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12 RK 19/78

Aus den Gründen

Die beklagte LVA stellte mit Besch. vom 7.11.1972 fest, daß der Kläger ab 1.3.1963 nicht mehr der VersPflicht nach dem HwVG unterlegen habe. Gleichzeitig wurde angefragt, ob die (nach dem 1.3.1963 entrichteten) Beiträge als freiwillige Beiträge angerechnet oder zurückgezahlt werden sollten.

Der Kläger erklärte daraufhin, daß die genannten Beiträge freiwillige Beiträge sein sollten und eine Rückzahlung nicht in Betracht komme. Später bestand der Kläger dann jedoch auf der Anrechnung der ab 1.3.1963 entrichteten (Pflicht-)Beiträge als Pflichtbeiträge. Die Beklagte erläuterte in einer Antwort vom 8.2.1974 noch einmal den Wegfall der VersPflicht und wies erneut darauf hin, daß die vor dem 1.3.1963 entrichteten Beiträge nur als freiwillige Beiträge angerechnet werden könnten. Der Widerspruch wurde von der Beklagten mit eingehender sachlicher Begründung zurückgewiesen, Klage und Berufung blieben ohne Erfolg. Das LSG hat die Auffassung vertreten, der Besch. vom 7.11.1972 sei bindend geworden. Durch ihn sei rechtsverbindlich eine Beanstandung der hier streitigen Pflichtbeiträge erfolgt.

Die Revision führt zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG. Sie ist nicht schon deshalb unbegründet, weil die Klage wegen Versäumung der Widerspruchsfrist unzulässig war oder die Bindungswirkung des Besch. vom 7.11.1972 einer dem Kläger günstigen Entsch. entgegenstand.

Der Widerspruch des Klägers richtete sich seinem Wortlaut nach zwar nur gegen die Erläuterungen im Schreiben vom 8.2.1974. Insoweit wäre der Widerspruch allerdings unzulässig, weil das Schreiben vom 8.2.1974 keinen VerwAkt darstellt, sondern lediglich einen früheren VerwAkt erläutert. Aus dem sachlichen Inhalt des Widerspruchs ergibt sich indes deutlich, daß sich der Kläger nicht nur gegen diese Erläuterungen wenden wollte, sondern gegen die in dem Besch. vom 7.11.1972 enthaltene Beitragsbeanstandung. Daß er dabei die ihm als Laien nächstliegende letzte (erläuternde) Äußerung der Beklagten als Gegenstand der Anfechtung bezeichnet hat, ist unschädlich, da das Ziel des Widerspruches unabhängig davon deutlich zum Ausdruck kommt. Ebensowenig schadet es, daß die Beklagte sich in ihrem Widerspruchsbescheid ebenfalls nur auf das Schreiben vom 8.2.1974 bezogen und dieses fälschlich als anfechtbaren VerwAkt angesehen hat. Entscheidend ist, daß auch die Widerspruchsstelle sich in ihrer Entsch. nicht auf diese Erläuterungen beschränkt, sondern vollinhaltlich über die mit Besch. vom 7.11.1972 getroffene Regelung erneut befunden hat. Es handelt sich also um einen Widerspruchsbesch., in dem ungeachtet der Tatsache, daß inzwischen die Anfechtungsfrist für den VerwAkt vom 7.11.1972 abgelaufen war, sachlich über den gegen diesen Besch. eingelegten Widerspruch entschieden worden ist.

Diese - unter Nichtbeachtung des Ablaufs der Anfechtungsfrist getroffene - Entsch. hat zur Folge, daß die Klage zulässig ist und auch eine Bindungswirkung der früheren Entsch. einer abweichenden Entsch. in der Sache nicht entgegensteht.

Die Einhaltung der Widerspruchsfrist ist nämlich, wie das BVerwG in ständiger Rechtspr. (BVerwGE 15, 306, 310; 28, 305, 308; DVBl. 1964, 190; 1965, 89; 1972, 423; 1979, 819) und ihm folgend der 11. Sen. des BSG (SozR 1500 § 87 Nr. 5) entschieden haben, keine Voraussetzung für die Zulässigkeit der Klage. Dieser Auffassung schließt sich der Sen. an.

Das BVerwG hat in diesen Entsch. (vor allem DVBl. 1965, 89, 90 f.) ferner zum Ausdruck gebracht, daß einer gerichtlichen Nachprüfung in der Sache die Bindungswirkung des früheren Besch. nicht entgegensteht, wenn die Behörde über den verspätet eingelegten Widerspruch sachlich entschieden hat. Diese Auffassung wird damit begründet, daß außerhalb der streng formalisierten Vorschriften des Prozeßrechts eine Rechtsbehelfsfrist nur dazu diene, die Behörde bei Versäumung der Frist von der Verpflichtung zu befreien, den VerwAkt aufgrund eines Widerspruchs sachlich zu überprüfen. Die Sachherrschaft der Behörde, d.h. ihr freies Ermessen über den Widerspruch sachlich zu entscheiden, werde durch die Versäumung der Einspruchsfrist hingegen nicht berührt. Für den Bereich des Sozialrechts ist diese Frage bisher noch nicht entschieden worden. Der 11. Sen. des BSG hat sie in dem oben zitierten Urt. offengelassen. Sie kann jedoch im Sozialrecht nicht anders beantwortet werden; denn die vom BVerwG angeführten Gründe gelten auch hier. Bejaht man aber in Fällen der vorliegenden Art die Zulässigkeit der Klage, dann kann auch nicht mehr von einer materiellen Bindungswirkung des angefochtenen Besch. ausgegangen werden. Mit materieller Rechtskraft wird grundsätzlich die Auswirkung einer unanfechtbar gewordenen Entsch. im Rahmen eines anderen Verfahrens, jedenfalls außerhalb des die Entsch. unmittelbar betreffenden Verfahrens, bezeichnet (vgl. Baumbach / Lauterbach / Albers / Hartmann, ZPO, 37. Aufl., Einführung vor § 322 Anm. 1 B; Eyer-mann / Fröhler, VwGO, 7. Aufl., § 121 Anm. 4). Soweit VerwAkten eine materielle Bindungswirkung zukommt, könnte die Folgerung keine andere sein (vgl. Wolff / Bachof, VerwRecht I, 9. Aufl., § 52 II b; Wallerath DÖV 1970, 653, 656). Für das eine bestimmte Entsch. unmittelbar betreffende Verfahren ist allein die formelle Bindungswirkung oder Rechtskraft zu prüfen, d.h. im vorliegenden Falle die Anfechtbarkeit. Hierdurch wird bestimmt, ob eine Kontrollinstanz sich erneut mit dem VerwAkt befassen kann oder muß. Bejaht man dies, so kann auch eine materielle Bindungswirkung nicht bestehen. Im übrigen liegt in der Auffassung, daß die Versäumung der Widerspruchsfrist die Klage nicht unzulässig macht, nur dann ein Sinn, wenn sich das Gericht aufgrund dieser Klage inhaltlich mit dem VerwAkt befassen kann. Könnte es dies nicht, so müßte die Klage regelmäßig aus einem anderen Grunde, nämlich wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses, als unzulässig abgewiesen werden (vgl. Eyermann / Fröhler, a.a.O., § 70 Anm. 5a). Die Kritik an der Auffassung des BVerwG (vgl. z.B. Buri, DÖV 1964, 299, Menger, Verw-Arch. 1965, 288; Bettermann JZ 65, 265; von Mutius, Das Widerspruchsverfahren der VwGO als VerwVerfahren und Prozeßvoraussetzung, 1969, S. 187 ff. insbesondere 196 ff.; Wallerath, DÖV 1970, 653) setzt dementsprechend auch nicht daran an, daß das BVerwG gleichzeitig eine Bindungswirkung in der Sache verneint hat, sondern an der Ausgangsüberlegung, daß die Einhaltung der Widerspruchsfrist keine Zulässigkeitsvoraussetzung für die Klage sei, wenn über den Widerspruch sachlich entschieden worden sei.

Der Verneinung einer (materiellen) Bindung des verspätet angefochtenen VerwAktes für die Fälle, in denen die Widerspruchsstelle sachlich entschieden hat, steht für den Bereich des Sozialrechts auch § 77 SGG nicht entgegen. Die Wortfassung des § 77 SGG spricht allerdings zunächst dafür, daß für die den SG zugewiesenen Rechtsgebiete die vom BVerwG in seiner Rechtspr. entwickelten Grundsätze des allgemeinen VerwRechts über die „Sachherrschaft der Behörde“ nicht gelten, daß insbesondere die vom BVerwG angenommene Befugnis zur Widerspruchsentsch. auch auf verspäteten Widerspruch nicht gilt. Einer solchen, allein an der Wortfassung orientierten Auslegung vermag der Sen aber nicht zu folgen. Das Sozialrecht weist keine Besonderheiten auf, die eine stärkere Bindung der Verwaltung auch zu Lasten des Bürgers erforderlich machen könnten (zu der Geltung der Grundsätze des allgemeinen VerwRechts siehe BSGE 18, 22, 28 = SozR Nr. 35 zu § 77 SGG). Soweit es um Leistungen geht, hat das Gesetz hier sogar - stärker als im allgemeinen VerwRecht - eine weitgehende Verpflichtung zur Korrektur fehlerhafter belastender Verw-Akte vorgesehen (siehe z.B. §§ 1300 und 627 RVO).

Diese Auslegung wird durch die Entstehungsgeschichte des § 77 SGG gestützt. Die amtliche Begründung (BT-Drucks. I/4357 zu § 26) bezieht sich nur auf den Bestandsschutz begünstigender Verw. Akte, vor allem der Leistungsbesch., denen (allerdings auch im Interesse der leistungspflichtigen Behörden) eine materielle Bindung zukommen soll. Im übrigen ist im Rahmen der zur Zeit laufenden Novellierungsbestrebungen für die verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorgeschlagen worden, den § 77 SGG nicht in die neue einheitliche Prozeßordnung zu übernehmen (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, § 77 Anm. 1).

Es kann also auch für das Sozialrecht in dem hier interessierenden Bereich davon ausgegangen werden, daß § 77 SGG die „Sachherrschaft der Behörde“, insbesondere der Widerspruchsstelle nicht stärker einschränkt, als dies im allgemeinen VerwRecht der Fall ist. Dementsprechend ist, nachdem die Widerspruchsstelle der Beklagten über den vom Kläger verspätet eingelegten Widerspruch sachlich entschieden hat, die Klage gegen den Besch. vom 7.11.1972 als zulässig anzusehen; das Gericht ist an einer anderen Sachentsch. auch nicht durch eine Bindungswirkung dieses Besch. gehindert (so auch Meyer-Ladewig a.a.O. § 84 Anm. 7).

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