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11 RA 48/78

Gründe I.

Der 1912 geborene Kläger begehrt die Vormerkung einer ausländischen Lehrzeit als Ausfallzeit. Nach seinen Angaben hat er, weil er im Inland keine Lehrstelle erhielt, vom 15. Mai 1930 bis zum 15. Mai 1933 in der Schweiz als Grenzgänger das Konditorhandwerk erlernt; in dieser Lehre war er weder versicherungspflichtig noch versichert. Die Beklagte lehnte die Vormerkung mit der Begründung ab, Lehrzeiten im Ausland seien keine Ausfallzeiten (Bescheide vom 11. November 1975 und vom 5. August 1976).

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte zur Vormerkung verurteilt. Nachdem die Beklagte Altersruhegeld ohne Berücksichtigung der streitbefangenen Zeit bewilligt hatte, hat das Landessozialgericht (LSG) die Klage abgewiesen (Urteil vom 30. Mai 1978). Nach seiner Ansicht ist der Altersruhegeldbescheid kein Gegenstand des Verfahrens gem. § 96 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) geworden, zumal die Beklagte eine Neuberechnung der Rente bei ungünstigem Ausgang des Verfahrens angekündigt habe. Ob die Konditorlehre eine „Lehrzeit“ gewesen sei, bedürfe keiner Prüfung, weil eine Lehrzeit im Ausland keine Ausfallzeit i.S. von § 36 Abs. 1 Nr. 4 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) sei. Mit der dortigen Formulierung der „nicht versicherungspflichtigen oder versicherungsfreien Lehrzeit“ knüpfe das Gesetz an Begriffe an, die nur im Geltungsbereich des AVG Bedeutung hätten. Demnach müsse es sich um Tatbestände handeln, für die die Anwendung deutscher versicherungsrechtlicher Vorschriften in Betracht käme. Die Lehrzeit könne auch nicht aufgrund des mit der Schweiz geschlossenen Abkommens über Soziale Sicherheit vom 25. Februar 1964 (BGBl II S. 1293) i.d.F. des Zusatzabkommens vom 9. September 1975 (BGBl. 1976 II S. 1372) als Ausfallzeit anerkannt werden. In dem Abkommen seien Ausfallzeittatbestände nicht geregelt, Art. 12 Abs. 1 befasse sich nur mit der Anrechnung innerstaatlich festgelegter Ausfallzeiten.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger Verletzung des § 36 Abs. 1 Nr. 4a AVG. Die Vorschrift gelte auch für eine im Ausland zurückgelegte Lehrzeit. Andernfalls widerspräche es dem Grundsatz der Gleichbehandlung, im Ausland zurückgelegte Schul-, Fachschul- und Hochschulzeiten als Ausfallzeiten anzuerkennen, nicht aber dort zurückgelegte Lehrzeiten.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

  • das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

  • die Revision des Klägers zurückzuweisen.

Beide Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

Gründe II.

Die Revision des Klägers ist unbegründet.

Zu Recht hat sich das LSG hier nicht mit dem während des Berufungsverfahrens ergangenen Altersruhegeldbescheid befaßt. Zwar wird ein Rentenbescheid, der während eines Vormerkungs-, Herstellungs- oder Wiederherstellungsstreits erlassen wird, wie der Senat im Urteil vom 24. November 1978 - 11 RA 9/78 - dargelegt hat, in der Regel aufgrund einer entsprechenden Anwendung des § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand dieses Verfahrens. Die genannte Entscheidung hat jedoch bereits Ausnahmen in Betracht gezogen. Ein solcher Ausnahmefall ist hier gegeben. Denn nach dem insoweit maßgebenden Grundsatz der Prozeßökonomie besteht für eine entsprechende Anwendung des § 96 Abs. 1 SGG kein Bedürfnis, wenn der Versicherungsträger sich bereit erklärt, bei Erfolg der ursprünglichen Klage den Rentenbescheid rückwirkend zu korrigieren. In diesem Falle ist der Kläger nicht bloß auf die Überprüfungsmöglichkeit nach § 79 AVG verwiesen. Das LSG hat hier den im Rentenbescheid erklärten „Vorbehalt“ zutreffend als Verpflichtung verstanden, den Rentenbescheid bei ungünstigem Ausgang des Vormerkungsstreites zu korrigieren. Ob der Kläger gleichwohl auf einer Einbeziehung des Rentenbescheides hätte bestehen können, kann offen bleiben. Denn seinem Vorbringen ist auch unter Berücksichtigung des das Altersruhegeld mitbetreffenden Revisionsantrages ein derartiger Wunsch nicht zu entnehmen.

In der Revisionsbegründung beruft sich der Kläger für die Anerkennung seiner Lehrzeit nicht mehr auf die von der Bundesrepublik Deutschland mit der Schweiz geschlossenen Abkommen. Soweit er aufgrund des Abkommensrechts die Stellung deutscher und schweizer Bürger mit Lehrzeiten im jeweils anderen Staat vergleicht, ergeben sich daraus keine Anhaltspunkte dafür, daß die Abkommensauslegung durch das LSG der Rechtslage nicht entsprechen würde. Der Senat sieht jedenfalls keinen Grund, dem LSG insoweit nicht zu folgen.

Zutreffend erscheint dem Senat aber auch die Auslegung des § 36 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a AVG durch das Berufungsgericht; eine im Ausland zurückgelegte Lehrzeit ist keine Ausfallzeit im Sinne dieser Vorschrift.

Für diese Auslegung spricht vor allem der Wortlaut der Vorschrift. Zwar enthält er keine ausdrückliche Begrenzung auf die inländische Lehrzeit. Dafür läßt sich auch nicht das Territorialitätsprinzip im Sinne einer allgemeinen Regel für die Auslegung rentenversicherungsrechtlicher Normen heranziehen (vgl. vor allem BSGE 43, 255, 258 ff.). Zu Recht hebt jedoch das LSG hervor, daß die der Lehrzeit in der Vorschrift beigegebenen Begriffe „nicht versicherungspflichtig oder versicherungsfrei“ nur für Inlandssachverhalte von Bedeutung sind. Gemeint sind damit Ausnahmen von der Versicherungspflicht nach inländischem Recht, welche -  hier dem Territorialitätsprinzip folgend - Lehr- und Beschäftigungsverhältnisse im Ausland nicht erfassen kam. Demzufolge hat das Bundessozialgericht (BSG) z.B. bei der Ausfallzeit der Arbeitslosigkeit die Unterbrechung einer im Ausland versicherungspflichtigen Beschäftigung nicht genügen lassen (SozR Nr. 48 zu § 1259 RVO). Eine Beschäftigung im Ausland wurde ferner im Rahmen des § 36 Abs. 3 AVG a.F. nicht wegen Überschreitens der Jahresarbeitsverdienstgrenze als „versicherungsfrei“ behandelt, weil für diese Beschäftigung das AVG von vornherein nicht gegolten habe (SozR Nr. 14 zu § 1259 RVO. In dem § 36 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a AVG zugrunde gelegten Sinne war die Lehrzeit des Klägers in der Schweiz daher weder „nicht versicherungspflichtig“ noch „versicherungsfrei“; für sie galt von vornherein kein deutsches Rentenversicherungsrecht.

Dieser Auslegung steht die Entstehungsgeschichte der Vorschrift nicht entgegen. Sie ist durch das Rentenversicherungs-Änderungsgesetz (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 in das AVG eingeführt worden. In dem Gesetzgebungsverfahren bat der Bundesrat zu prüfen, ob versicherungsfreie Lehrzeiten und sonstige Ausbildungszeiten nicht auch wie die Schulzeiten angerechnet werden sollten, da sie in gleicher Weise der Vorbereitung auf den späteren Beruf dienten; der Bundesrat wies darauf hin, daß bisher in vielen Fällen nach dem vor März 1957 geltenden Recht für Lehrlingszeiten keine Versicherungspflicht bestand (BT-Drucks. IV/2572, S. 33, Nr. 7a). Erst der zuständige Bundestagsausschuß erweiterte jedoch den Regierungsentwurf auf „Zeiten einer abgeschlossenen versicherungsfreien Lehrzeit“ (BT-Drucks. IV/3233, S. 13, Nr. 13b); in der zweiten Beratung des Bundestages erhielt die Vorschrift die dann Gesetz gewordene Fassung: „Zeiten einer abgeschlossenen nicht versicherungspflichtigen oder versicherungsfreien Lehrzeit“. Damit war eine Klarstellung bezweckt, weil Lehrverhältnisse ohne Entgelt nicht versicherungspflichtig und solche ohne Barlohn, aber mit Kost und Logis versicherungsfrei gewesen seien (vgl. Stenographischer Bericht über die 176. Sitzung des Bundestages am 1. April 1965, S. 8863 D, Abgeordneter Becker und BT-Drucks. IV/3272, S. 2/3). Im Hinblick hierauf hat Pappai nach der Gesetzesverkündung die Auffassung vertreten, daß die Regelung nur für Lehrzeiten vor März 1957 - außerhalb der britischen Zone -Bedeutung habe (BArbBI. 1965, S. 599, 601); spätere inländische Lehrzeiten sind nämlich sämtlich versicherungspflichtig.

Aus der Gesetzesentstehung ergibt sich hiernach, daß der Gesetzgeber nicht allgemein die weiteren Ausbildungszeiten, einschließlich vor allem der Lehrzeiten, den von ihm schon als Ausfallzeiten anerkannten Schul-, Fachschul- und Hochschulzeiten gleichstellen wollte, sondern daß es ihm offenbar darum ging, eine (gewisse) Gleichbehandlung der vor und nach der Rentenreform von 1957 zurückgelegten Lehrzeiten zu erreichen. Denn angesprochen waren immer nur Lehrzeiten, die nach inländischem Recht vor März 1957 nicht versicherungspflichtig oder versicherungsfrei waren; auch sie sollten nun bei der Rentenberechnung, wenn auch als Ausfallzeiten, rentensteigernd berücksichtigt werden. Das schließt es aber aus, § 36 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a AVG eine Auslegung zu geben, welche allen ausländischen Lehrzeiten, weil sie dem deutschen Recht niemals unterlagen, den Charakter deutscher Ausfallzeiten verleiht, ohne Rücksicht darauf, wann die Lehrzeiten zurückgelegt sind (also auch die nach Februar 1957) und wie das ausländische Recht sie versicherungsrechtlich behandelt. Eine solche Auslegung würde sich weit von dem mit der Einführung des § 36 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a AVG verfolgten Zweck entfernen. Die Gesetzesmaterialien ergeben dafür keinen Anhalt; ebensowenig findet sich dort ein Hinweis darauf, daß der Gesetzgeber mit den Begriffen „nicht versicherungspflichtig oder versicherungsfrei“ etwa nur beabsichtigt habe, von der eingeführten Vergünstigung diejenigen auszuschließen, für die während der Lehrzeit trotz Versicherungspflicht keine Beiträge entrichtet wurden.

Nicht zu übersehen ist unter diesen Umständen allerdings die Diskrepanz in der Behandlung der im Ausland zurückgelegten Lehrzeiten einerseits und der dort zurückgelegter Schul-, Fachschul- und Hochschulzeiten andererseits, sofern man der herrschenden, wenn auch vom BSG bisher noch nicht bestätigten Auffassung folgt, daß auch die im Ausland zurückgelegten Schul-, Fachschul- und Hochschulzeiten Ausfallzeiten i.S. des § 36 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b AVG sind. Insoweit ist jedoch auf den Unterschied im Gesetzeswortlaut hinzuweisen; der Wortlaut des Buchstaben b enthalt im Gegensatz zu dem in Buchstabe a keinen Anhalt für eine Begrenzung auf inländische Sachverhalte; im übrigen kann z.B. auch der Ausfallzeittatbestand der Arbeitslosigkeit (§ 36 Abs. 1 Nr. 3 AVG) nur im Inland verwirklicht werden (vgl. dazu SozR Nr. 60 zu § 1248 RVO). Die Diskrepanz läßt sich jedenfalls nicht durch verfassungskonforme Auslegung beheben; der Senat ist auch nicht der Meinung, daß dadurch der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) verletzt wird. Wie wiederholt in der Rechtsprechung zu den §§ 36 AVG, 1259 RVO hervorgehoben (vgl. etwa SozR Nr. 46 zu § 1259 RVO), stellt der Gesetzgeber bei der Zuerkennung von Ausfallzeiten nicht sämtliche Ausbildungszeiten gleich, sondern erkennt als solche nur bestimmte typische Ausbildungszeiten an; dabei hat die Aufnahme der in § 36 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a AVG genannten nicht versicherungspflichtigen oder versicherungsfreien Lehrzeit ihren besonderen Grund in dem Bestreben, eine solche Lehrzeit mit einer versicherungspflichtigen Lehrzeit gleichzustellen. Hiernach ist es nicht willkürlich, wenn als Folge hiervon eine unterschiedliche Behandlung ausländischer Zeiten in § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG eintritt. Insoweit darf der Gesetzgeber auch in Rechnung stellen, daß beim Zusammentreffen der deutschen Rente mit einer Auslandsrente, für die kein Abkommen gilt, die Berücksichtigung einer Auslandslehrzeit bei der Auslandsrente wahrscheinlicher ist als die Berücksichtigung einer Auslandsschulzeit.

Darüber, ob Lehrzeiten im Ausland bei Berechtigten i.S. des § 1 des Fremdrentengesetzes Ausfallzeiten sein können, war, da der Kläger zu diesem Personenkreis nicht gehört, im vorliegenden Fall nicht zu entscheiden.

Hiernach war die Revision zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

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