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L 10 R 5254/05

Tenor

Der Bescheid vom 20. Januar 2006 wird aufgehoben.

Die Beklagte hat auch die außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Berufungsverfahren zu erstatten.

Tatbestand

Umstritten ist noch, ob die Beklagte zu Recht die Bewilligung von Witwenrente für die Vergangenheit teilweise zurückgenommen und die Klägerin zur Erstattung eines überbezahlten Betrages verpflichtet hat.

Die am ... 1934 geborene Klägerin war mit dem am 2. Juni 1998 verstorbenen Versicherten verheiratet. Sie bezieht aus eigener Versicherung seit 1. Januar 1996 eine Rente und war in den Zeiträumen vom 3. November 1996 bis 19. Februar 2000 sowie vom 19. Mai 2000 bis 31. Dezember 2000 bei der Firma A. Dienstleistungen GmbH (Fa. A.) und vom 1. Juli bis 31. Dezember 2002 bei der Firma R. Gebäudereinigung (Fa. R.) geringfügig beschäftigt. Hinsichtlich der von der Klägerin erzielten Einkünfte wird auf die in den Akten der Beklagten enthaltenen Arbeitgeberauskünfte verwiesen.

Auf den Antrag der Klägerin vom 2. Juli 1998, in welchem diese den Bezug von Arbeitsentgelt aus abhängiger Beschäftigung ab Beginn der Rente wegen Todes beziehungsweise im letzten Kalenderjahr davor verneinte, gewährte die Beklagte mit Bescheid vom 7. August 1998 ab 1. Juli 1998 eine große Witwenrente in Höhe von monatlich 547,19 DM.

Nachdem die Beklagte im September 2002 von der Ausübung einer geringfügigen Beschäftigung der Klägerin Kenntnis erlangt und im Jahr 2003 und 2004 Auskünfte der Fa. A. sowie der Fa. R. zu den Einkünften der Klägerin eingeholt und diese angehört hatte, berechnete sie mit Bescheid vom 4. Mai 2004 und Widerspruchsbescheid vom 4. August 2004 die Rente unter Berücksichtigung des Einkommens für die Zeit ab 1. Juli neu, nahm den Rentenbescheid vom 7. August 1998 insoweit zurück und forderte von der Klägerin einen in der Zeit bis 31. Mai 2004 überzahlten Betrag in Höhe von 1.762,56 € zurück. Wegen der Einzelheiten der Berechnung und der Begründung wird auf den Bescheid vom 4. Mai 2004 und den Widerspruchsbescheid vom 4. August 2004 verwiesen.

Deswegen hat die Klägerin am 1. September 2004 Klage beim Sozialgericht Stuttgart (SG) erhoben, das die Bescheide mit Urteil vom 16. November 2005 für die Zeit vom 1. Juli 1998 bis 31. Mai 2004 bei Klageabweisung im Übrigen aufgehoben hat. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die - näher dargelegten - Voraussetzungen des § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) seien zwar erfüllt, doch habe die Beklagte das von ihr auszuübende Ermessen nicht ausgeübt. Weder dem angefochtenen Bescheid, noch dem Widerspruchsbescheid lasse sich eine Ermessensentscheidung entnehmen. Außerdem liege auch kein Fall einer Ermessensreduzierung auf null vor.

Gegen das am 28. November 2005 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 7. Dezember 2005 Berufung eingelegt und angekündigt, „die bisher unterbliebene Ermessensentscheidung nachzuholen“. Mit Bescheid vom 20. Januar 2006 hat sie entschieden, „im Rahmen der gebotenen Ermessensabwägung bei der Frage, mit welcher Wirkung der Bescheid vom 4. Mai 2004 zurückzunehmen“ sei, sei das Interesse der Versichertengemeinschaft an der Rückzahlung höher anzusetzen, als das Einzelinteresse der Klägerin am Fortbestand des Bescheids, da diese zumindest grob fahrlässig den Bezug von Arbeitsentgelt nicht mitgeteilt habe. Besondere Gründe, das eingeräumte Ermessen in anderer Weise auszuüben, seien nach Aktenlage nicht ersichtlich. Daher sei der Bescheid vom 7. August 1998 mit Wirkung vom 1. Juli 1998 zurückzunehmen. Der Rückforderungsbescheid vom 4. Mai 2004 könne somit nicht zurückgenommen werden. Dieser Bescheid werde Gegenstand des Berufungsverfahrens. Ergänzend trägt die Beklagte vor, der Bescheid vom 20. Januar 2004 ersetze den Bescheid vom 4. Mai 2004 nicht, sondern ergänze diesen lediglich um die Ermessenserwägungen. Da sich der ursprüngliche Bescheid nicht nach § 39 Abs. 2 SGB X erledigt habe, sei auch die bei einer Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit zu beachtende Jahresfrist eingehalten.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

  • den Bescheid vom 20. Januar 2006 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt sachdienlich gefasst,

  • die Klage abzuweisen.

Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Beteiligtenvorbringens wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz und die vorgelegten Verwaltungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Gegenstand des Rechtsstreits ist nur noch der Bescheid vom 20. Januar 2006. Dieser ist gemäß § 96 SGG Gegenstand des Rechtsstreits geworden. Denn mit diesem Bescheid hat die Beklagte die Aufhebung der früheren Rentenbewilligung für die Vergangenheit geregelt und - wie noch darzulegen ist - damit den ursprünglich streitbefangenen Bescheid vom 4. Mai 2004 insoweit ersetzt, als er eine (teilweise) Rücknahme für die Vergangenheit enthielt. Im Übrigen - hinsichtlich der (teilweisen) Aufhebung für die Zukunft - ist dieser Bescheid durch Klageabweisung bestandskräftig geworden. Durch diese Ersetzung und in ihrem Umfang ist zugleich das angefochtene Urteil gemäß § 202 SGG in Verbindung mit § 269 Abs. 3 Satz 1 zweiter Halbsatz der Zivilprozessordnung (ZPO) gegenstandslos geworden, sodass der Senat nur noch auf Klage über den Bescheid vom 20. Januar 2006 entscheidet, auf Grund des Einverständnisses der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung.

Die Klage ist begründet.

Der Bescheid vom 4. Mai 2004 und auch der Widerspruchsbescheid vom 4. August 2004 lassen weder erkennen, ob die Beklagte bei der Rücknahme des Bescheides vom 7. August 1998 für die Vergangenheit Ermessen ausübte, noch ob sie sich bewusst war, dass sie diesen Bescheid für die Vergangenheit nur unter Ausübung von Ermessen zurücknehmen durfte, noch gar sind Ermessenserwägungen darin enthalten. Eine Ermessensentscheidung wurde also nicht getroffen. So hat dies im Übrigen auch die Beklagte gesehen, nachdem sie in der Berufungsbegründung angekündigt, „die bisher unterbliebene Ermessensentscheidung nachzuholen“.

Dieser Ermessensnichtgebrauch ist nicht nach § 41 Abs. 2 SGB X heilbar (so auch Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17. Januar 2006, L 29 B 1104/05 AS ER, in Juris). Die Beklagte hat zwar unter dem 20. Januar 2006 das ihr eingeräumte Ermessen ausgeübt, doch handelt es sich dabei nicht um eine nachträgliche Begründung im Sinne v. § 41 Abs. 2 Nr. 2 SGB X für eine im ursprünglichen Bescheid getroffene, aber (noch) nicht (hinreichend) begründete Ermessensentscheidung. Vielmehr handelt es sich um die erstmalige Ausübung von Ermessen, die nur in einem neuen Bescheid, nicht aber durch eine „Ergänzung“ des bisherigen Bescheides erfolgen kann, denn eine Ermessensentscheidung ist gegenüber einer gebundenen Entscheidung, wie sie die Beklagte zunächst getroffen hat, ein aliud (vgl. hierzu Wiesner in von Wulffen, SGB X Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz, 5 Aufl. § 41 Rdnr. 7). Folgerichtig hat die Beklagte auch ihre Entscheidung vom 20. Januar 2006 in Form eines Bescheides getroffen und nicht lediglich die Gründe für eine Ermessensentscheidung nachgeschoben.

Der Bescheid vom 20. Januar 2006 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Beklagte hatte spätestens bei Erlass des Bescheides vom 4. Mai 2004 umfassend Kenntnis von den Einkünften der Klägerin im strittigen Zeitraum. Damit ist bei Erlass des Bescheides vom 20. Januar 2006, mit welchem die Beklagte erstmals Ermessen ausgeübt hat, die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 SGB X nicht eingehalten und auch dieser Bescheid rechtswidrig (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts vom 6. April 2006 B 7a AL 64/05 R) und aufzuheben. Auf die Frage, ob die Ermessenserwägungen der Beklagten einer Überprüfung standhalten, kommt es nicht an.

Der Bescheid vom 20. Januar 2006 ist somit aufzuheben.

Hierauf und auf § 193 SGG beruht die Kostenentscheidung.

Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.

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