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11 RA 68/80

Gründe I.

Streitig ist außerhalb des Leistungsverfahrens, ob Zeiten der Ausbildung zur Opernsängerin Ausfallzeiten sind.

Die 1919 geborene Klägerin ließ sich ab April 1939, zunächst bei Professor K. in B., danach bei Professor Dr. Sch. in M., zur Sängerin in dem Fach „Oper“ ausbilden; im April 1943 legte sie vor einem Prüfungsausschuß der damaligen Reichstheaterkammer die Bühnenreifeprüfung ab und ging wenig später ihr erstes Engagement ein. Bei der Wiederherstellung der Versicherungsunterlagen lehnte die Beklagte es ab, die Ausbildungszeit als Ausfallzeit im Sinne von § 36 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Buchst. b des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) zu berücksichtigen (Bescheid vom 1. Februar, Widerspruchsbescheid vom 7. Juli 1978).

Die Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen, das Landessozialgericht (LSG) hat ihr stattgegeben und im Urteil vom 7. August 1980 ausgeführt: Die Zeiten seien solche einer - abgeschlossenen - Fachschulausbildung, denn die Ausbildung habe sich in einer dem Gesetz entsprechenden Weise vollzogen. Nach der damals geltenden staatlichen „Anordnung Nr. 38 betreffend Nachwuchs des Bühnenberufs“ habe es den Studierenden freigestanden, sich an Fachschulen oder bei Fachlehrern ausbilden zu lassen. Beide Ausbildungswege seien gleichwertig gewesen, weil die Dauer und der Gang der Ausbildung reglementiert und die Lehrinhalte durch den Prüfungsgegenstand vorgegeben gewesen seien. Dementsprechend habe die Klägerin bei verschiedenen Lehrern in B. wöchentlich achtzehn und in M. neunzehn Unterrichtsstunden in den einschlägigen Fächern, einschließlich rhythmischer Gymnastik und Ballett an einer Gymnastikschule, gehabt und zusätzlich vier bis fünf Stunden zu Hause gelernt. Ein Unterschied zu den Konservatorien oder Musikhochschulen habe lediglich darin bestanden, daß ihr als Vertragspartner (Ausbilder) nicht eine schulische Einheit, sondern eine Mehrzahl von Privatpersonen gegenübergestanden habe.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,

  • das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG München vom 22. Mai 1979 zurückzuweisen.

Sie rügt eine Verletzung von § 36 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Buchst. b AVG. Das private Gesangsstudium der Klägerin entspreche quantitativ sowie qualitativ nicht dem Begriff der „Fachschulausbildung“. Zum einen seien im Halbjahr nicht die mindestens erforderlichen 600 Stunden (mehr als 23 Stunden pro Woche) Unterricht erteilt worden, zum anderen habe die Ausbildung nicht an einer personell und organisatorisch einer Musikhochschule oder einem Konservatorium vergleichbaren Einrichtung stattgefunden.

Die Klägerin beantragt,

  • die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

Gründe II.

Die Revision der Beklagten ist mit der Maßgabe begründet, daß das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), denn die tatsächlichen Feststellungen des LSG lassen es nicht zu, daß der erkennende Senat in der Sache abschließend entscheidet. Ob die in Rede stehende Zeit von April 1939 bis April 1943 als Ausfallzeit zu berücksichtigen (vorzumerken) ist, hängt von weiteren Tatsachen ab, die festzustellen dem Revisionsgericht gemäß § 163 SGG nicht erlaubt ist.

Nach § 36 Abs. 1 Satz 1 Buchst. b AVG in der hier anzuwendenden Fassung des Rentenreformgesetzes (RRG) vom 16. Oktober 1972 (BGBl. I 1965) sind Ausfallzeiten auch Zeiten einer abgeschlossenen Fachschulausbildung bis zur Höchstdauer von vier Lehren. Der Begriff der Fachschule ist im Gesetz nicht erläutert. Dem Zweck der Ausfallzeitregelung nach kann als solche nur eine Bildungseinrichtung verstanden werden, die die Arbeitskraft des Auszubildenden zumindest überwiegend in Anspruch nimmt (BSG, Urteil vom 4. Februar 1965, DRV 1965, 183; Urteil vom 15. März 1978, SozSich 1978, 252; Urteil vom 16. Dezember 1980 - 11 RA 66/79 -, zur Veröffentlichung bestimmt). Eine solche Inanspruchnahme ist nach den getroffenen Feststellungen hier zu bejahen. Die Klägerin hatte in der fraglichen Zeit achtzehn bzw. neunzehn Stunden in der Woche Unterricht; hinzu kamen vier bis fünf Stunden (nach dem Gesamtzusammenhang der Ausführungen des LSG: arbeitstäglich), die dem häuslichen Lernen und Üben gewidmet waren. Danach umfaßte die Ausbildung einschließlich Vorbereiten bzw. Nacharbeiten des Lernstoffes wöchentlich mindestens 38 Stunden (bei einer Fünftagewoche) und damit in jedem Falle mehr als die Hälfte auch der damals üblichen Arbeitszeit. Daß die Klägerin während der Ausbildung einer - anderen - beruflichen Beschäftigung nachgegangen sei, ist im übrigen weder festgestellt noch von der Beklagten vorgetragen worden.

Soweit die Beklagte für die „Fachschulausbildung“ im Sinne von § 36 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Buchst. b AVG den Besuch einer berufsbildenden Schule mindestens im Umfang von 600 Stunden im Halbjahr bzw. von mindestens 23 Stunden in der Woche ohne Berücksichtigung häuslicher Vor- und Nachbereitungszeiten fordert, ist ihr nicht zu folgen. Auf die Entscheidung des Senats vom 16. November 1972 (BSGE 35, 52 = SozR Nr. 49 zu § 1259 RVO) kann sie sich dafür mit Erfolg nicht berufen. Wie der Senat mittlerweile am 16. Dezember 1980 (in dem oben schon aufgeführten Urteil 11 RA 66/79) dargelegt hat, kommt der aus dem amtlichen Fachschulverzeichnis „Die berufsbildenden Schulen in der Bundesrepublik Deutschland“ entnommenen Zahl von 600 Unterrichtsstunden nicht etwa allgemein die Bedeutung einer verbindlichen Untergrenze für den Begriff des Vollzeitunterrichts (an einer berufsbildenden Vollzeitschule = Fachschule) zu, abgesehen davon, daß in BSGE 35, 52, 53 der Fachschulbegriff nur „im wesentlichen“ in der im Fachschulverzeichnis verstandenen Weise ausgelegt ist. Wesentlich ist in diesem Zusammenhang aber nur das Kennzeichen des Vollzeitunterrichts, nicht eine - für anders gelagerte Sondertatbestände geschaffene - 600-Stundengrenze (BSG, Urteil vom 16. Dezember 1980 a.a.O.).

Schließt hiernach rein quantitativ eine geringere Anzahl von Unterrichtsstunden im Halbjahr als 600 die Annahme nicht aus, daß die Klägerin in B. und M. eine Fachschulausbildung im Sinne von § 36 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Buchst. b AVG genossen hat, so erfordert der Begriff indessen noch mehr. Es muß sich nämlich um Ausbildung im Rahmen einer Einrichtung handeln, die sich, wenn auch nur im weitgefaßten Sinn, überhaupt als (Fach-)Schule ansprechen läßt (SozR 2200 § 1259 Nr. 25; BSG, Urteil vom 16. Dezember 1980 a.a.O.).

Für die Fachschulqualifikation ist nun, wie der Senat a.a.O. im einzelnen dargelegt hat, substantielles Merkmal zwar nicht die Befugnis, selbst die für eine Ausbildung vorgeschriebene Abschlußprüfung abzunehmen oder die Befähigung, auf eine ausschließlich staatliche bzw. staatlich anerkannte Prüfung hinzuführen; auch ist es, weil der Begriff der Fachschule sich nicht allein auf öffentliche Schulen bezieht, die als Anstalten oder Körperschaften verfaßt sind, nicht erforderlich, daß eine eigene Schulverwaltung und ein von ihr geführter hierarchisch aufgebauter Lehrkörper bestehen. Von den Vorstellungen des Gesetzes her spricht vielmehr nichts dagegen, auch Privatschulen kleinen Umfanges mit speziellen Ausbildungszielen, die von der Hauptlehrkraft als persönlichem Inhaber im wesentlichen allein getragen werden, zu den berufsbildenden Fachschulen, wie sie § 36 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Buchst. b AVG versteht, zu zählen. Als unverzichtbare Voraussetzung für eine Ausbildung an einer solchen Fachschule ist jedoch zu fordern, daß die Ausbildung (der Unterricht) von der Lehrkraft (den Lehrkräften) inhaltlich dergestalt koordiniert ist, daß jederzeit sich der Unterricht bei jedem Schüler als Teil einer einheitlichen Ausbildungskonzeption erweist. Das wiederum macht zwar nicht eine Ausbildung an ein und demselben Institut notwendig. Ein Wechsel, wie er an weiterführenden allgemeinbildenden Schulen erfolgt und an Hochschulen im Rahmen eines normalen Studienganges stattfindet, steht der Qualifizierung einer Ausbildung als Fachschulausbildung nicht entgegen. Um die Grenze ziehen zu können zu dem von der Norm nicht erfaßten Privatunterricht einzelner Schüler außerhalb einer „Fachschule“ auch im weitest gefaßten Sinn (SozR 2200 § 1259 Nr. 29), gehören grundsätzlich unabdingbar zum Erscheinungsbild einer Schule und damit einer privaten Fachschule jedoch der mündliche Unterricht und ein räumliches Beisammensein von Lehrern und einer Mehrzahl von Schülern während dieses Unterrichts; dabei sind die Schüler nach Maßgabe eines vorher festgelegten Lehr- und Stundenplanes, durch den die Ausbildung in den einzelnen Fächern koordiniert wird, zu unterrichten; zur Feststellung des Erreichens der Unterrichtsziele sind ihre Leistungen durch den Lehrer laufend zu kontrollieren (SozR Nr. 33 zu § 1267 RVO; Urteil vom 16. Dezember 1980 a.a.O.).

Ob die Ausbildung der Klägerin zur Opernsängerin in B. und M. diesen Erfordernissen entsprach, vermag hier der Senat nach dem Sachverhalt nicht zu erkennen. Weder hat das LSG festgestellt, unter welchen räumlichen Bedingungen der Unterricht „bei Professor K.“ und „bei Professor Dr. Sch.“ sich abspielte oder anders gesagt, ob die Klägerin nur im betreffenden Haus dieser Lehrer allein oder noch anderswo unterrichtet wurde, ob die im Urteil des LSG namentlich aufgeführten weiteren Lehrer für das Institut Professor K. bzw. Professor Dr. Sch. oder aber für eigene Rechnung tätig wurden, noch ist aus der Entscheidung zu entnehmen, in welcher Weise die Klägerin in den einzelnen Fächern unterrichtet worden ist, d.h. ob sie in bestimmten oder gar in allen Fächern mit dem betreffenden Lehrer allein oder mit mehreren anderen Schülern, womöglich in Klassen, zusammengefaßt gewesen ist und wie die Ausbildung von der Unterrichtsform sowie vom Unterrichtsergebnis und -erfolg her im einzelnen ausgestaltet war. Die hierfür erforderlichen Tatsachen wird das LSG noch festzustellen haben. Erst danach läßt sich entscheiden, ob die Ausbildung der Klägerin zur Opernsängern als eine Zeit qualifiziert werden kann, die, bis zu der im Gesetz festgelegten zeitlichen Grenze von vier Jahren, als abgeschlossene Fachschulausbildung eine Ausfallzeit im Sinne von § 36 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Buchst. b AVG darstellt.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

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