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11 RA 110/75

Aus den Gründen

Zwischen den Beteiligten ist noch streitig, ob der Klägerin ab Januar 1973 Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres früheren Ehemannes (des Versicherten) zusteht.

Die Klägerin ist 1901 geboren. Sie schloß 1932 die Ehe mit dem Versicherten, aus der ein 1933 geborenes Kind hervorging. 1938 wanderte der Versicherte nach Großbritannien aus und erwarb später die britische Staatsangehörigkeit. 1939 wurde die Ehe aus seinem Verschulden durch Urt. des LG geschieden. Im Juli 1965 ist er verstorben.

Der Versicherte hatte am Ersten Weltkrieg teilgenommen und bis 1923 30 Pflichtbeiträge zur deutschen AV entrichtet. Sein aus Entschädigungsrenten und Altersruhegeld stammendes Einkommen betrug im Sterbejahr 1.185,00 DM monatlich. Die seit 1948 in Großbritannien lebende Klägerin verdiente von Juli 1964 bis Juni 1965 etwa 890,00 englische Pfund brutto.

Ihren Antrag auf Gewährung einer Hinterbliebenenrente nach § 42 AVG lehnte die beklagte BfA 1970 ab, weil die Klägerin wegen der Höhe ihres Arbeitseinkommens nicht unterhaltsbedürftig gewesen sei.

Das SG hat die Klage abgewiesen. Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen; es hat aber den von der Beklagten während des Berufungsverfahrens erlassenen, den Anspruch nach § 42 AVG i.d.F. des Rentenreformgesetzes vom 16.10.1972 (RRG) wiederum ablehnenden Bescheid vom 18.04.1975 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, Hinterbliebenenrente ab Januar 1973 zu gewähren.

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Das LSG hat zutreffend entschieden, daß der Klägerin eine Geschiedenen-Witwenrente nach § 42 AVG ab 01.01.1973 zu gewähren ist (Art. 1 § 2 Nr. 14, Art. 6 § 8 Abs. 1 RRG; Art. 2 § 18 Abs. 2 AnVNG). Zwar hat sie keinen Anspruch aufgrund der Tatbestände des § 42 Satz 1 AVG. Denn der Versicherte hatte ihr zur Zeit seines Todes keinen Unterhalt nach den Vorschriften des - aufgrund des Art. 17 Abs. 1 EGBGB hier anwendbaren - EheG zu leisten, weil sie wegen ihres Arbeitseinkommens von 20,00 englischen Pfund brutto (etwa 224,00 DM) wöchentlich nicht unterhaltsbedürftig war (§ 58 EheG). Für den Anspruch scheiden auch die zweite und dritte Alternative des § 42 Satz 1 AVG aus: Weder hatte der Versicherte Unterhalt aus sonstigen Gründen zu leisten noch hat er im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt gezahlt.

§ 42 Satz 1, 1. Halbsatz AVG findet aber mit Wirkung vom 01.01.1973 deshalb Anwendung, weil die in § 42 Satz 2 AVG n.F. in den Nrn. 1, 2 und 3 aufgezählten Tatbestände erfüllt sind. Die Unterhaltsverpflichtung des Versicherten hat nämlich - nur - wegen des Einkommens der Klägerin aus ihrer Erwerbstätigkeit nicht bestanden; die Klägerin hatte ferner im Zeitpunkt der Ehescheidung ein waisenrentenberechtigtes Kind zu erziehen und war schließlich im Januar 1973 60 Jahre alt.

„Waisenrentenberechtigt" i.S. von § 42 Satz 2 Nr. 2 AVG bedeutet nicht, daß das Kind zur Zeit der Auflösung der Ehe Anspruch auf Waisenrente gehabt haben müßte. Zwar meint der Gesetzgeber, wenn er von einem „Berechtigten“ spricht, in aller Regel eine Person, die alle materiell-rechtlichen Voraussetzungen eines Rechtsanspruchs erfüllt (vgl. z.B. §§ 39, 45, 57 bis 59, 64 bis 66 AVG; BSG 29, 116, 117); so kann der Begriff in § 42 Satz 2 Nr. 2 AVG aber nicht verstanden werden.

§ 42 Satz 2 AVG i.d.F. des RRG fordert in seinen Nrn. 1 bis 3 das Vorliegen mehrerer - kumulativ zu erfüllender - Tatbestände. Diese stellen auf Verhältnisse zu verschiedenen Zeiten ab. Nummer 1 betrifft die „Zeit des Todes“ des Versicherten, Nr. 3 Zeiten nach dessen Tod, Nr. 2 jedoch den Zeitpunkt der Auflösung (Scheidung) der Ehe. In diesem Zeitpunkt hat der Versicherte noch gelebt. Einen Waisenrentenanspruch ohne Tod des Versicherten gibt es aber nicht; dessen Tod ist immer materiell-rechtliche Voraussetzung dieses Anspruchs.

Dies zwingt bereits zu einer Auslegung, die für den Begriff „waisenrentenberechtigt“ i.S. von § 42 Satz 2 Nr. 2 AVG nicht alle materiell-rechtlichen Voraussetzungen des Anspruchs auf Waisenrente fordert. Zwar räumt die Beklagte das ein; sie möchte aber wenigstens am Vorliegen der übrigen Voraussetzungen des Waisenrentenanspruchs zur Zeit der Eheauflösung festhalten. Dem kann der Senat nicht folgen, weil eine solche Auslegung dem Sinn und Zweck der Neugestaltung der Geschiedenen-Witwenrente durch das RRG widerspricht.

Aus den Gesetzesmaterialien ist erkennbar, daß der rentenrechtliche Schutz der geschiedenen Frauen mit dem RRG verbessert und eine Verbindung mit dem neuen Eherecht hergestellt werden sollte (vgl. Vorblatt zum Entw. des RRG und Erläuterung zu Nr. 13 in BT-Drucks., 6. Wahlperiode, VI/2916). Zwar hat der ursprünglich eingebaute Gedanke des Versorgungsausgleichs im RRG keinen Niederschlag gefunden; die Verbindungen zum neuen Eherecht sind aber in anderer Weise gefunden worden. Ein Ausdruck dieser Bestrebungen ist § 42 Satz 2 Nr. 2 AVG; er greift Gedanken auf, die später in den §§ 1570 bis 1572 BGB i.d.F. des 1. Ehereformgesetzes vom 14.06.1976 (BGBl. I 1421 ff.) gesetzlich ausgeprägt worden sind. Wenn § 42 Satz 2 Nr. 2 AVG daher verlangt, daß die geschiedene Frau im Zeitpunkt der Eheauflösung „mindestens ein waisenrentenberechtigtes Kind zu erziehen oder das 45. Lebensjahr vollendet hatte“, so beruht dieses Erfordernis offenbar auf der Vermutung, daß von diesen Frauen meist oder häufig eine Erwerbstätigkeit nicht zu erwarten war; in diesem Falle konnten sie nach dem geplanten neuen Eherecht grundsätzlich vom geschiedenen Mann Unterhalt verlangen. Möglicherweise ist auch daran gedacht, daß sie wegen Nichtausübung einer Erwerbstätigkeit damals keine eigenen Rentenanwartschaften erwerben konnten.

Angesichts dieser Erwägungen des Gesetzgebers kann nicht einleuchten, warum es, wenn die Frau im Zeitpunkt der Scheidung ein Kind erzog, darauf ankommen sollte, ob das Kind damals schon die - seinerzeit erforderlichen - versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des Waisenrentenanspruchs erfüllte. Für die Frage, ob die geschiedene Frau wegen der Kindererziehung eine Erwerbstätigkeit nicht ausüben konnte, ist das ohne Bedeutung. Es ist auch nicht einzusehen, warum die Erfüllung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der Hinterbliebenenrenten für zwei verschiedene Zeitpunkte verlangt wird und es nicht genügen sollte, daß sie im Zeitpunkt des Todes des Versicherten gegeben sind. Schließlich entstünden unvernünftige Ergebnisse, weil ohne verständlichen Grund Frauen benachteiligt würden, die zu einer Zeit geschieden worden sind, als der Versicherte die Wartezeit für eine Hinterbliebenenrente noch nicht zurückgelegt hatte.

Hiernach kann der Begriff „waisenrentenberechtigtes Kind“ in § 42 Satz 2 Nr. 2 AVG nur dahin ausgelegt werden, daß es sich um ein Kind handeln muß, das im Zeitpunkt der Scheidung zum Personenkreis der grundsätzlich waisenrentenberechtigten Kinder im Sinne von § 44 i.V.m. § 39 AVG gehörte; weitere als diese persönlichen Voraussetzungen eines Waisenrentenanspruchs sind nicht zu fordern. Die genannten Voraussetzungen sind hier gegeben.

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