichen Regelungen der jeweiligen Versorgungssysteme“, vorliegend also der Verordnung über die zusätzliche Altersversorgung der technischen Intelligenz in den volkseigenen und ihnen gleichgestellten Betrieben (AVI-VO) vom 17. August 1950 (GBl. der DDR Nr. 93 S. 844), die keine Pflicht zur Verzinsung gekannt habe. Diese Gesetzeslage mache deutlich, daß es sich bei der Entscheidung des Gesetzgebers, § 44 SGB I auf Leistungen aus Zusatz- oder Sonderversorgungen nicht anzuwenden, nicht um eine unbewußte Gesetzeslücke, sondern um eine bewußte Entscheidung des Gesetzgebers handele. Der vom LSG vorgenommene Analogieschluß aus § 44 SGB I verbiete sich daher, weil es an der vorausgesetzten Gesetzeslücke fehle. Da eine Überführung der Zusatzversorgungsleistungen in die gesetzliche Rentenversicherung erst mit § 2 Abs. 2 und § 4 Abs. 1 und 2 des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes (AAÜG) vom 25. Juli 1991 (BGBl. I S. 1606, 1677) zum 31. Dezember 1991 erfolgt sei, habe die Beklagte Leistungen aus einem Zusatzversorgungssystem der ehemaligen DDR für Zeiten bis zum 31. Dezember 1991 nur als „Auftragsgeschäft“ gezahlt. Da nach Anlage II Kap. VIII Sachgebiet H Nr. 9 Buchst. a des Einigungsvertrages bis zur Schließung der Zusatz- und Sonderversorgungssysteme auch die versicherungs- und beitragsrechtlichen Regelungen der jeweiligen Versorgungssysteme weiter anzuwenden gewesen seien, seien in diesen Fällen auch keine Geldleistungen i.S. des § 44 SGB I gezahlt worden. Erstmals fällig i.S. des § 44 Abs. 1 SGB I seien die Rentenbeträge als Geldleistungen i.S. dieser Vorschrift am 1. Januar 1992 mit Überführung dieser Systeme in die gesetzliche Rentenversicherung geworden.
Die Beklagte beantragt,
- die Klage unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts Chemnitz vom 24. Juni 1993 und Änderung des Urteils des Sozialgerichts Leipzig vom 19. August 1992 in vollem Umfang abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
- die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Ergänzend führt er aus: Wegen der nahezu identischen Interessenlage eines Rentenbeziehers mit dem Bezieher von Leistungen der AVI entspreche es dem Wortlaut des Einigungsvertrages, die Versorgung aus Zusatzversorgungssystemen zum Bereich der Rentenversicherung zu zählen. Dies entspreche auch dem Willen des Gesetzgebers, der das Sachgebiet H in der Anlage II Kap. VIII zum Einigungsvertrag, welches die Regelungen zu den Sonder- und Zusatzversorgungssystemen betreffe, mit dem Titel „Gesetzliche Rentenversicherung“ überschrieben habe. Hieraus folge, daß das SGB I - und damit auch die Verzinsungsvorschrift des § 44 SGB I - nach Maßgabe der Anlage I Kap. VIII Sachgebiet D Abschn. III Nr. 1 zum Einigungsvertrag bereits ab 1. Januar 1991 auf die Nachzahlung aus der Zusatzversorgung der AVI anzuwenden sei. Zumindest führe aber die vergleichbare Interessenlage zu einer analogen Anwendung der genannten Vorschrift. Denn die Zusatzversorgungssysteme der DDR hätten eine Ergänzung zur allgemeinen Rentenversicherung gebildet. Die in diesen Sonder- und Zusatzversorgungssystemen erfaßten Personengruppen hätten nur abgegrenzt erfaßt und der Zusatzversorgung zugeführt werden sollen, während die Rentenverordnung der ehemaligen DDR auf alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen Anwendung gefunden habe.
Gründe II.
Die zulässige Revision ist begründet. Das LSG hat zu Unrecht die Berufung der Beklagten gegen das der Klage zum Teil stattgebende Urteil des SG zurückgewiesen. Das SG mußte die Klage in vollem Umfang abweisen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Verzinsung der Nachzahlung der Leistungen aus der AVI für die Zeit vom 1. Januar bis 30. November 1991.
Der allein als Anspruchsgrundlage für die Verzinsung in Betracht kommende § 44 SGB I ermöglicht nur die Verzinsung von Geldleistungen der gesetzlichen Rentenversicherung. Andere als die im SGB I aufgeführten Leistungen sind von der Verzinsungspflicht ausgeschlossen. Ansprüche aus Zusatzversorgungen - wie im vorliegenden Fall aus der AVI - sind aber erst nach Überführung der Versorgungssysteme in die gesetzliche Rentenversicherung zum 1. Januar 1992 als Ansprüche aus der gesetzlichen Rentenversicherung zu werten.
Nach § 44 Abs. 1 SGB I sind Ansprüche auf Geldleistungen nach Ablauf eines Kalendermonats nach dem Eintritt ihrer Fälligkeit bis zum Ablauf des Kalendermonats vor der Zahlung mit 4 v.H. zu verzinsen. Diese Vorschrift ist im Beitrittsgebiet gemäß Anlage I Kap. VIII Sachgebiet D Abschn. III Nr. 1 Buchst. a zum Einigungsvertrag für den Bereich der Rentenversicherung ab 1. Januar 1991 in Kraft getreten.
Die Verzinsungspflicht erstreckt sich nach der Definition des § 11 Satz 1 SGB I nur auf Geldleistungen, die Sozialleistungen sind (vgl. Mrozynski, SGB I-Komm., 2. Aufl., 1995, RdNrn. 1 und 5 zu § 44). Es muß sich mithin um Ansprüche des Bürgers gegen den Leistungsträger handeln, mit denen soziale Rechte i.S. der §§ 2 bis 10 und 18 bis 29 SGB I erfüllt werden (vgl. BSG, Urteil vom 18. Dezember 1979 - 2 RU 3/79 - SozR 1200 § 44 Nr. 2; BR-Drucks. 305/72 S. 20 zu § 11; BR-Drucks. 286/73 S. 24 zu § 11; Hauck / Haines / Kamprad, SGB I-Komm., RdNr. 3 zu K § 44). Zu den sozialen Rechten des SGB I i.S. des § 2 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 SGB I i.V.m. § 23 SGB I gehörten Leistungen der Sonder- und Zusatzversorgungssysteme der DDR bis zu ihrer Überführung in die gesetzliche Rentenversicherung nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) nicht. Entgegen der Ansicht des Klägers lassen sich diese Versorgungsleistungen daher nicht unter den Begriff der Geldleistungen i.S. des § 44 Abs. 1 SGB I subsumieren, auch wenn die Anlage II Kap. VIII Sachgebiet H zum Einigungsvertrag mit dem Begriff „Gesetzliche Rentenversicherung“ überschrieben ist. Dies folgt daraus, daß die AVI vom 17. August 1950 gemäß § 2 Abs. 2, § 4 Abs. 1 und 2 AAÜG i.V.m. der Anlage 1 Nr. 1 zu diesem Gesetz erst zum 1. Januar 1992 in die Rentenversicherung überführt worden ist. Einer solchen Regelung hätte es nicht bedurft, wenn die Sonder- und Zusatzversorgungssysteme der DDR auch ohne sie als Teil der gesetzlichen Rentenversicherung anzusehen wären.
Eine analoge Anwendung des § 44 Abs. 1 SGB I auf Leistungen der AVI kommt nicht in Betracht. Denn es mangelt an einer die Analogie eröffnenden Regelungslücke im Einigungsvertrag.
Die Befugnis zur gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung steht den Gerichten nur dort zu, wo das Ganze der in den Gesetzen ausgeformten Rechtssätze „lückenhaft“ ist (vgl. Larenz, Methodenlehre, 6. Aufl., 1991, S. 370). Eine zu schließende Gesetzeslücke liegt aber nicht immer schon dann vor, wenn das Gesetz für eine bestimmte Fallgestaltung, die innerhalb des von ihm geregelten Bereichs liegt, keine Regel enthält, es also „schweigt“. Von einer „Lücke“ eines Gesetzes kann vielmehr nur gesprochen werden, sofern das Gesetz für einen bestimmten Bereich eine einigermaßen vollständige Regelung anstrebt und die Frage, um die es geht, rechtlicher Regelung bedürftig ist. Folglich kann ein einzelnes Gesetz immer nur dann und insoweit „lückenhaft“ sein, als es eine Regelung vermissen läßt, die eine Frage betrifft, die nicht dem „rechtsfreien Raum“ überlassen werden kann. Regelungslücken sind mithin nur Lücken innerhalb eines Regelungszusammenhangs des Gesetzes. Ob eine derartige Lücke vorliegt, ist daher vom Standpunkt des Gesetzes selbst, der ihm zugrundeliegenden Regelungsabsicht, der mit ihr verfolgten Zwecke, mithin des gesetzgeberischen „Plans“ zu beurteilen. Eine Gesetzeslücke ist eine „planwidrige Unvollständigkeit“ des Gesetzes (vgl. Larenz, a.a.O., S. 373 m.w.N.).
Eine solche planwidrige Unvollständigkeit läßt sich für die Anlage I Kap. VIII Sachgebiet D Abschn. III Nr. 1 zum Einigungsvertrag nach der Regelungsabsicht der Vertragspartner bzw. des Gesetzgebers des Einigungsvertragsgesetzes und der Teleologie ihres Inhaltes nicht feststellen, wenn in diesem Abschnitt die Anwendbarkeit des SGB I - und damit der Verzinsungsvorschrift des § 44 SGB I - auf Zusatzversorgungssysteme wie die zusätzliche AVI nicht geregelt worden ist. Der „gesetzgeberische Plan“ der Partner des Einigungsvertrages ließ eine Bestimmung zur Verzinsung einer möglichen Nachzahlung aus diesem Zusatzversorgungssystem nicht vermissen. Eine Regelungslücke i.S. einer „planwidrigen Unvollständigkeit“ dieses Teils des Einigungsvertrages bezogen auf die Verzinsung von Nachzahlungen aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen ist nicht erkennbar.
Dies gilt um so mehr, als auch die die Rentenpflichtversicherung regelnden Rentenverordnungen der DDR eine Verzinsungspflicht von Nachzahlungen nicht kannten. So bestimmte beispielsweise § 77 Abs. 1 der (1.) Rentenverordnung vom 23. November 1979 (GBl. der DDR I S. 401), daß zustehende Beträge ab Beginn des Anspruchs bzw. der fehlerhaften Zahlung nachzuzahlen seien, wenn ordnungsgemäß beantragte Leistungen durch die Sozialversicherung unberechtigt abgelehnt, eingestellt oder zu niedrig festgesetzt worden waren. Die nachfolgenden 2. bis 5. Rentenverordnungen haben diesbezüglich zu keiner Änderung geführt. Durchführungsbestimmungen zu dieser Vorschrift der Rentenverordnung sind nicht erlassen worden. Mithin konnte auch der Rentner der gesetzlichen Rentenversicherung der DDR vor Überführung der Versorgungssysteme keinen Verzinsungsanspruch durchsetzen.
Ist hiernach dem gesamten Recht der staatlichen Rentenversicherung der DDR der Anspruch auf Verzinsung einer Nachzahlung fremd, fehlt es hinsichtlich der unterlassenen Regelung eines Verzinsungsanspruchs bezogen auf Nachzahlungen aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen im Einigungsvertrag an der Planwidrigkeit der Gesetzeslücke. Vielmehr stellt sich die unterlassene Regelung als „beredtes Schweigen“ der Vertragschließenden dar; die Regelung eines Verzinsungsanspruchs insoweit ist bewußt unterlassen worden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz.