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11 RA 9/73

Gründe I.

Die Beteiligten streiten noch darüber, ob dem Kläger sein Altersruhegeld in voller Höhe in die USA zu zahlen.

Nach den mit der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) war der … in P. geborene Kläger nach vorherigen Tätigkeiten im Gebiet der heutigen Bundesrepublik (BRD) von 1926 bis Dezember 1944 in P. beschäftigt und entrichtete mit Unterbrechungen Beiträge zur dortigen Allgemeinen Pensionsanstalt. Anschließend befand er sich in einem Zwangsarbeitslager. Im Oktober 1945 kam er nach München und war hier von Januar 1946 bis März 1947 versicherungspflichtig tätig. 1951 wanderte er nach den USA aus. Der Kläger war zunächst österreichisch-ungarischer (tschechoslowakischer) Staatsangehöriger; 1939 wurde er Reichsdeutscher und ist seit 1957 Bürger der Vereinigten Staaten. Er ist Verfolgter im Sinne des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG; vom 29. Juni 1956; BGBl. I 559, 562) und Vertriebener im Sinne des § 1 Abs. 1 i.V.m. § 2 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG; vom 3. September 1971; BGBl. I 1565, 1807); er gehört aber nicht zum Personenkreis des § 1 Abs. 2 Nr. 1 dieses Gesetzes.

Die Beklagte gewährte dem Kläger seit dem 1. April 1967 Altersruhegeld, das sie mehrmals, zuletzt mit Bescheid vom 3. Mai 1972, neu berechnete. Sie zahlt ihm das Altersruhegeld jedoch nur insoweit aus, als es auf die im Gebiet der BRD zurückgelegten Versicherungsjahre entfällt. Soweit sich seine Klage gegen diese Zahlungsweise richtet, hätte sie in beiden Vorinstanzen keinen Erfolg. Das LSG meint, die Beklagte habe hier § 97 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) zu Recht angewandt; die Voraussetzungen des § 98 lägen nicht vor. Eine Ermessensleistung nach § 100 AVG komme ebenfalls nicht in Betracht. Der von dieser Vorschrift erfaßte Personenkreis sei zwar durch das Gesetz zur Änderung und Ergänzung der Vorschriften über die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung vom 22. Dezember 1970 (WGSVG; BGBl. I, 1846) zu Gunsten der Verfolgten erweitert worden. Auch diese Neuregelung verschaffe dem Kläger jedoch keinen Anspruch auf die Zahlung einer höheren Rente ins Ausland. § 18 WGSVG erweitere lediglich den Anwendungsbereich des § 100 Abs. 1 AVG auf Verfolgte, die nach dem 8. Mai 1945 und vor dem 1. Januar 1950 das Gebiet des Deutschen Reiches oder Danzig verlassen haben; er finde also auf den Kläger keine Anwendung. § 19 Abs. 1 enthalte eine Vergünstigung, die auf den Kläger nicht zutreffe. Auch auf Abs. 2 dieser Vorschrift könne sich der Kläger nicht berufen. Die insoweit „entsprechende“ Geltung des § 100 Abs. 2 AVG deute darauf hin, daß die dort erwähnte Bezugsvorschrift des § 1 Abs. 2 Nr. 1 BVFG im übrigen auch im Rahmen des § 19 Abs. 2 WGSVG zu beachten sei; d.h., es müsse sich an das Verlassen des Gebietes Böhmen - Mähren der Aufenthalt im Ausland angeschlossen haben. Diese Ansicht werde durch die Gesetzesmaterialien gestützt. Da der Kläger jedoch aus dem ehemaligen Protektorat nicht ins Ausland, sondern nach M. gegangen sei und die BRD erst 1951 verlassen habe, fehle es wegen seines mehrjährigen Aufenthalts in M. an einem ursächlichen Zusammenhang zwischen einen sozialversicherungsrechtlich relevanten Verfolgungstatbestand und dem späteren Auslandsaufenthalt. Die besondere Vergünstigung der §§ 100 Abs. 2 AVG und 19 Abs. 2 WGSVG gebiete eine enge Auslegung. Der Kläger könne deshalb nicht günstiger gestellt werden als Verfolgte, die im ehemaligen Reichsgebiet geblieben und erst nach dem 31. Dezember 1949 ausgewandert seien; auch diesem Personenkreis würden grundsätzlich keine Leistungen aus Fremdrentenzeiten ins Ausland erbrachte.

Mit der zugelassenen Revision beantragt der Kläger (sinngemäß),

  • das Urteil des LSG aufzuheben und die Beklagte in Änderung des sozialgerichtlichen Urteils zu verurteilen, ihm unter Abänderung des Bescheides vom 3. Mai 1972 das Altersruhegeld in voller Höhe in die USA zu zahlen.

Er rügt Verletzung der §§ 18, 19 Abs. 2 WGSVG. § 18 sei verfassungswidrig insoweit, als er Ansprüche der Verfolgten ausschließe, die erst nach dem 1. Januar 1950. ausgewandert sind; dieser Stichtag sei willkürlich gewählt und verletze deshalb den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Grundgesetz (GG). Anknüpfungspunkt der gesetzlichen Wohltat, den Verfolgten die volle Rente ins Ausland zu zahlen, sei bei § 18 aber der auf den Verfolgungsmaßnahmen beruhende Verlust der Heimat. Dieser Sachverhalt liege auch vor, wenn der Verfolgte aus dem Protektorat ausgewandert sei; seine Heimat habe er nicht nur verloren, wenn er in das „außerdeutsche Ausland“, sondern ebenso, wenn er nach Deutschland ausgewandert sei. Auch bei § 19 Abs. 2 könne es deshalb keine Rolle spielen, wohin der Verfolgte auswanderte; es müsse genügen, daß er seine Heimat, hier also das Protektorat verlassen habe.

Die Beklagte beantragt,

  • die Revision zurückzuweisen.

Gründe II.

Die Revision ist nicht begründet.

Soweit das LSG einen Zahlungsanspruch nach anderen Vorschriften als den §§ 18 und 19 Abs. 2 WGSVG verneint hat, wird sein Urteil nicht beanstandet und ist es auch zutreffend. Das LSG hat aber auch die vom Kläger als verletzt gerügten Vorschriften, die die Rentenzahlung in das Ausland frühestens ab Februar 1971 gestatten würden, nicht verletzt.

§ 18 WGSVG stützt den Zahlungsanspruch jedenfalls deshalb nicht, weil die Vorschrift des § 100 Abs. 1 AVG, deren Anwendungsbereich § 18 auf eine weitere Personengruppe erstreckt, keine Zahlung für Beitragszeiten zuläßt, die im früheren Protektorat Böhmen und Mähren bei tschechoslowakischen Versicherungsträgern zurückgelegt und nicht auf die deutsche Reichsversicherung übergegangen sind (SozR Nr. 6 zu § 1321 RVO). Ob der in § 18 WGSVG enthaltene Stichtag des 1. Januar 1950 verfassungswidrig ist, kann deshalb in diesem Zusammenhang dahinstehen.

Im Ergebnis zutreffend hat das LSG auch einen Zahlungsanspruch nach § 19 Abs. 2 WGSVG ausgeschlossen. Dabei kann der Senat allerdings nicht der Ansicht folgen, die in § 19 Abs. 2 erfaßten Personen müßten in der Zeit zwischen dem 8. Mai 1945 und dem 1. Januar 1950 aus den 1938/39 eingegliederten Gebieten einschließlich des ehemaligen Protektorats Böhmen und Mähren unmittelbar in das Ausland gegangen sein. Das kann weder dem Wortlaut des § 19 Abs. 2 noch der Verweisungskette auf den „entsprechend“ anwendbaren § 100 Abs. 2 AVG und die dortige Bezugsvorschrift des § 1 Abs. 2 Nr. 1 BVFG entnommen werden, zumal es fraglich ist, ob es nicht auch bei diesen Verweisungsvorschriften Fälle mit Zwischenaufenthalt im Reichsgebiet in den Grenzen von 1937 gibt. Bei Auslegung des § 19 Abs. 2 WGSVG ist vielmehr zu bedenken, daß in der Zeit nach dem 8. Mai 1945 Verfolgungen in den dort genannten Gebieten fortdauern oder neu beginnen konnten, im Gebiet der heutigen BRD jedoch nun ausgeschlossen waren. Außerdem standen damals einer unmittelbaren Auswanderung von Deutschen in das Ausland zahlreiche Hindernisse entgegen. Aus diesen Gründen können nicht wenige Verfolgte vom Verfolgungsort zunächst in das Gebiet der heutigen BRD gezogen sein. Es wäre nicht gerechtfertigt, sie schlechthin von der Vergünstigung des § 19 Abs. 2 WGSVG auszuschließen.

Die Ausführungen im angefochtenen Urteil lassen indessen darauf schließen, daß das LSG wohl auch einen Zwischenaufenthalt im Gebiet der heutigen BRD dann für unschädlich halten will, wenn der Versicherte noch vor dem 1. Januar 1950 aus diesem Gebiet in das Ausland weiterverzogen ist. Dieser Auffassung tritt der Senat bei. Ihre Richtigkeit ergibt sich aus einer Gesamtbetrachtung der §§ 100 AVG, 18 und 19 WGSVG.

In § 100 AVG wird bei den Rechtsfolgen unterschieden zwischen zwei Gruppen. Bei der ersten sind Rentenzahlungen in das Ausland gestattet aus den nicht nach dem Fremdrentengesetz (FRG) gleichgestellten Zeiten und aus den Beitragszeiten nach § 17 Abs. 1 Buchst. b FRG; es werden also Zahlungen aus Beitragszeiten zugelassen, die nach früheren Vorschriften der reichsgesetzlichen Rentenversicherung zurückgelegt oder auf sie übergegangen sind. Bei der zweiten Gruppe wird diese Zahlungsmöglichkeit auf die nach dem FRG gleichgestellten Zeiten ausgedehnt; diese Gruppe kann also zusätzlich für alle Fremdzeiten nach dem FRG Zahlungen erhalten.

Zur ersten Gruppe gehören Deutsche und frühere deutsche Staatsangehörige i.S. des Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG sowie Personen, die zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 das Deutsche Reich bzw. Danzig verlassen haben, um sich einer politisch bedingten Zwangslage zu entziehen (§ 100 Abs. 5 AVG). Die zweite Gruppe erfaßt vertriebene Verfolgte, die zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 wegen politisch bedingter Gewaltmaßnahmen aus den 1938/39 eingegliederten Gebieten in das Ausland ausgewandert sind.

Die §§ 18 und 19 Abs. 2 WGSVG (auch § 19 Abs. 1) haben diesen Gruppen weitere Personenkreise angegliedert. Nach § 18 gehören zur ersten Gruppe nun auch Verfolgte, die erst nach dem 8. Mai 1945 und vor dem 1. Januar 1950 das Gebiet des Deutschen Reiches (nach dem Stande von 1937) bzw. Danzig verlassen haben. Die zweite Gruppe wird um vertriebene Verfolgte erweitert, die als deutsche Staats- oder Volkszugehörige am 8. Mai 1945 noch in den 1938/39 eingegliederten Gebieten gewohnt und sie erst danach, aber noch vor dem 1. Januar 1950 verlassen haben.

Wenn solche Verfolgte - wie der Kläger - zunächst in das Gebiet der heutigen BRD verzogen und dann erst nach dem 31. Dezember 1949 in das Ausland weiterverzogen sind, so ergäbe sich, wollte man der Ansicht der Revision beitreten, folgendes: Die Verfolgten, die zur ersten Gruppe gehören, müssen bis spätestens 31. Dezember 1949 in das Ausland verzogen sein, um aus den nach früheren Vorschriften der reichsgesetzlichen Rentenversicherung zurückgelegten und auf sie übergegangenen Beitragszeiten Auslandszahlungen erhalten zu können; die Verfolgten aus den 1938/39 eingegliederten Gebieten einschließlich des Protektorats Böhmen und Mähren könnten dagegen ohne Rücksicht auf den Zeitpunkt ihres weiteren Verzuges in das Ausland - also auch bei Weiterverzug nach dem 31. Dezember 1949 - Zahlungen sowohl aus diesen Zeiten als auch darüber hinaus aus allen Fremdzeiten nach dem FRG erhalten.

Eine solche Begünstigung des letztgenannten Personenkreises wäre nicht verständlich. Durch ein unterschiedliches Verfolgtenschicksal kann sie nicht gerechtfertigt sein. Sie würde auch gegen die Grundgedanken verstoßen, die der Stichtagsregelung des § 18 WGSVG zugrunde liegen.

Diese Stichtagsregelung - Verlassen des Deutschen Reiches oder Wegzug „vor dem 1. Januar 1950“ - ist entgegen der Auffassung des Klägers nicht verfassungswidrig; sie verstößt nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) liegt ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz erst dann vor, wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie einleuchtender Grund für eine im Gesetz enthaltene Differenzierung nicht finden läßt, die Differenzierung also durch sachliche Erwägungen nicht gerechtfertigt, sondern willkürlich ist (BVerfG in SozR Nr. 16 zu Art. 14 GG). Schon in der Begründung zum Regierungsentwurf des WGSVG ist aber ausdrücklich darauf hingewiesen worden (vgl. BT-Drucks. 73/70 = BT-Drucks. IV/715 S. 11 zu §§ 15, 16 Satz 2 i.V.m. S. 10 zu §§ 5, 6 Nr. 2), daß die Stichtagsregelung in § 18 WGSVG (1.1.1950) der Tatsache Rechnung trägt, daß die Besatzungsmächte und viele Aufnahmeländer erst geraume Zeit nach Kriegsende die Aus- bzw. Einwanderung in größerem Umfang zugelassen haben; daß sich dieser Stichtag aber auch mit dem Zeitpunkt deckt, bis zu dem das Rentenrecht den Auslandsaufenthalt eines Verfolgten als Ersatzzeit anerkennt (§ 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO), § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG, § 51 Nr. 4 RKG). Daß sich angesichts der erst verhältnismäßig spät einsetzenden Aufnahmebereitschaft des Auslandes hier auch ein späterer Zeitpunkt - nach Auffassung des Klägers etwa der 1. Januar 1951 - als Stichtag hätte wählen lassen, ist entgegen der Auffassung der Revision insoweit ebensowenig ausschlaggebend, wie der Hinweis, daß es sich bei der Ersatzzeitregelung um einen anderen Sachverhalt handelt; denn sachfremd und damit verfassungswidrig könnte die Begrenzung des durch § 18 WGSVG begünstigten Personenkreises eben nur dann sein, wenn sich für die durch den Stichtag entstandene unterschiedliche Regelung schlechterdings keine vernünftige Erklärung finden ließe (BSG 14, 95/98). Das ist - wie schon die Begründung zum Regierungsentwurf des WGSVG zeigt - nicht der Fall. Daß mit jeder Stichtagsregelung im Einzelfall gewisse Härten verbunden sind, muß als unvermeidlich hingenommen werden. Auch das hat das BVerfG bereits entschieden (BVerfG a.a.O.).

Bei Verfolgten, die Deutschland bis zu dem Stichtag - 1. Januar 1950 - nicht verlassen haben, wird mithin die Integration in die deutschstaatliche Gemeinschaft unterstellt. Folgerichtig werden sie bei späterer Auswanderung wie jeder andere Versicherte behandelt. Das muß dann aber auch für Verfolgte i.S. des § 19 Abs. 2 WGSVG gelten, die nach dem 8. Mai 1945 in das Gebiet der Bundesrepublik verzogen sind. Sind sie erst nach dem Jahre 1949 in das Ausland weiterverzogen, können sie keine besonderen Vergünstigen bei Auslandszahlungen mehr beanspruchen. Denn es darf schließlich nicht übersehen werden, daß mit der gesamten Wiedergutmachungsgesetzgebung auch beabsichtigt war, allen aus der Not der Verfolgung heraus ins Ausland verzogenen Personen die Rückkehr nach Deutschland zu ermöglichen; nach 1945 sind deshalb alle geboten erscheinenden Vorkehrungen getroffen worden, um ihnen den Wiederanfang im Bundesgebiet wirtschaftlich zu erleichtern. Wer von dieser ihm gebotenen Rückkehrmöglichkeit Gebrauch gemacht hat, der hat sich damit praktisch in dieselbe Situation versetzt, in der sich die Verfolgten befanden, die in den Jahren der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland geblieben waren. Er muß sich deshalb hinsichtlich des Ruhens von Renten auch wie diese behandeln lassen (vgl. BSG 28, 99). Nichts anderes kann dann aber für jene Verfolgten gelten, die gleich dem Kläger nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ihren Wohnsitz aus einem der dem Deutschen Reich eingegliederten Gebiete in das alte Reichsgebiet verlegt haben.

Nach alledem beanstandet der Kläger das angefochtene Urteil zu Unrecht. Die Revision muß deshalb als unbegründet zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

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