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1 RA 75/77

Tatbestand

Streitig ist in der Hauptsache, ob dem Kl. ein Auslandsaufenthalt als Ersatzzeit vorzumerken ist.

Der 1914 geborene aus Deutschland stammende Kl. hat einen jüdischen Großelternteil. Nachdem er im Februar 1933 die Reifeprüfung abgelegt hatte, wurde ihm zum Sommersemester 1933 als „Nichtarier“ die Zulassung, zum Studium verweigert. Er trat sodann als kaufmännischer Angestellter in eine Metallwarenfabrik ein, wanderte aber bereits im April 1934 nach England aus. Von dort ging er später nach Australien, wo er jetzt noch wohnt.

Im September 1971 beantragte der Kl. für den Aufenthalt im Ausland vor dem 1.1.1950 die Anrechnung einer Ersatzzeit und die Genehmigung zur Beitragsnachentrichtung nach dem Gesetz zur Regelung der Wiedergutmachung in der Sozialversicherung (WGSVG). Dies lehnte die Bekl. durch die streitigen Bescheide vom 16.1.1974 und 1.2.1974, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 8.4.1974, u.a. mit der Begründung ab, daß der Kl. nicht Verfolgter im Sinne des § 1 des BEG sei.

Auf die Klage des Kl. hat das Sozialgericht (SG) die Bekl. unter Aufhebung der streitigen Bescheide verurteilt, für den Kl. eine Beitragszeit vom 1.6.1933 bis 14.4.1934 und die begehrte Ersatzzeit (Auslandsaufenthalt) anzuerkennen sowie den Kl. zur Beitragsnachentrichtung zuzulassen. Mit der hiergegen eingelegten Berufung hat sich die Bekl. erfolgreich ausschließlich gegen die Anerkennung der Ersatzzeit und die Zulassung der Beitragsnachentrichtung gewandt. Das Landessozialgericht (LSG) hat im angefochtenen Urteil vom 29.7.1977 insoweit die Klage abgewiesen und ausgeführt, der Kl. sei Verfolgter i.S. des § 1 BEG, weil er 1933 als Nichtarier nicht zum Studium zugelassen worden sei. Indessen könne zwischen dieser Verfolgungsmaßnahme und der Auswanderung des Kl. kein ursächlicher Zusammenhang hergestellt werden. Zur Zeit der Auswanderung 1934 hätte der Kl. auf Grund neuerer, günstigerer Bestimmungen für „Mischlinge zweiten Grades“ schon wieder damit rechnen können, das angestrebte Studium doch noch aufnehmen zu können. Dann scheitere die Annahme eines verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalts, zugleich mit der Ersatzzeit dann aber auch die Möglichkeit der Beitragsnachentrichtung, weil keine Versicherungszeit von mindestens 60 Kalendermonaten zurückgelegt sei.

Aus den Gründen

Die zulässige Revision ist i.S. der Zurückverweisung der Sache begründet.

Nach § 28 I Nr. 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes AVG (= § 12511 I 1 Nr. 4 der Reichsversicherungsordnung RVO) in der ab 1.2.1971 geltenden Fassung des Gesetzes vom 22.12.1970 (BGBl. 1970 I 1846) werden - vorausgesetzt, eine Pflichtversicherung habe, wie hier, vorher bestanden (§ 28 II 1 AVG = § 1251 II 1 RVO) - für die Erfüllung der Wartezeit, aber auch für die Rentenhöhe (§35 AVG = § 1258 RVO) als Ersatzzeiten angerechnet Zeiten eines Auslandsaufenthalts bis zum 31.12.1949, sofern dieser durch Verfolgungsmaßnahmen i.S. des BEG hervorgerufen worden ist, wenn der Versicherte Verfolgter i.S. des § 1 a.a.O. ist. Mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen des LSG kann der Senat nicht entscheiden, ob diese Voraussetzungen in der Person des Kl. erfüllt sind.

Träfe die Meinung des LSG zu, daß der Kl. zur Zeit seiner Auswanderung nicht (mehr) rassisch verfolgt gewesen sei, erübrigten sich naturgemäß weitere Feststellungen zu der Frage, ob zwischen Verfolgungsmaßnahme und Auswanderung eine kausale Beziehung besteht: Es fehlte dann einer kausalen Verknüpfung von Verfolgungsmaßnahmen und Auslandsaufenthalt bereits das Anfangsglied. Schon in bezug hierauf reichen die Feststellungen des LSG nicht aus. Das BerGericht stützt seine Annahme, der Kl. sei zur Zeit der Auswanderung nicht (mehr) rassisch verfolgt gewesen, allein auf die Überlegung, er hätte im April 1934 schon wieder damit „rechnen“ können, „später ohne wesentliche Schwierigkeiten“ sein Studium doch noch aufnehmen zu können; das Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen vom 26.4.1933 habe nämlich - im Vergleich zu den bisherigen Bestimmungen gegen „Nichtarier“ - für „Mischlinge zweiten Grades“ günstigere Bedingungen geschaffen. Vorweg ist hierzu zu bemerken, daß ein „Rechnenkönnen“ offenläßt, ob der in Betracht gezogene Sachverhalt tatsächlich überhaupt eintreten wird. Schon deshalb fehlen dem Urteil des LSG tragfähige Feststellungen. Die weiteren Ausführungen in der angefochtenen Entscheidung schwächen überdies sogar das „Rechnenkönnen“ noch erheblich ab: So führt das LSG aus, daß das - etwa zur gleichen Zeit mit dem Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen erlassene - weitere Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 11.4.1933 für den Bereich des öffentlichen Dienstes neue Diffamierungen für „Nichtarier“ gebracht habe; es liege nahe, daß die Hochschulen hiervon auch zu Lasten jüdischer Studienbewerber Gebrauch gemacht hätten. In die gleiche Richtung zielten nach Auffassung des LSG die von der NSDAP im Frühjahr 1933 organisierten Massenveranstaltungen gegen jüdische Studenten und vor allem auch der weitere Umstand, daß sich die damaligen Machthaber auch über gesetzliche Vorschriften hinweggesetzt hätten. Alle diese Ausführungen des BerGerichts können dafür sprechen, daß dem Kl. auch über Frühjahr/Frühsommer 1933 hinaus die Zulassung zum Studium aus rassischen Gründen verweigert worden wäre. Jedenfalls ist den Darlegungen des LSG nichts zu entnehmen, was die Annahme rechtfertigte, die Behinderung des Kl. im beruf liehen Fortkommen aus rassischen Gründen durch Nichtzulassung zum Studium sei zur Zeit seiner Auswanderung im April 1934 endgültig beendet gewesen.

Ist mithin nicht festgestellt, ob der Kl. zur Zeit seiner Auswanderung (noch) Verfolgungsmaßnahmen i.S. des BEG unterlegen hat, so kann der Senat in der Sache nicht entscheiden. Das angef. Urteil war daher aufzuheben und dem LSG durch Zurückverweisung der Sache Gelegenheit zu geben, die erforderlichen Feststellungen zu treffen (§ 170 II 2 SGG).

Für den Fall, daß das LSG nunmehr feststellen sollte, der Kl. sei auch noch zur Zeit der Auswanderung Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt gewesen, ist vorsorglich folgendes zu bemerken:

Nach der Entscheidung des 4. Senats des BSG vom 1.7.1970 (SozR Nr. 46 zu § 1251 RVO) ist zu „unterstellen“, daß „bei einer in der Zeit zwischen 1933 und Kriegsende liegenden Auswanderung eines Verfolgten des NS in der Regel ein Auslandsaufenthalt nach § 1251 I Nr. 4 RVO vor(-liegt)“. Dem tritt der erk. Sen. bei. Der „typische Geschehensablauf“, auf den das BSG a.a.O. mit dem weiteren Hinweis Bezug genommen hat, daß dieser für sich in Anspruch nehmen könne, „entfernt liegende Sachverhalte unberücksichtigt“ zu lassen, begründet auch für die Fälle der vorl. Art rechtlich die Zulässigkeit des auch im Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit anwendbaren Beweises des ersten Anscheines (prima-facie-Beweis; vgl. statt vieler mit umfangreichen Nachweisen aus Rspr. und Schrifttum Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. 1/2, 244 m.V.). Er beruht auf der Erfahrung, daß bestimmte typische Tatbestände auch gewisse typische Folgen zu zeitigen pflegen. Der Beweis des ersten Anscheins ist auch im Verfahren vor den Sozialgerichten erst entkräftet, wenn eine Tatsache festgestellt wird, aus der die nicht nur entfernte Möglichkeit eines atypischen Geschehensablaufs folgt (Brackmann a.a.O.). Dies wird das LSG in seiner neuen Entscheidung gegebenenfalls zu berücksichtigen haben.

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