11 RA 49/79
Gründe I.
Streitig ist, ob die Beklagte gemäß § 11 Abs. 2 der Versicherungsunterlagenverordnung (VuVO) für nach dem Fremdrentengesetz (FRG) anrechenbare Zeiten Versicherungsunterlagen herstellen muß.
Der 1932 geborene Kläger war seit 1952 bei dem VEB ... beschäftigt. Im Auftrag dieses Unternehmens und aufgrund seines Arbeitsvertrages übernahm er bis auf Widerruf ab 1. Oktober 1965 die Funktion eines Gruppenleiters für den Vertrieb von Meß- und Mikrogeräten in der Fa. ... England in I.; er übte diese Tätigkeit bis zum 12. Februar 1973 aus. Er war verpflichtet, mit der Gemischten Gesellschaft ... London einen Arbeitsvertrag abzuschließen und erhielt seine Weisungen vom geschäftsführenden deutschen Direktor dieser Gesellschaft. Für die Zeit der Tätigkeit in England entrichtete der VEB für den Kläger Beiträge zur Sozialversicherung der DDR, für die Zeit ab 15. Mai 1966 auch die Gemischte Gesellschaft solche zur britischen Sozialversicherung; letzteres erklärt der Kläger damit, daß er nach englischer Auffassung nicht zeitweiliger Delegierter, sondern Angestellter einer englischen Firma mit allen sich daraus ergebenden Rechten und Pflichten gewesen sei.
Seit Februar 1973 lebt der Kläger in der Bundesrepublik Deutschland. Auf seinen Antrag, ihm die in der DDR zurückgelegten Beitragszeiten vorzumerken, stellte die Beklagte Beitragszeiten nur vom 1. September 1952 bis 30. September 1965 fest.
Auf die nach erfolglosem Widerspruch erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) die Beklagte zur Anerkennung der Folgezeiten dem Grunde nach verurteilt. Das Landessozialgericht (LSG) hingegen hat auf die Berufung der Beklagten die Klage abgewiesen: In den streitigen Zeiten habe der Kläger keine Beitragszeiten i.S. des § 15 FRG i.V.m. § 17 Abs. 1 Buchst. a FRG zurückgelegt. Dazu genüge nicht die Abführung von Beiträgen an einen Versicherungsträger der DDR. Gemäß den in BSGE 17, 231, 233 f. entwickelten Grundsätzen sei vielmehr zusätzlich ein territorialer Bezug der Versicherungszeiten zur DDR zu fordern. Daran fehle es hier. Die streitigen Beitragszeiten seien nicht „in“ der DDR zurückgelegt, weil sie nicht entsprechend § 102 Abs. 1 Satz 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) auf einer Beschäftigung in der DDR beruhten. Die Beschäftigung in England könne auch nicht in Anwendung der sog. Ausstrahlungstheorie einer in der DDR ausgeübten gleichgeachtet werden. Weder aus dem Arbeitsvertrag mit dem VEB noch aus der Eigenart der Beschäftigung habe sich eine zeitliche Begrenzung ergeben. Zudem sei Arbeitgeber des Kläger die rechtlich selbständige Londoner Gesellschaft gewesen; daß das Arbeitsverhältnis zum Unternehmen in der DDR habe fortbestehen sollen, sei unerheblich.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision macht der Kläger geltend, das Londoner Unternehmen sei eine bloße Vertriebsgesellschaft und seine Gründung nur deswegen erforderlich gewesen, weil der VEB ... nicht offiziell in England habe auftreten können. Ebenso wie der Direktor dieser Gesellschaft habe er einem unmittelbaren Weisungsrecht des DDR-Betriebes unterlegen; zum Abschluß des vorgesehenen Arbeitsvertrages mit der Londoner Firma sei es auch nicht gekommen. Nach den übernommenen Verpflichtungen habe die Tätigkeit in London nur vorübergehend sein und eine unselbständige Fortsetzung der im inländischen Betrieb darstellen sollen.
Der Kläger beantragt,
- das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
- die Revision zurückzuweisen.
Gründe II.
Die Revision des Klägers ist begründet.
Nach § 11 Abs. 2 VuVO sind auf Antrag des Versicherten (Beschäftigten) Versicherungsunterlagen für Zeiten herzustellen, die nach dem FRG anrechenbar sind. Hiernach hat der Kläger einen Herstellungsanspruch für die streitigen Zeiten, nicht, wie vom SG ausgesprochen, ein Recht auf Anerkennung dem Grunde nach.
Die Zeit vom 1. Oktober 1965 bis zum 12. Februar 1973 ist nach dem FRG anrechenbar. § 17 Abs. 1 Buchst. a FRG läßt bei Personen, die - wie der Kläger - nicht zu dem Personenkreis des § 1 Buchst. a bis d gehören, § 15 auch Anwendung finden, wenn „Beiträge an einen außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes befindlichen deutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherungen entrichtet sind“. Das trifft auf die Beiträge zu, die der VEB ... in der streitigen Zeit für den Kläger zur Sozialversicherung der DDR entrichtet hat. Nach dem somit anwendbaren § 15 Abs. 1 Satz 1 FRG stehen „Beitragszeiten, die nach dem 30. Juni 1945 bei einem außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes befindlichen deutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherungen zurückgelegt sind“, den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleich. Die Beiträge haben Beitragszeiten begründet, die bei einem solchen Versicherungsträger nach dem genannten Datum zurückgelegt worden sind. Mithin handelt es sich um eine nach dem FRG anrechenbare Zeit.
Der Auffassung des LSG, daß die Anrechenbarkeit der Beitragszeiten gleichwohl an einem fehlenden territorialen Bezug zum Gebiet der DDR scheitern müsse, vermag der Senat nicht zu folgen. Das LSG stützt sich auf das Urteil des 4. Senates des Bundessozialgerichts (BSG) vom 9. August 1962 (BSGE 17, 231), das Zeiten (Beitragszeiten) nach der Abwanderung aus der DDR nicht für anrechenbar erklärte, auch wenn für sie im voraus noch freiwillige Beiträge an den Versicherungsträger der DDR gezahlt worden sind. Die Entscheidung verlangt für die Anrechnung von Beitragszeiten nach § 15 FRG allgemein neben der Beitragszahlung an den fremden Versicherungsträger ein zusätzliches Kriterium, um die ersatzweise Haftung der bundesdeutschen Rentenversicherung zu rechtfertigen; hierzu wird der territoriale Bezug, d.h. eine besondere räumliche Bezogenheit des Beitrages oder ein irgendwie gearteter Zusammenhang des Versicherungsverhältnisses mit dem Zonengebiet (DDR) gefordert; nicht jeder von irgendeinem Teil der Erde an den Versicherungsträger der DDR bewirkte Beitrag verdiene Beachtung, vielmehr nur der, der eine „in“ der DDR zurückgelegte Versicherungszeit belege. Begründet wird diese Auffassung mit Stellungnahmen aus der Entstehungsgeschichte des FRG (FANG) und vor allem mit einem Rückgriff auf § 1323 der Reichsversicherungsordnung - RVO - (= § 102 AVG), der Regelungen für eine artverwandte Situation bei gleicher Interessenlage treffe; seine Grundgedanken seien wegen des sich ähnelnden Normcharakters auf § 15 FRG zu übertragen. Beitragszeiten seien daher bei einem außerhalb des Geltungsbereichs des FRG befindlichen deutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung nur dann zurückgelegt, wenn sie a) auf einer Beitragsleistung für eine Beschäftigung in diesem Gebiet beruhen oder b) wenn die - freiwilligen - Beiträge für eine Zeit entrichtet sind, während der der Versicherte in diesem Gebiet wohnte.
Der erkennende Senat schließt sich dieser einschränkenden Auslegung des § 15 FRG nicht an. Eine dahingehende Absicht des Gesetzgebers hat im Gesetz nicht einen „nur unvollkommenen“, sondern keinen Ausdruck gefunden. Nach der Ansicht des erkennenden Senats vermögen auch die in BSGE 17, 234 wiedergegebenen Gesetzesmaterialien nicht einen Willen des Gesetzgebers zur einschränkenden Auslegung des § 15 FRG in dem aufgezeigten Sinne zu belegen, zumal § 15 FRG Beitragszeiten bei fremden Versicherungsträgern schlechthin und nicht nur solche bei Versicherungsträgern der DDR betrifft. Des weiteren erscheint in diesem Zusammenhang der Rückgriff auf § 1323 RVO (§ 102 AVG) unzulässig. Diese Vorschrift befindet sich in einem Gesetzesabschnitt über die Zahlung von Leistungen bei Aufenthalt außerhalb des Geltungsbereichs des AVG. Dort wird die Zahlung (u.a.) davon abhängig gemacht, ob und inwieweit Versicherungsjahre, insbesondere Beitragszeiten „im Geltungsbereich des Gesetzes“ zurückgelegt sind (vgl. §§ 97, 98 AVG); vorausgesetzt wird dabei stets die Anrechenbarkeit nach den bundesdeutschen Gesetzen einschließlich des AVG oder des FRG. Die Vorschrift regelt damit nicht, wie § 15 FRG, die Anrechenbarkeit von Beiträgen. Sie gibt keinen Anhalt dafür, daß der Gesetzgeber fremde Beitragszeiten in § 15 FRG nur in dem Maße anrechnen wolle, wie er Leistungen aus Beitragszeiten - einschließlich der gleichgestellten fremden - in das Ausland zuläßt.
Im übrigen wäre die Heranziehung des § 1323 RVO (§ 102 AVG) auch kein geeignetes Mittel, um eine Anrechnung von aus irgendwelchen Teilen der Erde an den Versicherungsträger des Herkunftslandes (der DDR) entrichteten Beiträgen zu verhindern; die Vorschrift stellt nämlich in ihrem Abs. 2 die aus dem Ausland durchgeführte freiwillige Versicherung einer freiwilligen Versicherung im Geltungsbereich des Gesetzes gleich. Die einschränkende Auslegung des § 15 FRG wurde sich daher wesentlich auf die Fälle auswirken, in denen während einer Beschäftigung außerhalb des Herkunftslandes Pflichtbeiträge an den Versicherungsträger des Herkunftslandes entrichtet sind. So begründete Beitragszeiten von der Anrechnung nach § 15 FRG auszunehmen, erscheint nicht gerechtfertigt. Sie widerspräche dem Ziel der Vorschrift, den Versicherten für den Verlust von Beitragszeiten zu entschädigen, die er bei Versicherungsträgern des Herkunftslandes zurückgelegt hat; sie widerspräche ferner ihrem Grundgedanken, nicht darauf abzustellen, ob die Beiträge auf der Grundlage bundesdeutschen Rechtes hätten entrichtet werden dürfen. Deshalb kann auch die Anrechnung solcher Beiträge nicht nach Grundsätzen der in der Bundesrepublik geltenden Ausstrahlungstheorie beurteilt werden.
Daß im vorliegenden Falle für den Kläger in der Zeit ab dem 15. Mai 1966 außerdem Beiträge zum britischen Versicherungsträger entrichtet worden sind, kann für die Auslegung des § 15 FRG i.V.m. § 17 Abs. 1 Buchst. a FRG keine Rolle spielen; insoweit kommt es nur auf die bei dem Versicherungsträger der DDR zurückgelegten Beitragszeiten an. Die britischen Beiträge stehen ferner nicht der Verpflichtung der Beklagten zur Herstellung von Versicherungsunterlagen nach § 11 Abs. 2 VuVO für die aufgrund der DDR-Beiträge anrechenbaren Beitragszeiten entgegen. Diese stehen gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 FRG den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleich; die zeitliche Konkurrenz mit den britischen Beiträgen wird erst im Leistungsfall bedeutsam (vgl. Art. 15, 46 EWG-VO Nr. 574/72).
Die hier vertretene Auffassung zur Auslegung des § 15 FRG zwingt den Senat nicht, wegen Abweichung von dem Urteil des 4. Senats vom 9. August 1962 (BSGE 17, 231) den Großen Senat des BSG nach § 42 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) anzurufen. Diese Pflicht bestünde nur, wenn vom Standpunkt des erkennenden Senats der 4. Senat in der ihm vorgelegenen Sache eine andere Entscheidung hätte treffen müssen. Das ist nicht der Fall. In seinem Urteil hatte der 4. Senat (a.a.O. S. 235) ergänzend darauf hingewiesen, daß die dortige Klägerin vom Tage ihres Zuzugs in die Bundesrepublik in das hiesige Rechtsgefüge eingegliedert und daß damit die Aufgabe des Fremdrentenrechts erfüllt war; danach habe kein Anlaß mehr bestanden, die tatsächlich erst nach der Abwanderung liegenden Beitragszeiten aufgrund der im voraus geleisteten Beiträge zur sowjetzonalen Sozialversicherungsanstalt „wie“ im Bundesgebiet zurückgelegte Beitragszeiten zu behandeln. Diesem Gedanken, der grundsätzlich in dem Zeitpunkt des Zuzugs das Schlußdatum für die Anwendung des Fremdrentenrechts sieht, folgt der erkennende Senat; maßgeblich mit auf ihn ist auch die zu den Hinterbliebenenrechten nach dem FRG ergangene Entscheidung des Großen Senats des BSG vom 6. Dezember 1979 (GS 1/79 - SozR 5050 § 15, vgl. insbesondere Bl. 48 oben) gestützt. Im übrigen gehören die Ausführungen zum territorialen Bezug von Pflichtbeitragszeiten auch nicht zu den tragenden Gründen des Urteils des 4. Senats, so daß eine räumliche Beziehung der Beiträge zum Gebiet der DDR hier hilfsweise damit begründet werden könnte, daß sie vom Arbeitgeber in der DDR aufgrund eines zu ihm fortbestehenden Arbeitsverhältnisse geleistet worden sind; für diese „räumliche Beziehung“ könnte wiederum nicht die bundesdeutsche Ausstrahlungstheorie Richtschnur sein.
Nach alledem war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten zurückzuweisen, wobei das Urteil des SG in seiner Ziffer 2) neu zu fassen war (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.