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12/3 RK 56/75

Gründe I.

Die Beteiligtenstreiten darüber, ob der Kläger als selbständiger Heilpraktiker nach § 2 Abs. 1 Nr. 6 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) versicherungspflichtig ist.

Der Kläger ist als selbständiger Heilpraktiker tätig. In seiner Praxis beschäftigt er seine Ehefrau weniger als 20 Stunden wöchentlich ohne Entgelt.

Nach einem inzwischen für erledigt erklärten Verfahren zur Wiederherstellung von Versicherungsunterlagen forderte die Beklagte den Kläger mit „Forderungsbescheid“ vom 1. März 1973 auf, die vollen Pflichtbeiträge zur Angestelltenversicherung (AnV) durch Verwendung von Beitragsmarken zu entrichten, da er nach § 2 Abs. 1 Nr. 6 AVG versicherungspflichtig sei. Für die zurückliegende Zeit vom 1. Januar 1969 bis 31. Dezember 1972 verlangte sie insgesamt 15.396,00 DM mit der Begründung, die Beitragsrückstände seien nicht verjährt, da die Verjährung des Anspruchs auf Zahlung rückständiger Beiträge durch das anhängig gewesene Vorverfahren nach § 142 Abs. 2 AVG unterbrochen worden sei. Der Kläger habe die jeweils geltende Beitragsbemessungsgrenze überschritten.

Der Kläger verwahrte sich gegen die Nachforderung von Pflichtbeiträgen. Als Heilpraktiker übe er entgegen der Auffassung der Beklagten keine Krankenpflege aus. Widerspruch und Klage blieben erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 15. Mai 1973; Urteil des Sozialgerichts - SG - Stade vom 30. April 1974). Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen das Urteil des SG und den Bescheid der Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheids aufgehoben. Es hat festgestellt, daß der Kläger als Heilpraktiker nicht der Versicherungspflicht nach § 2 Abs. 1 Nr. 6 AVG unterliegt. Es hat die Revision zugelassen (Urteil vom 28. Mai 1975).

Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 2 Abs. 1 Nr. 6 AVG.

Die Beklagte beantragt,

  • das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

  • die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) entscheidet.

Gründe II.

Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Sie ist zurückzuweisen. Das LSG hat zutreffend festgestellt, daß der Kläger nach § 2 Abs. 1 Nr. 6 AVG nicht versicherungspflichtig ist, weil er nicht in der „Krankenpflege“ tätig ist.

Das LSG hat mit Recht das Klagebegehren als eine verbundene Anfechtungs- und Feststellungsklage (§§ 54 Abs. 11 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG) angesehen. Der Kläger wendet sich nämlich zunächst gegen den „Forderungsbescheid“ der Beklagten vom 1. März 1973 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. Mai 1973 mit dem Ziel, daß dieser Bescheid aufgehoben wird. Damit ist jedoch lediglich die Beitragsforderung der Beklagten für die Zeit vom 1. Januar 1969 bis 31. Dezember 1972 mit 15.396,00 DM erfaßt, nicht aber eine Beitragsforderung zur AnV für die anschließende Zeit. Dies ist mit der Feststellungsklage zu erreichen. Hierfür besteht ein Feststellungsinteresse. Auf diese Weise ist mit der zutreffend vom LSG getroffenen Feststellung, daß der Kläger als Heilpraktiker - gemeint ist die Tätigkeit als selbständiger Heilpraktiker - nicht der Versicherungspflicht nach § 2 Abs. 1 Nr. 6 AVG unterliegt, ausgeschlossen, daß die Beklagte für weitere Zeiten vom Kläger als selbständigem Heilpraktiker Beiträge zur AnV nach § 2 Abs. 1 Nr. 6 AVG fordern kann.

Der Kläger ist entgegen der Auffassung der Beklagten nicht nach § 2 Abs. 1 Nr. 6 AVG in der AnV versicherungspflichtig. Nach dieser Vorschrift werden in der Rentenversicherung der Angestellten versichert „in der Kranken-, Wochen-, Säuglings- und Kinderpflege selbständig tätige Personen, die in ihrem Betrieb keine Angestellten beschäftigen“. Der Kläger ist zwar als selbständiger Heilpraktiker eine selbständig tätige Person. Er beschäftigt in seiner Praxis auch keine Angestellten. Dem steht nicht entgegen, daß er, wie das LSG von der Revision unangefochten und daher für das Revisionsgericht bindend (§ 163 SGG) festgestellt hat, in seiner Praxis seine Ehefrau weniger als 20 Stunden wöchentlich ohne Entgelt beschäftigt. Die Beschäftigung der Ehefrau ist keine solche als Angestellte. Die Beschäftigung der Ehefrau als Angestellte im Rahmen eines Ehegatten-Arbeitsverhältnisses würde voraussetzen, daß der Kläger seiner Ehefrau für ihre Arbeit eine angemessene Vergütung zahlt. Das ist nicht der Fall. Die Ehefrau leistet ihre Dienste in der Praxis des Klägers unentgeltlich und überdies zeitlich nur in geringem Umfang. Eine solche Mithilfe der Ehefrau in der Praxis des Ehemannes ist ausgeprägt familienhaft. Sie macht die so beschäftigte Ehefrau nicht zur Angestellten.

Die Beitragsforderung der Beklagten scheitert jedoch daran, daß der Kläger keine in der Krankenpflege selbständig tätige Person nach § 2 Abs. 1 Nr. 6 AVG ist. Dies hat das Berufungsgericht zutreffend erkannt.

Das Recht des Heilpraktikers ist im wesentlichen im Gesetz über die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung (Heilpraktikergesetz) vom 17. Februar 1939 (RGBl. I 251) geregelt. § 1 Abs. 1 des Heilpraktikergesetzes macht die Ausübung der Heilkunde ohne ärztliche Bestallung von einer Erlaubnis abhängig („Wer die Heilkunde, ohne als Arzt bestallt zu sein, ausüben will, bedarf dazu der Erlaubnis“). Nur derjenige, der eine solche Erlaubnis hat, führt die Berufsbezeichnung „Heilpraktiker“ (§ 1 Abs. 3, 2. Halbsatz des Heilpraktikergesetzes). § 1 Abs. 2 des Heilpraktikergesetzes umschreibt den Begriff der „Ausübung der Heilkunde i.S. dieses Gesetzes“: „Ausübung der Heilkunde i.S. dieses Gesetzes ist jede berufs- und gewerbsmäßig vorgenommene Tätigkeit zur Feststellung, Heilung oder Linderung von Krankheiten, Leiden oder Körperschäden bei Menschen, auch wenn sie im Dienste von anderen ausgeübt wird.“ Nach der Vorgeschichte, dem Wortlaut sowie dem Sinn und Zweck dieser Vorschriften des Heilpraktikergesetzes übt der Heilpraktiker Heilkunde am Menschen aus. Wenn auch der Heilpraktiker kein Arzt ist, dessen Ausbildung und Bestallung besonders geregelt sind, deckt sich doch dessen Tätigkeit im wesentlichen mit derjenigen des Arztes. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) erkennt in ständiger Rechtsprechung an, daß der Heilpraktiker ärztliche Methoden anwendet (bei kosmetischen Eingriffen: BVerwG, Buchholz, 418.04 Heilpraktiker Nr. 3 = NJW 1959, 833 = MDR 1959, 148 = DVBl 1961, 35; Buchholz, 418.04 Heilpraktiker Nr. 7 = NJW 1966, 418 = MDR 1966, 177 = DÄ 1966, 446 = DMW 1966, 869; Buchholz, a.a.O., Nr. 11; bei chiropraktischer Behandlung: BVerwGE 35, 308 = Buchholz, a.a.O., Nr. 10 = NJW 1970, 1987 = DÄ 1971, 182). Die Ausübung der Heilkunde setzt ärztliche Fachkenntnisse voraus (BVerwGE 23, 140 = Buchholz, 418.04 Heilpraktiker Nr. 8 = NJW 1966, 1187). Heilkunde gehört aber nicht zur Krankenpflege i.S. des § 2 Abs. 1 Nr. 6 AVG. Der in der Heilkunde Tätige bestimmt die Art und den Umfang der medizinisch erforderlichen Behandlung des kranken Menschen. Bei der Krankenbehandlung können auf Anordnung des Heilkundigen - des Arztes oder des Heilpraktikers - auch andere Personen tätig werden, z.B. Krankenschwestern, Masseure, Krankengymnasten. Derartige Personen werden dann in der Krankenpflege i.S. des § 2 Abs. 1 Nr. 6 AVG tätig, wenn sie selbständig sind und in ihrem Betrieb keine Angestellten beschäftigen. Die Abhängigkeit vom Heilkundigen und dessen Weisungen kennzeichnet die in dieser Vorschrift gemeinten, in der Krankenpflege selbständig tätigen Personen.

Dieses Ergebnis wird noch durch folgende Erwägung gestützt:

Nach § 2 Abs. 1 Nr. 6 AVG sind außer den in der Krankenpflege selbständig tätigen Personen, die in ihrem Betrieb keine Angestellten beschäftigen, unter denselben Voraussetzungen auch in der Wochen-, Säuglings- und Kinderpflege selbständig tätige Personen in der AnV versicherungspflichtig. Diese Aufzählung unterschiedlicher Berufsgruppen läßt erkennen, daß hierzu gehörige Personen schlechthin pflegerische Berufe ausüben, nicht aber solche der Heilkunde. Da sie unter Einschluß der Berufe der Krankenpflege in ihrer Rechtsfolge der Versicherungspflicht gleich zu behandeln sind, spricht dieser Umstand ebenfalls dafür, daß die Tätigkeit eines selbständigen Heilpraktikers nicht zu den in § 2 Abs. 1 Nr. 6 AVG gemeinten krankenpflegerischen Tätigkeiten zu rechnen ist.

Mit ihrer Revision bekämpft die Beklagte diese Auslegung des § 2 Abs. 1 Nr. 6 AVG, wonach die Tätigkeit des selbständigen Heilpraktikers keine Krankenpflege ist, als zu eng. Sie beruft sich dazu im einzelnen auf die Vorschriften aus dem Recht der Gesetzlichen Krankenversicherung der §§ 165b Abs. 1 Nrn. 1 und 6, 166 Abs. 1 Nr. 5 und 182 Abs. 1 Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Zum Vergleich mit der hier auszulegenden Vorschrift des § 2 Abs. 1 Nr. 6 AVG ist die Vorschrift des § 182 Abs. 1 Nr. 1 RVO, die den Leistungsbegriff der Krankenpflege in der Krankenversicherung umschreibt, schon deshalb nicht heranzuziehen, weil dieser Begriff dem Leistungsrecht der Krankenversicherung angehört, während hier ein Merkmal bei der Versicherungspflicht in der Rentenversicherung auszulegen ist. Von den weiteren Vorschriften des Krankenversicherungsrechts, die die Beklagte glaubt für ihre Rechtsauffassung ins Feld führen zu können, kann allein § 166 Abs. 1 Nr. 5 RVO als Parallelvorschrift für die Krankenversicherung zu § 2 Abs. 1 Nr. 6 AVG von Bedeutung sein. Hierzu hat das LSG u.a. bemerkt, der Begriff der Krankenpflege in § 2 Abs. 1 Nr. 6 AVG und § 166 Abs. 1 Nr. 5 RVO sei an den Vorschriften des Krankenpflegegesetzes zu orientieren. Auf Heilpraktiker seien die bezeichneten sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften nicht anzuwenden. Dieser Auffassung des LSG stimmt der erkennende Senat zu. In der Tat gibt das Krankenpflegegesetz vom 15. Juli 1957 i.d.F. vom 20. September 1965 (BGBl. I 1443, 1482) und vom 3. September 1968 (BGBl. I 989) keinen Anhalt dafür, daß zu den in der Krankenpflege tätigen Personen auch Heilkundige wie die Heilpraktiker zu zählen sind.

Das LSG hat ferner das hier gebilligte Ergebnis auf die Vorschrift des § 541 Abs. 1 Nr. 4 RVO über die Versicherungsfreiheit von selbständigen Ärzten und Heilpraktikern gestützt und sich auf die Überlegungen des Gesetzgebers berufen, daß diese Personen im Wege der Selbsthilfe sich gegen die Wechselfälle des Lebens schützen könnten. Das LSG möchte dieselbe Überlegung auch bei der Auslegung des § 2 Abs. 1 Nr. 6 AVG heranziehen. Es kann offen bleiben, ob dieser Schluß des LSG gerechtfertigt oder mit der Beklagten zu verneinen ist. Denn entscheidender Gesichtspunkt für das Ergebnis bleibt, daß die Tätigkeit eines selbständigen Heilpraktikers keine solche in der Krankenpflege ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

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