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11 RA 32/80

Tatbestand

Streitig ist, ob der Klägerin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) zusteht.

Die 1918 geborene Klägerin ist Inhaberin eines Heißmangelbetriebes. Ab August 1977 erhält sie Rente wegen Berufsunfähigkeit; den Anspruch auf Rente wegen EU hat die Beklagte verneint, weil die Klägerin noch eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübe (Bescheid vom 13. März 1978).

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte zur Anrechnung einer weiteren Beitragszeit verurteilt und im übrigen die Klage abgewiesen (Urteil vom 24. August 1979). Das Landessozialgericht (LSG) hat den der Klägerin von der Beklagten daraufhin erteilten neuen Bescheid vom 13. November 1979 und das Urteil des SG geändert und die Beklagte zur Gewährung von Rente wegen EU ab 1. April 1978 verurteilt (Urteil vom 14. März 1980). Die Klägerin könne aus gesundheitlichen Gründen keine nennenswerten Arbeiten mehr verrichten und sei daher erwerbsunfähig i.S. von § 24 Abs. 2 Satz 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG); Satz 2 stehe ihrem Anspruch auf Rente wegen EU nicht entgegen. Danach sei zwar nicht erwerbsunfähig, wer eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübe, wobei das Gesetz keine Einschränkungen in Zeit oder Umfang der Erwerbstätigkeit enthalte. Ausnahmsweise müsse jedoch, worauf auch die Ausführungen des Bundessozialgerichts (BSG) im letzten Absatz der Entscheidung SozR 2200 § 1247 Nr. 19 hindeuteten, dann etwas anderes gelten, wenn die selbständige Erwerbstätigkeit zeitlich oder wirtschaftlich im Ergebnis nahezu unbedeutend sei. Das sei hier der Fall. Die Klägerin arbeite nur noch vier Stunden wöchentlich und erziele weniger als 200,00 DM monatlich; nach dem Steuerbescheid für 1978 habe sie Einkünfte in Höhe von 2.262,00 DM (gegenüber 2.900,00 DM und 3.300,00 DM in den Jahren davor) gehabt. Eine selbständige Erwerbstätigkeit sei unschädlich, wenn sie nicht mehr Gegenstand einer Versicherungspflicht kraft Antrags nach § 2 Abs. 1 Nr. 11 AVG sein könne; dazu müsse sie mehr als nur geringfügig sein. Nach den §§ 8, 18 des Sozialgesetzbuches (SGB) IV habe der Grenzwert dieser Geringfügigkeit 1978 bei 390,00 DM gelegen.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,

  • das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG zurückzuweisen

Sie rügt eine Verletzung von § 24 Abs. 2 Satz 2 AVG. Nach dem Wortlaut und den Vorstellungen des Gesetzgebers solle jedwede selbständige Erwerbstätigkeit der Annahme von EU entgegenstehen.

Die Klägerin beantragt,

  • die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist begründet. Der Klägerin steht keine Rente wegen EU zu.

Nach § 24 Abs. 2 Satz 1 AVG ist erwerbsunfähig der Versicherte, der infolge Krankheit, Gebrechen oder Schwäche auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben (erste Alternative) oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann (zweite Alternative). Aufgrund des ärztlich begutachteten Gesundheitszustandes der Klägerin hat das LSG allem Anschein nach den Tatbestand der ersten Alternative für gegeben erachtet. Damit allein kann die Klägerin aber noch nicht als erwerbsunfähig gelten. Nach Satz 2 ist nämlich nicht erwerbsunfähig, wer eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt. Das aber ist bei der Klägerin der Fall.

Entgegen der Auffassung des LSG ist dabei nicht eine Erwerbstätigkeit unschädlich, die wegen Geringfügigkeit nicht Gegenstand einer Pflichtversicherung nach § 2 Abs. 1 Nr. 11 AVG sein kann. In dem vom LSG angezogenen Urteil vom 15. Dezember 1977 hat der Senat schon hervorgehoben (BSGE 45, 238, 241), daß § 24 Abs. 2 Satz 2 AVG hinsichtlich der ausgeübten selbständigen Erwerbstätigkeit keine Einschränkungen zeitlicher oder umfangmäßiger Art wie etwa § 2 Abs. 1 Nr. 11 und § 4 Abs. 1 Nr. 4 (gemeint: Nr. 5) AVG (und andere Vorschriften) mache; das bedeute, daß es im Rahmen des § 24 Abs. 2 Satz 2 AVG auf Dauer und Ergiebigkeit der selbständigen Erwerbstätigkeit nicht ankomme. Dafür spreche ferner der Sinn und Zweck der Vorschrift, ein Nebeneinander von EU-Rente und Einkünften aus selbständiger Erwerbstätigkeit zu verhindern. Der Senat sieht keinen Anlaß, von diesem einen Rückgriff auf § 2 Abs. 1 Nr. 11 AVG bereits ausschließenden Standpunkt abzurücken. In dem genannten Urteil ließ der Senat dahingestellt, ob ausnahmsweise etwas anderes gelten könne, wenn die selbständige Erwerbstätigkeit zeitlich oder im wirtschaftlichen Ergebnis nahezu unbedeutend sei. Damit hat sich der Senat für extrem gelagerte Fälle seine Meinungsbildung ersichtlich noch offenhalten wollen. Inzwischen hat der 4. Senat mit Urteil vom 12. Februar 1981 (4 RJ 137/79) entschieden, wer eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübe, sei auch dann nicht erwerbsunfähig, wenn er durch diese Tätigkeit nur noch geringfügige oder nahezu unbedeutende Einkünfte erziele. Nach der Auffassung des 4. Senats ist das Betriebsergebnis kein geeignetes Kriterium für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit eines Selbständigen; nur die dem Wortlaut folgende strikte Anwendung vermeide entsprechend dem Gesetzeszweck schwierige und oft ergebnislose Ermittlungen über in ihrer Grenze fragliche Minimaleinkünfte; werfe eine Tätigkeit nur unbedeutende oder belanglose Erträge ab, sei es zumutbar, den Rechtsschein der Selbständigkeit zu beenden.

Der erkennende Senat schließt sich dieser Auffassung an. Dem Hinweis auf die sonst erforderlichen fragwürdigen Ermittlungen mißt er zwar weniger Gewicht bei, da der Gesetzgeber bei der Versicherungspflicht (§ 2 Abs. 1 Nr. 11 i.V.m. § 4 Abs. 1 Nr. 5 AVG) und beim vorzeitigen Altersruhegeld (§ 25 Abs. 4 AVG) nicht auf ähnlich schwierige Ermittlungen verzichtet. Die dargelegte Ansicht entspricht jedoch neben dem Wortlaut auch dem Sinn und Zweck des § 24 Abs. 2 Satz 2 AVG.

In BSGE 45, 239 f hat der Senat bereits dargelegt, daß § 24 Abs. 2 Satz 2 AVG nicht eine Erwerbsfähigkeit klarstellt oder fingiert; entgegen dem jetzigen Vorbringen der Beklagten werden damit auch nicht Einkünfte über der Geringfügigkeitsgrenze der zweiten Alternative des Satzes 2 unwiderlegbar vermutet. Satz 2 schafft vielmehr eine Ausnahme von Satz 1. Mit Satz 2 wollte der Gesetzgeber verhindern, daß ein Versicherter Rente wegen EU bezieht und zugleich selbständig erwerbstätig ist; der Empfänger einer solchen für das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben bestimmten Rente soll nicht daneben Einkünfte aus selbständiger Erwerbstätigkeit erzielen können. Dabei ist zu beachten, daß der Gesetzgeber Selbständige und Unselbständige nur in Satz 1 bei der Beurteilung der Fähigkeit zum Erwerb, nicht aber in Satz 2 in den Folgen eines tatsächlichen Erwerbsverhaltens gleichstellt. Satz 2 schließt in Ausnahme von Satz 1 Erwerbsunfähigkeit allein bei selbständiger Erwerbstätigkeit, nicht dagegen bei unselbständiger Beschäftigung aus. Der Grund für diese unterschiedlichen Folgen eines Erwerbsverhaltens kann nur darin liegen, daß der Gesetzgeber bei Unselbständigen das mit der Gewährung von EU-Rente gewollte Ausscheiden aus dem Erwerbsleben schon mit der Feststellung ihrer Erwerbsunfähigkeit nach Satz 1 für hinreichend gewährleistet sieht, bei selbständigen Erwerbstätigen dagegen noch nicht. Die selbständige Erwerbstätigkeit bietet zu leicht noch die Möglichkeit zu Erwerbseinkünften, die der Annahme eines Ausscheidens aus dem Erwerbsleben widerstreiten. Aus diesem Grunde soll nach dem Willen des Gesetzgebers eine ausgeübte selbständige Erwerbstätigkeit der Gewährung von EU-Rente entgegenstehen, während eine ausgeübte unselbständige Beschäftigung nur Zweifel an der Bejahung der Erwerbsunfähigkeit nach Satz 1 zu begründen vermag.

Unter diesen Gesichtspunkten leuchtet es ein, daß nach Satz 2 jedwede selbständige Erwerbstätigkeit, ohne Rücksicht auf ihren Umfang und ihre Erträge, eine Erwerbsunfähigkeit ausschließen muß. Der Senat pflichtet dem 4. Senat darin bei, daß zur Erlangung einer EU-Rente auch bei einer unbedeutenden selbständigen Erwerbstätigkeit - anders als bei unbedeutender unselbständiger Beschäftigung - das Verlangen nach Einstellung dieser Tätigkeit darum zumutbar ist. Die Klägerin hätte deshalb ihre selbständige Tätigkeit nicht nur verhältnismäßig gering einschränken, sondern gänzlich aufgeben müssen, um Rente wegen EU beanspruchen zu können.

Auf die Revision der Beklagten war somit das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen. Dies mußte mit der Maßgabe geschehen, daß die Klageabweisung auf den während des Berufungsverfahrens erteilten neuen Bescheid vom 13. November 1979 zu beziehen ist; dieser Bescheid hat nämlich gem. § 96 SGG, wie schon das LSG angenommen hat, den ursprünglich angefochtenen Bescheid vom 13. März 1978 auch in der Ablehnung der EU-Rente ersetzt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

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