4 RA 40/90
Tatbestand
Streitig ist die Vormerkung einer Versicherungszeit der Kindererziehung vor dem 1. Januar 1986.
Die 1937 geborene Klägerin nahm im März 1967 die am 11. November 1965 geborene B., die bis dahin in einem Kinderheim gelebt hatte, in Pflege. Zu der beabsichtigten Adoption kam es nicht. Im Dezember 1987 beantragte die Klägerin die Vormerkung von Kindererziehungszeiten u.a. für die Erziehung von B. in der Zeit vom 1. April 1967 bis zum 31. März 1968. Die beklagte Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) lehnte es mit dem streitigen Bescheid vom 11. Februar 1988, bestätigt durch den Widerspruchsbescheid vom 6. Juni 1988, ab, der Klägerin Zeiten der Erziehung von B. anzuerkennen, weil nur die tatsächliche Erziehung während der ersten zwölf Kalendermonate nach dem Monat der Geburt des Kindes berücksichtigt werden könne und die Klägerin B. in der Zeit vom 1. Dezember 1965 bis zum 30. November 1966 nicht erzogen habe.
Klage und Berufung sind ohne Erfolg geblieben (Urteil des Sozialgerichts - SG - Duisburg vom 22. September 1989; Urteil des Landessozialgerichts - LSG - für das Land Nordrhein-Westfalen vom 18. April 1990). Das Berufungsgericht hat ausgeführt: Wortlaut und Systematik von § 28a Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 2a Abs. 3 Satz 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) erlaubten es nicht, u.a. bei Pflegemüttern von einem anderen Zeitpunkt des Beginns des berücksichtigungsfähigen Zeitraums als dem der Geburt des Kindes auszugehen. Die nach § 28a Abs. 3 Satz 1 AVG gebotene „entsprechende“ Anwendung von § 2a Abs. 3 Satz 1 AVG bedeute nur, daß auch im Rahmen von § 28a Abs. 1 AVG u.a. Pflegeeltern den leiblichen Eltern gleichgestellt seien. Diese Regelung sei verfassungsgemäß.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Klägerin eine Verletzung von § 28a Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 2a Abs. 3 Satz 1 AVG. Die „entsprechende“ Anwendung von § 2a Abs. 3 Satz 1 AVG bedeute, daß der Gesetzgeber den besonderen Umständen habe Rechnung tragen wollen, die bei Pflege- bzw. Adoptionseltern regelmäßig und typischerweise einem Beginn der Erziehung des Kindes unmittelbar nach dessen Geburt entgegenstünden. Vor der Inpflegenahme eines Kindes seien eine Vielzahl gesetzlicher Bestimmungen aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB), aus dem Adoptionsvermittlungsgesetz (AdVermiG) und aus dem Gesetz über die freiwillige Gerichtsbarkeit (FGG) zu beachten, die es zum Regelfall werden ließen, daß Pflegeeltern das Kind erst erhielten, wenn es schon geraume Zeit herangewachsen und meist älter als ein Jahr sei. Die einzig sinnvolle und verfassungsgemäße Interpretation bedeute, daß die Zeit der Kindererziehung i.S. von § 28a Abs. 1 AVG mit der tatsächlichen Übernahme der Erziehung des Kindes durch die Pflegeeltern beginne. Die vom LSG vertretene Auffassung sei mit dem Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) nicht vereinbar, weil es keinen sachlich vertretbaren Grund gebe, Pflegeeltern gegenüber leiblichen Eltern zu benachteiligen.
Die Klägerin beantragt,
„1. | Das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 18. April 1990 wird aufgehoben. |
2. | Die Beklagte wird verurteilt, ihren Bescheid vom 11. Februar 1988 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Juni 1988 abzuändern und zu Gunsten der Klägerin die Zeit vom 1. April 1967 bis zum 31. März 1968 als Kindererziehungszeit für das Kind B. anzurechnen. |
3. | hilfsweise: dem Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Grundgesetz die Frage zur Entscheidung vorzulegen, ob die Regelung des § 28a AVG mit dem Grundgesetz (insbesondere mit dem Art. 3 GG) vereinbar ist.“ |
Die Beklagte beantragt,
- die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Darüber hinaus sei zu fragen, wie verwaltungsmäßig festgestellt werden solle, wer das Kind in welchem Zeitraum tatsächlich erzogen habe, wenn dieser Zeitraum von den ersten zwölf Lebensmonaten des Kindes abweiche (Hinweis auf BT-Drucks. 10/2677 S 30, 34).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist unbegründet. Sie hat keinen Anspruch auf Vormerkung einer Versicherungszeit wegen Erziehung des Kindes B.
Nach § 104 Abs. 3 Satz 1 AVG i.V.m. §§ 15 Abs. 2, 17 Abs. 1 der Datenerfassungs-Verordnung (DEVO) hat die ... Zeiten wegen Kindererziehung nach § 28a AVG u.a. nur vorzumerken, wenn die Klärung des Versicherungskontos ergeben hat, daß der Tatbestand einer solchen Kindererziehungszeit erfüllt ist. Die Klägerin hat aber durch die Erziehung von B. keine Kindererziehungszeit i.S. von § 28a AVG zurückgelegt.
Nach § 28a Abs. 1 Satz 1 AVG (i.d.F. durch Art. 7 Nr. 2 des Rentenreformgesetzes - RRG 1992 - vom 18. Dezember 1989 - BGBl. I S. 2261) werden für die Erfüllung der Wartezeit u.a. Müttern, die nach dem 31. Dezember 1920 geboren sind, Zeiten der Kindererziehung vor dem 1. Januar 1986 in den ersten zwölf Kalendermonaten nach Ablauf des Monats der Geburt des Kindes angerechnet, wenn sie ihr Kind im Geltungsbereich dieses Gesetzes erzogen und sich mit ihm dort gewöhnlich aufgehalten haben. Abs. 3 Satz 1 a.a.O. bestimmt dazu, daß § 2a Abs. 3 bis 5 AVG entsprechend anzuwenden ist. Nach § 2a Abs. 3 Satz 1 AVG, der in unmittelbarer Anwendung die Pflichtversicherung wegen Erziehung eines nach dem 31. Dezember 1985 geborenen Kindes betrifft (Abs. 1 a.a.O.), sind u.a. Mütter i.S. des Abs. 1 u.a. auch Pflegemütter (§ 56 Abs. 3 Nr. 2 und 3 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch - SGB I). Pflegemutter ist nach § 56 Abs. 3 Nr. 3 SGB I eine Frau, die ein Pflegekind aufgenommen hat, Pflegekind gemäß Abs. 2 Nr. 2 a.a.O. eine Person, die mit der Pflegemutter durch ein auf längere Dauer angelegtes Pflegeverhältnis mit häuslicher Gemeinschaft wie ein Kind mit den Eltern verbunden ist. Erziehung i.S. von § 28a Abs. 1 Satz 1 AVG ist die Gesamtheit des tatsächlichen Verhaltens u.a. einer Mutter, das nach ihrem Verständnis und ihren Vorstellungen dazu bestimmt und darauf gerichtet ist, die körperliche, geistige, seelische, sittliche und charakterliche Entwicklung des Kindes zu beeinflussen (Funk in KassKomm § 1227a RdNr. 21).
Es kann dahingestellt bleiben, ob die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts ausreichen, abschließend zu beurteilen, ob die Klägerin - wofür nach § 28a Abs. 3 Satz 2 AVG Glaubhaftmachung genügt - Pflegemutter i.S. von § 2a Abs. 3 Satz 1 AVG des Kindes B. war und es erzogen hat. Hierauf ist nicht näher einzugehen, weil aufgrund der den Senat bindenden (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG) tatsächlichen Feststellungen des LSG mit den Vorinstanzen darauf zu erkennen ist, daß die Klägerin die Erziehung von B. erst im März 1967 und somit nach Ende des i.S. von § 28a Abs. 1 Satz 1 AVG berücksichtigungsfähigen Zeitraums, nämlich der ersten zwölf Kalendermonate nach Ablauf des Geburtsmonats des Kindes, d.h. nach dem 30. November 1966, aufgenommen hat. Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, daß eine Erziehung ausschließlich im Jahr nach der Geburt des Kindes i.S. von § 28a AVG eine Versicherungszeit wegen Kindererziehung sein kann, trifft ebenso wie die hierfür gegebene Begründung zu.
Entgegen der Ansicht der Klägerin folgt aus § 28a Abs. 3 Satz 1 AVG i.V.m. § 2a Abs. 3 Satz 1 AVG nichts anderes. Die „entsprechende“ Anwendung der letztgenannten Vorschrift bedeutet, daß der nach § 28a Abs. 1 Satz 1 AVG auf leibliche Mütter und Väter begrenzte Kreis der berechtigten Personen auf „Stiefmütter, Stiefväter, Pflegemütter und Pflegeväter“ erweitert wird (Funk a.a.O., § 1227a RdNr. 10, § 1251a RdNr. 3; VDR-Kommentar § 1227a RdNrn. 19, 21). Durch die „entsprechende“ Anwendung von § 2a Abs. 3 Satz 1 AVG im Rahmen des § 28a AVG, der die Berücksichtigung von Stiefeltern oder Pflegeeltern selbst nicht ausdrücklich regelt, wird also der persönliche Anwendungsbereich der letztgenannten Vorschrift auf Stiefeltern und Pflegeeltern ausgedehnt und in Übereinstimmung mit demjenigen des § 2a AVG gebracht. Dies entspricht dem Anliegen der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuß - BT-Drucks. 10/3518 S. 2 und BT-Drucks. 10/3519 S. 14 f.), der entgegen dem Regierungsentwurf (BT-Drucks 10/2677 Art. 2 Nr. 8, Begründung hierzu S. 34) mit der Einfügung von § 28a Abs. 3 Satz 1 AVG - ausschließlich - den begünstigten Personenkreis über die leiblichen Eltern hinaus erweitern, aber nicht den maßgeblichen Erziehungszeitraum über das Jahr nach der Geburt des Kindes ausdehnen wollte.
Der Senat ist nicht i.S. von Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG davon überzeugt, es sei verfassungswidrig, daß die Erziehung eines Kindes nur im Jahr nach seiner Geburt i.S. von § 28a Abs. 1 Satz 1 AVG als Versicherungszeit wegen Kindererziehung berücksichtigt werden kann. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat bereits zu der gleichliegenden Problematik bei der Gewährung von Bundeserziehungsgeld „vom Tag der Geburt bis zur Vollendung des 12. Lebensmonats“ (§ 4 Abs. 1 Satz 1 des Bundeserziehungsgeldgesetzes - BErzGG) erkannt, daß die zeitliche Anknüpfung des gesetzlichen Leistungsanspruchs an den Tag der Geburt des Kindes verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist und insbesondere kein Verstoß gegen die Art. 3 Abs. 1, 6 Abs. 4 und 20 Abs. 3 GG vorliegt (BVerfG SozR 7833 § 1 Nr. 3), ferner auch, daß die Anknüpfung an das Lebensalter des Kindes und nicht an den Zeitpunkt einer Aufnahme in die Familie der Adoptiv- oder Pflegeeltern weder willkürlich (Art. 3 Abs. 1 GG) noch mit dem Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) unvereinbar ist (Beschluß der 3. Kammer des 2. Senats vom 6. Oktober 1988 - 2 BvR 1328/88). Das hält der Senat auch im Blick auf Versicherungszeiten wegen Kindererziehung für zutreffend.
Hauptzweck des BErzGG ist es zu ermöglichen oder zu erleichtern, daß sich ein Elternteil der Betreuung und Erziehung des Kindes in dessen erster Lebensphase, die der Gesetzgeber für besonders wichtig erachtet hat, widmet. Durch die Gewährung von Erziehungsgeld soll für diesen Zeitraum ein bestimmter wirtschaftlicher Nachteil beseitigt oder gemindert werden, der - in typisierender und generalisierender Betrachtung - geeignet ist, einen Vater oder eine Mutter von der vollzeitigen persönlichen Betreuung und Erziehung eines Kleinstkindes abzuhalten. Er besteht darin, daß während der Betreuung eines Kindes die Möglichkeit, ein volles Erwerbseinkommen zu erzielen, eingeschränkt ist (BSGE 64, 296, 302 = SozR 7833 § 3 Nr. 1 m.w.N.). Zukunftsbezogen ist somit tragender Sachgrund des BErzGG die Förderung der Fürsorge für das Kind in dessen erstem Lebensjahr, nicht etwa die - abstrakte - „Anerkennung“ (Honorierung) von Erziehungsleistungen. Derselbe Sachgrund prägt auch die - zeitgleich mit dem BErzGG eingeführte - Pflichtversicherung bei Kindererziehung i.S. von § 2a AVG. Die Zuwendung zum Kind durch Erziehung in der ersten Lebensphase unter „Verzicht“ (vgl. BSG, Urteile vom 27. September 1990 - 4 REg 27/89 und 4 REg 30/89, zur Veröffentlichung vorgesehen) auf eine rentenanwartschaftsbegründende oder -steigernde Erwerbstätigkeit soll durch die Pflichtversicherung in einem Mindestumfang (§ 32 Abs. 6a AVG) wie eine außerhäusliche Erwerbstätigkeit anerkannt und dadurch gefördert werden. § 28a AVG und - worauf der 1. Senat des BSG bereits hingewiesen hat (Urteil vom 19. April 1990, 1 RA 35/88, zur Veröffentlichung vorgesehen) - die Regelung über die Leistung für Kindererziehung an Mütter der Geburtsjahrgänge vor 1921 (§§ 61 ff. des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - AnVNG) dienen der Abrundung dieses Sachprogramms (Förderung der Zuwendung zum Kind in dessen erster Lebensphase). Diese Vorschriften sehen leistungsrechtliche Berechtigungen für diejenigen vor, die in der Vergangenheit, d.h. vor dem 1. Januar 1986, dem Inkrafttreten des BErzGG und des § 2a AVG, diese Fürsorge für das Kind durch seine Erziehung im ersten Jahr nach der Geburt bereits geleistet hatten. Denn auch diese Erzieher waren durch die Beanspruchung mit der Erziehung - wie das Gesetz typisierend unterstellt - in der Möglichkeit eingeschränkt, in der ersten Lebensphase des Kindes eine rentenversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit auszuüben und durch Pflichtbeitragsleistungen eigene Rentenansprüche aufzubauen. Lediglich bei der Leistung für Kindererziehung (§§ 61 ff. AnVNG) ist der leistungsauslösende Tatbestand nur aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität und der Beweisprobleme bei derart weit zurückliegenden Sachverhalten auf die Lebendgeburt grundsätzlich im Inland beschränkt worden (Urteil des 1. Senats des BSG vom 19. April 1990 - 1 RA 35/88, zur Veröffentlichung vorgesehen). Es ist nicht ersichtlich und auch dem Vortrag der Klägerin nicht zu entnehmen, daß das Sachprogramm des Gesetzgebers, die Erziehung des Kindes in dessen erstem Lebensabschnitt zu fördern bzw. eine in dieser Zeit, aber vor Beginn der staatlichen Förderung am 1. Januar 1986 erfolgte Erziehung leistungsrechtlich anzuerkennen, verfassungswidrig sein könnte (vgl. dazu BSGE 63, 282, 289 ff. = SozR 2200 § 1251a Nr. 2 m.w.N.). Da dieser Gesetzeszweck nicht verfassungswidrig ist, widerspricht es dem Grundgesetz nicht, daß Erziehungsleistungen, die erst nach dem ersten Lebensjahr des Kindes i.S. von § 28a Abs. 1 Satz 1 AVG - von wem auch immer - erbracht worden sind, nicht berücksichtigt werden.
Nach alledem konnte die Revision der Klägerin keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG.