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11 RA 6/73

Aus den Gründen:

Die 1924 geborene Klägerin erhält seit November 1969 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Es ist streitig, ob dabei eine Haftzeit als Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 AVG anzurechnen ist.

Die Klägerin war bis 30.4.1945 in B. als Stenotypistin beim Reichssicherheitsdienst (RSD) beschäftigt, der als selbständige Polizeibehörde des Reiches dem Schutze Hitlers, seiner Regierung und ihrer Gäste diente. Am 13.9.1945 hatte die amerikanische Besatzungsmacht die Klägerin nach einem Verhör ohne Angabe von Gründen in Haft genommen. Die in Lagern in Bayern vollzogene Haft hatte bis zum 17.7.1946 gedauert.

Das SG hat die Beklagte zur Anrechnung der Zeit von Oktober 1945 bis Juli 1946 verurteilt. Das LSG hat die Klage dagegen aus folgenden Gründen abgewiesen (Urt. abgedruckt in Breith. 1973, 207): Die Haftzeit sei keine Kriegsgefangenschaft i.S. des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG gewesen. Dieser Begriff sei entsprechend dem herkömmlichen völkerrechtlichen Verständnis so auszulegen wie in § 24 HkG, dem Vorläufer der Vorschrift. § 1 Abs. 1 HkG verlange die Gefangennahme wegen Zugehörigkeit zu einem militärischen oder militärähnlichen Verband. Nach § 1 Satz 1 der DurchfVO zum HkG (DVO-HkG) gelte als Zugehörigkeit zu einem militärähnlichen Verband der Dienst bei nichtmilitärischen Organisationen und Dienststellen zu Zwecken der Unterstützung der Wehrmacht während des Krieges. Ihren Dienst als Stenotypistin beim RSD habe die Klägerin weder ausschließlich noch überwiegend zu solchen Zwecken geleistet. Daran könne Satz 2 Nr. 8 von § 1 DVO-HkG nichts ändern. Wenn es dort heiße, als Zugehörigkeit zu einem militärähnlichen Verband gelte insbesondere (Nr. 8) der Dienst in der Polizei, werde gleichwohl polizeilicher Dienst „zu Zwecken der Unterstützung der Wehrmacht während des Krieges“ gefordert; dieser Zweck werde nicht unwiderlegbar vermutet. Ob die Bestimmungen des KgfEG den Begriff der Kriegsgefangenschaft in § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG mitbeeinflussen könnten, bleibe dahingestellt; die Klägerin könne nicht nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 dieses Gesetzes einem Kriegsgefangenen gleichgestellt werden. Dafür fehle der ursächliche Zusammenhang des Gewahrsams mit einem Kriegsereignis; sie sei - vielleicht voreilig und grundlos - vorwiegend aus politischen Gründen inhaftiert worden (§ 1 Abs. 2 der 3. DVO zum KgfEG). Die Anrechnung als Internierungszeit i.S. des § 28 Abs. 1 Nr. 2 AVG scheitere daran, daß die Klägerin kein Heimkehrer i.S. des § 1 HkG sei; nach dessen Abs. 1 komme ihr mangels Kriegsgefangenschaft diese Eigenschaft nicht zu; § 1 Abs. 2 HkG sei, auch nach den Behauptungen der Klägerin, schon vom Tatbestand her nicht erfüllt.

Das LSG hat die Revision zugelassen, weil die Auslegung des § 1 Satz 2 DVO-HkG eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung betreffe. Die Revision der Klägerin ist unbegründet.

Das LSG hat im Ergebnis zu Recht eine Kriegsgefangenschaft i.S. des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG verneint. Die Rechtsprechung des BSG hat bereits klargestellt, daß dieser im Gesetz nicht erläuterte Begriff im völkerrechtlichen Sinne zu verstehen ist (SozR Nrn. 25 und 47 zu § 1251 RVO). Kriegsgefangenschaft i.S. des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG ist danach ein Gewahrsam in feindlicher Gewalt wegen der Zugehörigkeit zu einem militärischen oder militärähnlichen Verband. Das LSG hat allerdings offengelassen, ob Kriegsgefangenschaft darüber hinaus noch bei dem Personenkreis des § 2 Abs. 2 KgfEG (Neufassung vom 2.9.1971, BGBl. I 1545) anzuerkennen ist. Das ist zu verneinen. In § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG wird nicht auf das KgfEG bezug genommen; es ist daher nicht zulässig, auch Personen einzubeziehen, die nach § 2 Abs. 2 KgfEG nur „als Kriegsgefangene i.S. dieses Gesetzes - KgfEG - gelten“ (vgl. SozR Nr. 47 zu § 1251 RVO; Koch / Hartmann, Das Angestelltenversicherungsgesetz, § 28 B. I 2 d). Ob die Klägerin die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 (Nr. 1a) KgfEG erfüllt, ist somit unerheblich.

Nicht folgen kann der Senat der Auffassung, daß sich die - eine Kriegsgefangenschaft auslösende - Zugehörigkeit zu einem militärähnlichen Verband nach § 1 DVO-HkG (vom 13.7.1950, BGBl. I 327) bestimmt. Maßgebend ist vielmehr die Abgrenzung des militärähnlichen Dienstes in § 3 BVG. Das folgt aus Entstehung, Zusammenhang und Sinn des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG. Soweit diese Vorschrift die Kriegsgefangenschaft betrifft, hat sie zwar § 24 HkG als Vorläufer; § 24 HkG ist jedoch nicht der einzige Vorläufer (Koch / Hartmann a.a.O. und 2. Aufl., Anm. B 6 zu §§ 31 AVG, 1263 RVO a.F.; VerbKomm., § 1251 RVO, Anm. 1 und 14); im übrigen wurde in § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG für die Kriegsgefangenschaft die Verknüpfung mit der Heimkehrereigenschaft und damit dem HkG bewußt gelöst (Jantz / Zweng, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten S. 93 zu § 1251 RVO; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung S. 674 h). Jetzt enthält § 28 Abs. 1 Nr. 1 nur noch Bezugnahmen auf das BVG; sie beziehen sich im Wortlaut zwar auf die Zeiten des militärischen oder militärähnlichen Dienstes selbst; es wäre aber nicht verständlich, für eine anschließende Kriegsgefangenschaft den sie auslösenden militärischen oder militärähnlichen Dienst nach anderen Vorschriften als den §§ 2 und 3 BVG zu bestimmen. Das widerspräche den mit dem § 1251 RVO, § 28 AVG verfolgten Bestreben, in den Sozialgesetzen (hier: BVG und Rentenversicherungsgesetze) eine Übereinstimmung der Personenkreise und eine Rechtsvereinfachung zu erreichen (Begr. des Regierungsentwurfs, vgl. VerbKomm. 6. Aufl., § 1251 RVO, Anm. 1). Aber auch vom Sinn des § 28 AVG, Ersatz für Beitragsausfall zu gewähren, ist nur eine Auslegung vertretbar, welche die Zugehörigkeit zu militärischen oder militärähnlichen Verbänden gleich versteht, einerlei, ob die Dienstzeit selbst oder die spätere Gefangenschaft als Ersatzzeit in Rede steht.

Hiervon ausgehend kann die Haftzeit der Klägerin keine Kriegsgefangenschaft i.S. des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG sein, weil in § 3 BVG weder der Dienst im RSD noch allgemein der Dienst in der Polizei als militärähnlicher Dienst anerkannt wird. Ob eine Zugehörigkeit zu einem militärähnlichen Verband i.S. des § 1 Satz 2 (Nr. 8) DVO-HkG besteht, ist deshalb nicht zu prüfen. Das gilt auch mit Rücksicht auf Art. 2 § 9 AnVNG; selbst wenn die Haftzeit als Kriegsgefangenschaft i.S. des HkG (§§ 1, 24) zu werten wäre, könnte sie als Ersatzzeit alten Rechts nach Art. 2 § 9 AnVNG nur bei der Wartezeit, nicht aber bei der Rentenberechnung berücksichtigt werden (SozR Nr. 8 zu § 1258 RVO und Nr. 1 zu § 11 VuVO).

Die Haftzeit ist ferner keine Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 2 AVG. Unter diese Vorschrift fallen die Zeiten der Internierung, wenn der Versicherte Heimkehrer i.S. des § 1 HkG ist. Dem Versicherten muß dabei die Heimkehrereigenschaft wegen der Internierung zukommen (SozR Nr. 47 zu § 1251 RVO; Brackmann a.a.O., 675). Deshalb ist hier allein § 1 Abs. 3 HkG maßgebend. Danach gelten als Heimkehrer u.a. Deutsche, die im ursächlichen Zusammenhang mit den Kriegsereignissen außerhalb der Bundesrepublik und des Landes Berlin interniert worden sind (die andere Alternative kommt hier nicht in Betracht). Diese Voraussetzungen sind im Falle der Klägerin nicht erfüllt. Kriegsereignisse i.S. des § 1 Abs. 3 HkG - und desgleichen i.S. des § 2 Abs. 2 Nr. 1 KgfEG - sind nach der ständigen Rechtspr. des BVerwG, die der Senat für zutreffend hält (BVerwG 5, 64, 67; 6, 232; 13, 312, 315; 16, 252, 253; 36, 86, 88), nur Ereignisse, die unmittelbar mit der Kriegsführung zusammenhängen. Dazu rechnen nicht der durch die Besetzung Deutschlands herbeigeführte Zustand und die späteren Maßnahmen der Besatzungsmächte. Das LSG hat kein unmittelbar mit der Kriegsführung zusammenhängendes Ereignis festgestellt, das für die Haftzeit ursächlich gewesen sein könnte. Die Verfahrensrügen der Klägerin lassen keine Verletzung der §§ 103, 128 SGG erkennen; es fehlen Ausführungen, die auf ein die Klägerin betreffendes konkretes Kriegsereignis hindeuten. Davon abgesehen setzt § 1 Abs. 3 HkG Internierungen außerhalb der Bundesrepublik und des Landes Berlin voraus. Diese gebietsmäßige Abgrenzung ist entgegen der Auffassung der Klägerin nicht verfassungswidrig. Das hat bereits der 1. Senat des BSG entschieden (Urteil vom 3.5.1968 - 1 RA 73167), weil es sich bei den Internierungen innerhalb und außerhalb der Bundesrepublik um unterschiedlich regelbare Sachverhalte handele. Im Erlaß des BMA vom 25.7.1958 (BABl. 1958, 417) wird der Ausschluß der Inlandsinternierungen mit dem Bestreben begründet, die Fälle des sog. automatischen Arrestes auszuschließen. Auch dieser Grund rechtfertigt die Differenzierung. Das gilt gerade für den Fall der Klägerin, in dem nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG ebenfalls politische Gründe für die Inhaftierung (Festnahme und Festhaltung) maßgebend gewesen sind. Das LSG war der Überzeugung, daß die Klägerin als hauptamtliche Mitarbeiterin des RSD von der Besatzungsmacht zunächst einmal als politisch belastet angesehen wurde. Mit ihren Inhaftierungen (dem automatischen Arrest) wollte die Besatzungsmacht aber u.a. umfangreiche politische Überprüfungen ermöglichen (BVerwG 9, 102, 104).

Das BSG hat in SozR Nr. 47 zu § 1251 RVO dargelegt, daß § 1251 RVO - und das gilt auch für § 28 AVG - keine Lücke enthält, soweit danach Inlandsinternierungen aus politischen Gründen (Zeiten des automatischen Arrestes) nicht den Ersatzzeiten zugerechnet werden.

Hiernach ist die Revision zurückzuweisen.

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