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4 RJ 111/76

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 9. Juli 1976 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte eine nach § 14 Abs. 2 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) idF des Änderungs- und Ergänzungsgesetzes (WGSVÄndG) vom 22. Dezember 1970 (BGBl I 1846) anerkannte fiktive Beitragszeit nur mit fünf Sechsteln zu berücksichtigen braucht, wenn diese nicht nachgewiesen, sondern lediglich glaubhaft gemacht ist.

Der 1921 geborene Kläger ist als Verfolgter im Sinne von § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) anerkannt. Am 27. Mai 1939 wanderte er nach Schweden aus; dort lebt er seitdem.

Mit Bescheid vom 4. Mai 1973 anerkannte die Beklagte außerhalb des Leistungsfeststellungsverfahrens ua die Zeit vom 1. Juni 1937 bis 26. Mai 1939, während der der Kläger nach eigenen Angaben eine Schlosserlehre bei der privaten jüdischen Lehranstalt für handwerkliche und gewerbliche Ausbildung auswanderungswilliger Juden der Gesellschaft "ORT" Abteilung Deutschland eV in B absolviert hatte, als Beitragszeit (hier: "Lehre"). Sie kürzte diese jedoch um ein Sechstel, weil sie nur glaubhaft gemacht sei. Den dagegen erhobenen Widerspruch wies die Widerspruchsstelle der Beklagten ua. mit der Begründung zurück, es seien lediglich Beginn und Ende der Ausbildungszeit nachgewiesen.

Das Sozialgericht (SG) Düsseldorf hat die Beklagte unter teilweiser Abänderung des Bescheides vom 4. Mai 1973 sowie des Widerspruchsbescheides vom 29. Oktober 1974 verurteilt, die fiktive Beitragszeit vom 1. Juni 1937 bis zum 26. Mai 1939 in vollem Umfange (sechs Sechstel) zu berücksichtigen (Urteil vom 25. Juni 1975).

Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen zurückgewiesen und im Urteil vom 9. Juli 1976 ausgeführt: Aufgrund des Inhalts der angefochtenen Bescheide sei davon auszugehen gewesen, daß der Kläger eine fiktive Beitragszeit im Sinne von § 14 Abs. 2 WGSVG zurückgelegt habe. Zwar seien die dafür erheblichen Tatsachen, wie die Beklagte angenommen habe, nicht als nachgewiesen, sondern lediglich als glaubhaft gemacht anzusehen. Dennoch verbiete sich eine Kürzung auf fünf Sechstel, weil nach § 3 Abs. 1 Satz 1 WGSVG stets die Glaubhaftmachung der nach diesem Gesetz rechtserheblichen Tatsachen genüge. Das WGSVG enthalte keine Einschränkung dieses Grundsatzes. § 3 Abs. 1 der Versicherungsunterlagenverordnung (VuVO) sowie § 19 Abs. 2 des Fremdrentengesetzes (FRG), die bei Glaubhaftmachung eine solche Kürzung zuließen, seien auf den vorliegenden Fall auch nicht entsprechend anwendbar. Insoweit bestehe auch keine ausfüllbare Gesetzeslücke. Es könne nämlich nicht angenommen werden, daß der Gesetzgeber bei Schaffung des WGSVG die VuVO und das FRG übersehen habe, weil in § 13 Abs. 1 WGSVG auf § 22 FRG ausdrücklich verwiesen sei. Dieses Ergebnis allein entspreche auch dem mit dem WGSVG verfolgten Wiedergutmachungszweck.

Die Beklagte hat die - vom LSG zugelassene - Revision eingelegt und die Revisionsbegründungsschrift ohne eigenhändige Unterschrift des Verfassers eingereicht, sondern diese nur mit dessen Namen in Maschinenschrift und einem Beglaubigungsvermerk versehen. In der Sache selbst macht sie sinngemäß geltend: § 14 Abs. 2 WGSVG enthalte zwei Gesetzeslücken; sie seien entsprechend den allgemeinen Grundsätzen des Sozialversicherungsrechts zu schließen. Der Wortlaut des § 14 Abs. 2 Satz 1 WGSVG setze zwar die Dauer einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung einer fiktiven Beitragszeit gleich. Satz 2 der Vorschrift gehe jedoch grundsätzlich davon aus, daß der Verfolgte, für dessen Beschäftigung aus Verfolgungsgründen keine Beiträge entrichtet worden seien, sein in dieser Zeit erzieltes Entgelt nachweisen oder glaubhaft machen könne. Würden nun diese Verdienste nicht den tatsächlichen Arbeitswochen, sondern der arbeitsrechtlichen Beschäftigungsdauer zugeordnet, so führe dies in Anwendung der in § 1255 Abs. 1 und 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) normierten Rentenformel zu einer Verringerung der zu ermittelnden Werteinheiten und somit zu einer Rentenminderung, weil Fehlzeiten, zB infolge Krankheit, gesondert zu berücksichtigen seien. Deshalb könne § 14 Abs. 2 Satz 1 WGSVG nur so verstanden werden, daß Beiträge für solche Zeiten als entrichtet gälten, in denen der Verfolgte eine (konkret) beitragspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt und aus Verfolgungsgründen dafür keine Beiträge geleistet habe. Auch sei nicht geregelt, wie die Entgelte zu bestimmen seien, wenn nur die rentenversicherungspflichtige Beschäftigung, nicht aber die erzielten Entgelte nachgewiesen oder glaubhaft gemacht seien. Insoweit biete sich eine Anwendung der Tabellen des § 22 FRG an. So verfahre sie - die Beklagte - seit langem. Schließlich enthalte § 14 Abs. 2 WGSVG keine Regelung, wie bei einer nachgewiesenen oder glaubhaft gemachten versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit zu verfahren sei, wenn die Entgelte weder nachgewiesen noch glaubhaft gemacht werden können. Da in § 3 Abs. 1 VuVO aufgrund statistischer Erhebungen eine solche Regelung getroffen sei, liege eine entsprechende Anwendung dieser Vorschrift nahe. Dies widerspreche nicht dem Prinzip der Wiedergutmachung. Denn die allgemeine Erfahrung, daß rentenversicherungspflichtige Personen in der Regel in gewissem Umfang Fehlzeiten in ihren Beitragsleistungen - meist bedingt durch Krankheiten - aufwiesen, nehme Verfolgte nicht aus.

Die Beklagte beantragt (sinngemäß),

  • das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 9. Juli 1976 sowie das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 25. Juni 1975 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

  • die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil im Ergebnis für zutreffend.

Auf den Vorlagebeschluß des Senats vom 27. Juni 1978 hat der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes am 30. April 1979 beschlossen, daß die Revisionsbegründung einer Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts oder einer Behörde auch dann der gesetzlichen Schriftform entspreche, wenn der in Maschinenschrift wiedergegebene Name des Verfassers mit einem Beglaubigungsvermerk versehen ist.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist zulässig. Die Revisionsbegründung genügt - auch ohne eigenhändige Unterschrift des für ihren Inhalt Verantwortlichen - dem Erfordernis der Schriftform (Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 30. April 1979 - GmS-OGB 1/78 -).

Die Revision ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden muß. § 14 Abs. 2 WGSVG schließt nicht aus, eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigungszeit, für die aus Verfolgungsgründen keine Beiträge entrichtet worden sind, lediglich zu fünf Sechsteln als fiktive Beitragszeit zu berücksichtigen. Mit Recht rügt die Beklagte eine Verletzung von § 14 Abs. 2 WGSVG durch das LSG. Dessen Feststellungen reichen nicht aus, um entscheiden zu können, ob der geltend gemachte Anspruch - Berücksichtigung einer fiktiven Beitragszeit vom 1. Juni 1937 bis zum 26. Mai 1939 in vollem Umfang (ohne Kürzung um ein Sechstel) - besteht.

Nach § 14 Abs. 2 Satz 1 WGSVG gelten, sofern der Verfolgte eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat und dafür aus Verfolgungsgründen keine Beiträge entrichtet worden sind, "für diese Zeiten Beiträge als entrichtet". Bei Ermittlung der für den Verfolgten maßgebenden Rentenbemessungsgrundlage sind die in diesen Zeiten erzielten Arbeitsentgelte oder Einkommen bis zur Höhe der jeweils geltenden Beitragsbemessungsgrenze zugrunde zu legen (Satz 2 der Vorschrift). Wenn dies für den Berechtigten günstiger ist, sind nach Satz 3 diesen Zeiten die Beitragsklassen und Bruttoentgelte zuzuordnen, die sich bei entsprechender Anwendung des § 13 WGSVG ergeben, der seinerseits auf § 22 FRG (mit den danach zugrunde zu legenden Tabellenwerten) verweist.

Ob es sich bei der streitbefangenen Lehrzeit des Klägers überhaupt um eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung gehandelt hat und die Beitragsentrichtung aus Verfolgungsgründen unterblieben ist, hat das LSG nicht geprüft. Es ist unter Hinweis darauf, daß die Beklagte in den angefochtenen Bescheiden anerkannt habe, für die Zeit vom 1. Juni 1937 bis zum 26. Mai 1939 gälten Pflichtbeiträge als entrichtet, ebenfalls von einer fiktiven Beitragszeit im Sinne des § 14 Abs. 2 WGSVG ausgegangen und hat gemeint, es komme "entscheidend hier allein" darauf an, ob diese Zeit um ein Sechstel gekürzt werden dürfe oder nicht. Indessen war weder das Berufungsgericht gehalten, sich die von der Beklagten anscheinend vertretene Rechtsansicht, es habe eine versicherungspflichtige Beschäftigung (eine rentenversicherungspflichtige - selbständige - Tätigkeit liegt hier außer Betracht) vorgelegen, zu eigen zu machen, noch ergibt sich eine Bindung aus dem Inhalt des Bescheides vom 4. Mai 1973 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Oktober 1974. Zwar erstreckt sich die Bindungswirkung des § 77 SGG auch auf außerhalb des Leistungsfeststellungsverfahrens ergangene Bescheide (vgl BSG vom 30. September 1969 - 1 RA 227/68); auch hier gilt jedoch, daß nur der Verfügungssatz bindend werden kann. Die Beklagte hat, worauf das LSG zutreffend hinweist, mit ihren Bescheiden die Zeit vom 1. Juni 1937 bis zum 26. Mai 1939 als fiktive Beitragszeit "anerkannt", sie hat aber auch sowohl im Bescheid wie im Widerspruchsbescheid kenntlich gemacht, daß sie diese Zeit nur im Umfang von fünf Sechsteln "herstellt". Nur so weit kann die Bindungswirkung für die Beklagte reichen, die auch das Gericht beachten muß. Daran ändert nichts, daß die Beklagte zu der Feststellung einer fiktiven Beitragszeit nach § 14 Abs. 2 WGSVG über die Annahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit gelangt sein muß. Beruht diese Subsumtion des Sachverhalts unter den Rechtsbegriff der versicherungspflichtigen Beschäftigung auf einem Irrtum, so bleibt die Beklagte gleichwohl insoweit gebunden, wie sie eine Regelung zugunsten des Klägers geschaffen hat. Das Gericht ist aber weder berechtigt noch verpflichtet, eine unrichtige Rechtsansicht der Beklagten auf Zeiten "fortzuschreiben", hinsichtlich derer keine Verfügung seitens der Beklagten für den Kläger getroffen worden ist. Es mag dahinstehen, ob die Beklagte eine Versicherungspflicht im Sinne des § 1423 Abs. 3 RVO - wonach, wenn der Rentenversicherungsträger die Versicherungspflicht anerkannt hat, der Rentenanspruch nicht mit der Begründung abgelehnt werden kann, es habe keine Versicherungspflicht bestanden - anerkannt hat; bejahendenfalls wäre dies nur in dem schon geschilderten Umfang geschehen.

Das LSG hat keine Feststellungen getroffen und aus seiner offenbar anderen rechtlichen Sicht heraus auch nicht zu treffen brauchen, aufgrund deren sich schon entscheiden ließe, ob der Kläger eine an sich rentenversicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt hat. Der wiedergegebene Sachverhalt bietet keine genügenden Ansatzpunkte für eine rechtliche Würdigung in dieser Richtung. So ist bisher nicht ersichtlich, ob sich der Kläger in einem Lehr- oder Anlernverhältnis im Sinne der Gewerbeordnung sowie damals für das Handwerk geltender (auch tarifrechtlicher) Bestimmungen befand, oder ob die schulische Ausbildung nach dem Vorbild einer Berufs- oder Fachschule im Vordergrund stand; es wird zu prüfen sein, ob der Kläger - unter Berücksichtigung der damaligen Rechtslage - persönlich (und/oder wirtschaftlich) von einem Arbeitgeber ("Lehrherrn") abhängig war, ob und in welcher Höhe er eine Vergütung (Taschengeld?) erhalten hat und hierbei unter Berücksichtigung aller Umstände von einem Entgelt im Sinne von § 1226 Abs. 2, § 160 RVO aF ausgegangen werden kann (hierzu und über weitere Einzelfragen Urteil des Senats vom 26. Mai 1976 - 4 RJ 359/74 = SozR 5070 § 14 Nr. 4 und das diesen Rechtsstreit abschließende Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 1. Juli 1977 - L 3 J 28/74 = Die SV 1978, S. 270 mit Anm Schmidinger aaO S. 272; vgl auch Urteil des 1. Senats des BSG vom 13.3.1979 - 1 RJ 24/78 = SozR aaO Nr. 8). Alle hiernach noch erforderlichen Ermittlungen können nur vom LSG als Tatsacheninstanz durchgeführt werden. Außerdem wäre vom Berufungsgericht noch zu klären, ob das Unterlassen der Beitragsleistung verfolgungsbedingt war; insofern hat allerdings der Senat (aaO S. 13) bereits seine Rechtsauffassung dargelegt, vorausgesetzt, es handelte sich um ein Entgelt im arbeitsrechtlichen Sinne. Erst wenn nach Würdigung der noch zu ermittelnden Tatsachen und unter Berücksichtigung der Gesamtumstände davon auszugehen ist, daß der Kläger vom 1. Juni 1937 bis zum 26. Mai 1939 (oder während eines Teils dieser Zeit) eine an sich versicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt hat und die Beitragsentrichtung aus Verfolgungsgründen unterblieb, stellt sich die - vom LSG aus Rechtsgründen verneinte - Frage, ob die Beklagte berechtigt ist, die Beschäftigungszeit nur zu fünf Sechsteln als fiktive Beitragszeit festzustellen. Dabei vermag der Senat allerdings die Rechtsansicht des LSG aus den folgenden Gründen nicht zu teilen:

§ 14 Abs. 2 Satz 2 WGSVG setzt voraus, daß die genannten Zeiten nachgewiesen sind; denn bei der Ermittlung der für den Verfolgten maßgebenden Rentenbemessungsgrundlage - also der sogenannten persönlichen Bemessungsgrundlage - müssen die in diesen Zeiten erzielten Arbeitsentgelte zugrunde gelegt werden. Das bedeutet, die nachgewiesenen oder nach § 3 WGSVG glaubhaft gemachten Arbeitsentgelte müssen für den beitragsrechtlich relevanten konkreten Zeitraum (hier für Zeiten vor dem Lohnabzugsverfahren: die jeweils einzelne Woche) feststehen; anders läßt sich die persönliche Bemessungsgrundlage nach § 1255 Abs. 1, Abs. 3 RVO nicht berechnen. Erst dann kann die Vergleichsberechnung nach § 14 Abs. 2 Satz 3 WGSVG durchgeführt werden (vgl dazu Knöbber/Schöning DAngVers 1971, 175, 180). Im wesentlichen nicht anders liegt es bei Lehrzeiten. Sind dafür bestimmte Entgelte nachgewiesen oder glaubhaft gemacht, kann die Rentenbemessungsgrundlage nach § 14 Abs. 2 Satz 2 RVO ermittelt werden. Die Vergleichsberechnung nach Satz 3 entfällt allerdings, weil nach § 22 Abs. 1 Buchst c Satz 2 FRG den Lehrzeiten weder Beitragsklassen noch Bruttoarbeitsentgelte zugeordnet werden. Der Wortlaut des § 14 Abs. 2 WGSVG greift aber auch hier ein. Denn die Grundvoraussetzung seiner Anwendung - die Möglichkeit der Ermittlung der Rentenbemessungsgrundlage nach Satz 2 - ist gegeben.

Keine Regelung enthält § 14 Abs. 2 WGSVG für den Fall, daß der Verfolgte "konkrete" Arbeitsentgelte im Sinne obiger Darlegungen nicht nachweisen oder glaubhaft machen kann, sondern nur in der Lage ist, seine an sich rentenversicherungspflichtige Beschäftigung und die aus Verfolgungsgründen unterlassene Beitragsentrichtung nachzuweisen oder glaubhaft zu machen. Dann ist weder die Ermittlung der Rentenbemessungsgrundlage nach Satz 2 des § 14 Abs. 2 WGSVG noch die Vergleichsberechnung nach Satz 3 möglich. § 3 Abs. 1 WGSVG, wonach es für die Feststellung der nach diesem Gesetz erheblichen Tatsachen genügt, wenn sie glaubhaft gemacht sind, hilft nicht weiter; denn er erfaßt solche Fälle gerade nicht. Die Voraussetzungen des § 14 Abs. 2 WGSVG sind ohne zumindest glaubhaft gemachte, auf die beitragsrechtlich relevante Zeiteinheit entfallende Arbeitsentgelte nicht erfüllt. Gleichwohl ist es auch in derartigen Fällen nicht ausgeschlossen, fiktive Beitragszeiten anzuerkennen und die erforderlichen Berechnungsmerkmale zu gewinnen. Dafür sprechen Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck des WGSVG:

Mit diesem Gesetz sollte der Schaden wiedergutgemacht werden, den die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung hinsichtlich ihrer Ansprüche aus der Sozialversicherung erlitten haben. Diesem Zweck hatte bereits das Verfolgtengesetz (VerfolgtenG) vom 22. August 1949 (WiGBl S 263) gedient; dessen Vorschriften waren zwar durch Art 3 § 2 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) vom 23. Februar 1957 (BGBl I S. 45) größtenteils außer Kraft gesetzt worden. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) war jedoch § 4 Abs. 4 VerfolgtenG, wonach die Steigerungsbeiträge für Ersatzzeiten nach dem höheren Verdienst zu berechnen waren, wenn der Versicherte glaubhaft gemacht hatte, daß er während dieser Zeiten einen höheren Arbeitsverdienst gehabt hätte, weiterhin geltendes Recht, allerdings in Anpassung an die seit dem 1. Januar 1957 bestehende Rechtslage (vgl SozR Nrn 11, 12 und 13 zu VerfolgtenG Allg). Mit dem WGSVG sollten nun Regelungen geschaffen werden, die - unter Wahrung des Prinzips der individuellen Entschädigung - dem System und der Rentenformel des neuen Rentenrechts entsprachen (vgl Begründung der Bundesregierung zum Entwurf des WGSVG, BT-Drucks VI/715 S. 8). So wurden § 4 Abs. 4 VerfolgtenG durch § 13 WGSVG und § 4 Abs. 5 VerfolgtenG, der bei einem verfolgungsbedingten Minderverdienst eine Rentenerhöhung vorsah, durch § 14 Abs. 1 WGSVG ersetzt. Eine dem § 14 Abs. 2 WGSVG entsprechende Regelung enthielt das VerfolgtenG nicht (vgl BT-Drucks VI/715 S. 10 und 11). Es liegt daher nahe anzunehmen, daß der Gesetzgeber bei der Schaffung von § 14 Abs. 2 WGSVG das Problem der Anerkennung fiktiver Beitragszeiten, wenn nur die versicherungspflichtige Beschäftigung als solche nachgewiesen oder glaubhaft gemacht ist, nicht gesehen hat, zumal sich Anhaltspunkte in den Materialien auch im übrigen nicht finden. Da er aber einen vollen Ausgleich des in der Rentenversicherung erlittenen Schadens beabsichtigte (vgl dazu schriftlichen Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf des WGSVG, BT-Drucks VI, 1449 S. 1) und es gerade häufig verfolgungsbedingt sein wird, wenn Arbeitsentgelte einzeln nicht mehr glaubhaft gemacht werden können, entspricht es dem gesamten Regelungszweck des Gesetzes, auch hier - im Wege der Analogie - eine fiktive Beitragszeit gemäß § 14 Abs. 2 Satz 1 WGSVG dem Grunde nach zu gewähren.

In welchem Umfang (und mit welchen Werten für die persönliche Bemessungsgrundlage) eine solchermaßen nachgewiesene oder glaubhaft gemachte an sich versicherungspflichtige Beschäftigungszeit als fiktive Beitragszeit zu berücksichtigen ist, läßt sich weder § 14 Abs. 2 WGSVG noch sonst diesem Gesetz entnehmen. Es muß daher auf die allgemeinen rentenrechtlichen Vorschriften zurückgegriffen werden. Nach § 1256 Abs. 3 RVO ist der Bundesminister für Arbeit ermächtigt worden, mit Zustimmung des Bundesrates zu bestimmen, wie zu verfahren ist, wenn Versicherungsunterlagen nicht mehr vorhanden sind oder nicht erkennen lassen, für welches Kalenderjahr Beiträge entrichtet wurden. Aufgrund dessen ist am 3. März 1960 die VuVO ergangen. Sie unterscheidet zwischen nachgewiesenen und nicht nachgewiesenen, aber glaubhaft gemachten Beitragszeiten und rechnet letztere zu fünf Sechsteln als Beitragszeit an (§ 3 Abs. 1 VuVO); dieser gekürzten Beitragszeit werden dann Beitragsklassen bzw Bruttoarbeitsentgelte zugeordnet (§ 4 Abs. 1 VuVO; entsprechende Regelungen in § 19 Abs. 2, § 22 Abs. 1 FRG). Der Grund für diese Kürzung ist die anhand statistischer Erhebungen gewonnene Erfahrung, daß in den gesetzlichen Rentenversicherungen die Beitragsdichte durchschnittlich bei zehn Monaten im Jahr lag (vgl Begründung zum Entwurf des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes, BT-Drucks 1109 S. 42; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd III Stand August 1978, S. 702 a I zu § 3 Abs. 1 VuVO).

Es entspricht sowohl dem Sinn und Zweck des § 14 Abs. 2 WGSVG wie auch dem in der VuVO zum Ausdruck gebrachten Prinzip, unverschuldete Verluste im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung systemgerecht und dabei so individuell wie möglich und pauschalierend wie nötig auszugleichen, denjenigen Verfolgten, für den aus Verfolgungsgründen für eine an sich versicherungspflichtige Beschäftigung keine Rentenversicherungsbeiträge geleistet wurden und der die im einzelnen erzielten Arbeitsentgelte nicht nachweisen oder glaubhaft machen kann, im Ergebnis einem Versicherten gleichzustellen, für den keine Versicherungsunterlagen mehr vorhanden sind. Das bedeutet: Weist der Verfolgte eine Zeit der versicherungspflichtigen Beschäftigung (lückenlos) nach, so ist diese auch in vollem Umfang als fiktive Beitragszeit festzustellen. Vermag der Verfolgte dagegen eine solche Beschäftigungszeit nur glaubhaft zu machen, dann kann diese entsprechend den allgemeinen Vorschriften auch nur gekürzt auf fünf Sechstel als fiktive Beitragszeit zugrunde gelegt werden. Dies kann auch bei einem Verfolgten, der eine Beschäftigungszeit nur ihrem Beginn und Ende nach glaubhaft gemacht hat, nicht außer Betracht bleiben. Würde man auch in einem solchen Fall die gesamte Zeit berücksichtigen, so könnte das zu einer Besserstellung gegenüber einem Verfolgten führen, der zB innerhalb eines Jahres wegen zwischenzeitlicher Krankheit oder aus sonstigen Gründen nach § 10 Abs. 2 Satz 2 WGSVG Arbeitsentgelte nur für zehn Monate nachgewiesen oder glaubhaft gemacht hat und deshalb nur eine fiktive Beitragszeit von zehn Monaten angerechnet erhält. Dagegen käme erstgenanntem Verfolgten eine Zeit von zwölf Monaten zugute, auch wenn darin ein versicherungsfreier Zeitraum enthalten wäre. Ein derartiges Ergebnis widerspräche dem Zweck des Gesetzes, vollen Ausgleich des in der Rentenversicherung erlittenen Schadens zu gewährleisten (vgl oben BT-Drucks VI, 1449 S. 1). Denn damit wäre grundsätzlich die Möglichkeit eröffnet, daß im Einzelfall mehr als der tatsächlich eingetretene Schaden kompensiert würde. Zwar mag es häufig so liegen, daß die bloße Glaubhaftmachung einer Beschäftigungszeit gerade auf Verfolgungsgründe zurückzuführen ist. Jedoch enthält das WGSVG insoweit keine Bestimmung über einen Schadensausgleich, so daß ein solcher nur im Rahmen des herrschenden Sozialversicherungssystems abgegolten werden kann.

Lehrzeiten sind - wie die Beklagte im vorliegenden Fall auch verfahren ist - lediglich als solche in den Versicherungsverlauf einzutragen, weil ihnen nach § 4 Abs. 2 Satz 1 VuVO (entsprechend: § 22 Abs. 1 Buchst c Satz 2 FRG) keine Beitragsklassen oder Bruttoarbeitsentgelte zuzuordnen sind; sie sind bei der Ermittlung der Rentenbemessungsgrundlage nach § 1255a RVO zu bewerten, und zwar - wie oben ausgeführt - ggf unter Kürzung auf fünf Sechstel.

Sollte das LSG bei seiner neuen Entscheidung zu dem Ergebnis gelangen, daß der Kläger eine an sich versicherungspflichtige Beschäftigung, hier: Lehrzeit, ausgeübt hat, wird es auch (erneut) zu prüfen haben, ob diese Lehrzeit nicht sogar nachgewiesen ist. Hierbei könnte dem vorhandenen Zeugnis vom 24. April 1939 Bedeutung zukommen, und es wäre - immer unter der Voraussetzung, daß überhaupt Versicherungspflicht bestand - dann ua zu prüfen, ob seitens der Lehranstalt auch während Krankheits- und Urlaubszeiten ein Entgelt gezahlt wurde.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

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