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5 RJ 76/76

Aus den Gründen

Die Beteiligten streiten über die Höhe des dem Kläger gewährten Altersruhegeldes.

Die beklagte LVA gewährte dem Kläger für die Zeit vom 1.8.1967 an das Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres, das sie mit Bescheid vom 20.7.1970 von Beginn an neu und höher feststellte. Bei der Rentenberechnung berücksichtigte sie die Zeiten vom 3.4.1949 bis zum 16.7.1949 und vom 1.1.1951 bis zum 28.3.1952 nach der Leistungsgruppe C Ia 1 der Anlage 1 zu § 22 FRG.

Der Kläger reichte eine „Bescheinigung“ der BKn vom 26.4.1972 über die Bewertung der Zeiten vom 3.4.1949 bis zum 16.7.1949 und vom 1.7.1951 bis zum 31.3.1952 nach dem FRG ein und beantragte die Neuberechnung seiner Rente. Die Beklagte stellte mit Bescheid vom 3.7.1972 das Altersruhegeld des Klägers für die Zeit vom 1.8.1967 an neu fest. Dabei berücksichtigte sie die genannten Zeiten entsprechend der „Bescheinigung“ der BKn nach der Leistungsgruppe C Ia 3 statt - wie bisher - nach der Leistungsgruppe C Ia 1 der Anlage 1 zu § 22 FRG. Sie errechnete für die Zeit vom 1.8.1967 bis zum 31.8.1972 eine Überzahlung von 885,80 DM und setzte die inzwischen angepaßte laufende Rente mit Wirkung vom 1.9.1972 von monatlich 735,10 DM auf 720,50 DM herab. Nach Klageerhebung teilte die Beklagte dem Kläger mit, daß sie den überzahlten Betrag nicht zurückfordere.

Das SG hat die Beklagte unter Klageabweisung im übrigen und unter Abänderung des Bescheides vom 3.7.1972 verpflichtet, das Altersruhegeld des Klägers in Höhe von 735,10 DM monatlich weiter zu gewähren, bis der Zahlbetrag der neu festgestellten Rente infolge der Rentenanpassungen das monatliche Altersruhegeld von 735,10 DM überschreitet. Das LSG hat auf die Berufung des Klägers das Urteil des SG und den Neufeststellungsbescheid der Beklagten vom 3.7.1972 aufgehoben.

Die Revisionen der Beklagten und der beigeladenen BKn haben keinen Erfolg. Das Berufungsgericht hat im Ergebnis zutreffend den angefochtenen Bescheid der Beklagten vom 3.7.1972 aufgehoben. Die Beklagte war nicht berechtigt, das festgestellte Altersruhegeld mit Wirkung vom 1.8.1967 an neu und niedriger festzustellen.

Der Bescheid der Beklagten vom 20.7.1970 ist - da er nicht angefochten worden ist - gemäß § 77 SGG in der Sache bindend geworden. Das bedeutet, daß die Beklagte durch einen neuen Verwaltungsakt die Rechtsposition, die der Kläger infolge der Bindungswirkung erlangt hatte, nicht verschlechtern durfte (vgl. BSG SozR Nr. 22 zu § 77 SGG). Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG erstreckt sich die Bindungswirkung jedoch nicht auf den gesamten Bescheid, sondern nur auf seinen Verfügungssatz (Entscheidungssatz) und nicht auf die ihn tragenden Gründe. Jedoch kann ein Bescheid mehrere Verfügungssätze enthalten (vgl. BSGE 27, 22, 23 - SozR Nr. 59 zu § 77 SGG). Bei Rentenfeststellungsbescheiden gehört nach der Rechtsprechung des BSG zu dem der Bindung fähigen Verfügungssatz die Entscheidung über die Art, die Dauer (Beginn und Ende) und die Höhe der Rente, nicht aber die Rentenberechnung und die ihr zugrundegelegten Versicherungszeiten (vgl. SozR Nr. 24, 64 und 75 zu § 77 SGG sowie Urteil vom 15.12. 1977 - 11 RA 2/77 - SozR 1500 § 77 Nr. 26). Es kann dahingestellt bleiben, ob dieser Rechtsprechung uneingeschränkt gefolgt werden kann. Bedenken ergeben sich aus dem Urt. des erkennenden Senats vom 26.9.1974 (SozR 2200 § 1631 Nr. 1) und aus folgenden Erwägungen:

Die Bindungswirkung des § 77 SGG entscheidet das Spannungsverhältnis zwischen materieller Gerechtigkeit einerseits und Rechtssicherheit andererseits im Interesse des Bedürfnisses nach Vertrauensschutz zugunsten der Rechtssicherheit, die nur in ganz besonders gelagerten Fällen (§§ 1744, 1286, 1300 RVO) hinter die materielle Gerechtigkeit zurücktritt. In allen der Sozialgerichtsbarkeit unterliegenden Rechtsgebieten ist das Bedürfnis, das Vertrauen eines Rentenempfängers auf die Richtigkeit des ihm erteilten Rentenbescheides zu schützen, so stark, daß die Rechtsprechung - abweichend von den für die Bindungswirkung eines Bescheides von der zivilprozeß-rechtlichen Rechtskrafttheorie übernommenen Kriterien - nicht nur die Entscheidung über Art, Dauer und Höhe der Rente, sondern auch andere Teile des Rentenbescheides an der Bindungswirkung teilnehmen läßt. So hat die Rechtsprechung zum Recht der KOV und der UV zum Beispiel die im Rentenbescheid enthaltene Feststellung der Schädigungsfolgen bzw. Unfallfolgen als der Bindung fähig anerkannt (vgl. BSGE 9, 80; 12, 25; 27, 22 - SozR Nr. 59 zu § 77 SGG; SozR Nrn. 20, 37, 59 zu § 77 SGG; SozR 1500 § 77 Nr. 18). Ferner sind in dem Recht der KOV und der UV die in dem Rentenbescheid enthaltene Feststellung des Grades der MdE (SozR 3100 § 30 Nr. 8; BSGE 5, 96, 100; SozR Nr. 1 zu § 570 RVO und SozR 2200 § 581 Nr. 1), in der KOV die Eingruppierung in eine bestimmte Besoldungsgruppe beim Schadensausgleich (SozR 3100 § 40a Nr. 4) und in der UV die Feststellung des Jahresarbeitsverdienstes (vgl. SozR Nr. 1 zu § 570 RVO) dem entscheidenden Teil des Bescheides zugerechnet und damit der Bindung für fähig erklärt worden. Schließlich hat in der Rentenversicherung die Rechtsprechung den Ausspruch im Rentenbescheid über das Ruhen der Rente für bindungsfähig gehalten (vgl. SozR Nr. 10 zu § 1278 RVO; SozR Nrn. 56 und 75 zu § 77 SGG). Überall dort, wo die Rechtsprechung ein Bedürfnis gesehen hat, das Vertrauen des Rentenempfängers an die Feststellungen im Rentenbescheid zu schützen, hat sie einen besonderen Entscheidungssatz angenommen, der an der Bindungswirkung teilnimmt. Das müßte auch für die Feststellung der Versicherungszeiten gelten, zumal die VuVO vom 3.3.1960 in § 11 eine besondere Feststellung von Versicherungszeiten außerhalb des Leistungsverfahrens vorsieht, die den Versicherungsträger bei der Rentenfeststellung bindet (vgl. BSG SozR Nr. 1 zu § 11 VuVO). Die Rechtsprechung hat darüber hinaus die Möglichkeit bejaht, bereits vor Eintritt des Versicherungsfalles durch Verwaltungsakt Ersatz- und Ausfallzeiten verbindlich zu klären (vgl. BSG SozR Nr. 1 zu § 1412 RVO). Wenn aber die Feststellung solcher Zeiten außerhalb des Leistungsfeststellungsverfahrens möglich und der Bindung fähig ist, so drängt sich die Frage auf, warum ihre Feststellung im Rentenfeststellungsbescheid anders zu behandeln sein sollte. Die bisherige Unterscheidung hinsichtlich der Tragweite der Bindungswirkung je nachdem, ob der Versicherungsträger über Beitragszeiten, Ersatzzeiten und Ausfallzeiten außerhalb oder während des Leistungsfeststellungsverfahrens entscheidet, führt zu einer Benachteiligung derjenigen Versicherten, die - und das ist bis dato der Regelfall - gleich einen Rentenantrag stellen, gegenüber denjenigen Versicherten, die sich vorher über ihren „Versicherungsverlauf“ förmliche Verwaltungsakte erteilen lassen. Auf längere Sicht müßte dies zu den im Urteil des 1. Senats des BSG vom 27.3.1974 (SozR 2200 § 1254 Nr. 1) angedeuteten Konsequenzen führen, daß sich die Versicherten künftig regelmäßig bereits vor Eintritt eines Versicherungsfalles veranlaßt sehen könnten, einen bindenden Bescheid über die Anerkennung der genannten Zeiten zu erhalten. Ein derartiges Vorgehen wäre nicht nur mit einem erheblichen zusätzlichen Verwaltungsaufwand verbunden, sondern könnte auch - worauf Tannen in SGb 1975, 167 f. hinweist - unter Berücksichtigung des neuen elektronischen, datenverarbeitenden Beitragseinzugsverfahrens keinen ausreichenden Vertrauensschutz des Versicherten gewährleisten. Aus diesen Erwägungen trägt auch Tannen unter Hinweis auf das Urteil des erkennenden Senats vom 26.9.1974 a.a.O. keine Bedenken, wenn jedenfalls nach Einführung des elektronischen Datenverarbeitungsverfahrens ein Versicherungsträger an das von ihm selbst ermittelte, jedoch nur im Rentenzahlbetrag zum Ausdruck gelangte und nicht förmlich festgestellte Beitragsbild gebunden ist. Zu berücksichtigen ist darüber hinaus, daß bei der Anfechtung von Rentenfeststellungsbescheiden hinsichtlich der festgestellten Rentenhöhe oft rechtskräftige Urteile ergehen, in denen der Versicherungsträger verpflichtet wird, die Rente unter Berücksichtigung bestimmter Versicherungszeiten zu gewähren. Wird damit aber in einem Streit über die Rentenhöhe die Feststellung dieser Versicherungszeiten rechtskräftig, so müßte der im Verwaltungsverfahren bereits ausgetragene Streit über die Anrechenbarkeit bestimmter Versicherungszeiten ebenso zu behandeln sein. Ließe man die Feststellung der Versicherungszeiten nicht an der Bindungswirkung teilnehmen, so würde das Vertrauen des Versicherten in diese Feststellung enttäuscht, zumal dem Versicherten unter Umständen die Möglichkeit genommen wird, die vorher vorhanden gewesenen Beweise beizubringen. Diesem Bedürfnis nach Vertrauensschutz tragen auch die Rentenanpassungsgesetze Rechnung, die vorschreiben, daß bei der Rentenanpassung die bisherigen Berechnungsfaktoren unverändert bleiben, wenn sie nicht offensichtlich, eindeutig oder unzweifelhaft unrichtig sind (vgl. hierzu BSGE 26, 266, 271 = SozR Nr. 2 zu § 1272 RVO). Es spricht daher vieles dafür, alle Elemente eines Bescheides an der Bindungswirkung teilnehmen zu lassen, die außerhalb des Leistungsfeststellungsverfahrens gesondert durch einen der Bindung fähigen Verwaltungsakt geregelt werden können, also auch die Feststellung von Versicherungsszeiten. Zumindest aber sollte sich der Vertrauensschutz darauf erstrecken.

Diese Frage braucht aber im vorliegenden Fall nicht weiter vertieft und abschließend entschieden zu werden. Selbst wenn man mit der bisherigen Rechtsprechung davon ausgeht, daß die Feststellung von Versicherungszeiten im Rentenbescheid nicht der Bindung fähig ist und auch keines besonderen Vertrauensschutzes bedarf, so ist der angefochtene Neufeststellungsbescheid der Beklagten gleichwohl rechtswidrig. Die Beklagte hat in dem angefochtenen Bescheid nicht nur die vorher festgestellten Versicherungszeiten, sondern auch den Entscheidungssatz über die Rentenhöhe verändert. Sie hat mit Wirkung vom 1.8.1967 das Altersruhegeld des Klägers neu und niedriger festgestellt als dies im bindend gewordenen Bescheid vom 20.7.1970 geschehen war. Daran ändert die Tatsache nichts, daß die Beklagte den errechneten Überzahlungsbetrag nicht zurückgefordert hat. Die Feststellung einer Überzahlung setzt die Herabsetzung des Rentenzahlbetrages voraus und greift daher in den bindend gewordenen Entscheidungssatz über die Rentenhöhe ändernd ein. Mit der Veränderung der Rentenhöhe hat die Beklagte also auch den Verfügungssatz des bindend gewordenen Bescheides zu Ungunsten des Klägers in unzulässiger Weise geändert. Das gilt zunächst jedenfalls für die Zeit bis zum 31.12.1970, für die der bindend festgestellte Rentenbetrag unterschritten wurde.

Für die spätere Zeit hat die Beklagte im angefochtenen Neufeststellungsbescheid zwar einen höheren Rentenbetrag festgestellt, der jedoch unter den Zahlbeträgen nach den inzwischen durchgeführten Rentenanpassungen lag. Die Bindungswirkung des Bescheides vom 20. 7.1970 erstreckt sich allerdings nicht auf die Höhe der seit dem 1.1.1971 angepaßten Rente. Es mag dahingestellt bleiben, ob der angepaßte Rentenbetrag dann bindend wird, wenn nicht die Rentenanpassung, sondern die vorherige Rentenfeststellung fehlerhaft war. Nach § 14 Abs. 2 S. 4 des 13. RAG war die Berichtigung einer durchgeführten Rentenanpassung nur bis zum 31.12.1971 zulässig. Da die Beklagte in dieser Frist eine Berichtigung nicht vorgenommen hat, war jedenfalls die nach diesem Gesetz angepaßte Rente weiterzuzahlen.

Die Beklagte durfte aber auch die nach dem 14. RAG angepaßte Rente von 735,10 DM nicht herabsetzen. Der angefochtene Bescheid vom 3.7.1972 enthält keine zulässige Berichtigung der Rentenanpassung i.S. des § 14 Abs. 2 des 14. RAG. Zwar ist der angefochtene Bescheid vom 3.7.1972 innerhalb der Berichtigungsfrist dieser Vorschrift erlassen worden, so daß er als rechtzeitige Berichtigung der durchgeführten Rentenanpassung angesehen werden könnte. Die sonstigen Voraussetzungen für eine zulässige Berichtigung liegen aber nicht vor. Ob unter Fehlern bei der Rentenanpassung i.S. der genannten Vorschrift nur solche Fehler zu verstehen sind, die bei der Anwendung des Anpassungsgesetzes geschehen sind, nicht aber Fehler bei der der Anpassung zugrundeliegenden Rentenberechnung, kann zweifelhaft sein. Nach Wortlaut und Sinn des § 2 Abs. 1 des 14. RAG und der entsprechenden Vorschriften späterer Anpassungsgesetze sollen die festgestellten Renten „ohne Änderung der übrigen Berechnungsfaktoren“ durch Anpassung erhöht werden. Das Ziel der Rentenanpassungen - eine der Lohnentwicklung entsprechende Rentenerhöhung - sollte also nicht durch Veränderung der Berechnungsfaktoren vereitelt werden können. Allerdings schließen § 2 Abs. 1 und § 14 Abs. 2 des 14. RAG und die entsprechenden Vorschriften der späteren Anpassungsgesetze nicht aus, daß auch anläßlich der Rentenanpassung oder ihrer Berichtigung offenbare Unrichtigkeiten korrigiert werden, denn selbst ein Urteil ist in einem solchen Falle zu berichtigen (vgl. § 138 SGG und § 319 ZPO). Nach der Rechtsprechung des BSG ist der Versicherungsträger bei der Rentenanpassung nur an solche bisherige Berechnungsfaktoren nicht gebunden, die unzweifelhaft, eindeutig oder offensichtlich falsch sind (vgl. BSGE 26, 266, 271). Nach der zitierten Entscheidung ist die Anpassung ihrem Wesen nach keine völlige Neufeststellung der Rente; die Berechnungsfaktoren dürfen daher nicht bei jeder Anpassung fortlaufend infrage gestellt werden. Berechnungsfaktoren, die nur möglicherweise, nicht aber unzweifelhaft, offensichtlich oder eindeutig falsch festgestellt sind, dürfen nicht ersetzt oder verändert werden.

Im vorliegenden Fall steht aber nicht einmal fest, daß die im bindend gewordenen Rentenbescheid festgestellten Berechnungsfaktoren falsch sind. Noch weniger läßt sich feststellen, daß sie eindeutig unzweifelhaft oder offensichtlich unrichtig sind. Die dem angefochtenen Neufeststellungsbescheid zugrundeliegende „Bescheinigung“ der BKn vom 26.4.1972 beruht lediglich auf einer anderen rechtlichen Bewertung der bereits dem bindend gewordenen Bescheid zugrundeliegenden Tatsachen. Unter Berücksichtigung der damaligen Verhältnisse in der DDR ist es auch nicht völlig ausgeschlossen, daß der Kläger trotz fehlender bergmännischer Vorbildung im Gedinge gearbeitet hat, so daß seine Beschäftigungszeit in dem bindend gewordenen Rentenbescheid möglicherweise richtig nach der Leistungsgruppe C Ia 1 der Anlage 1 zu § 22 FRG bewertet worden ist. Zwar mag dies unter den in der Bundesrepublik Deutschland in normalen Zeiten herrschenden Verhältnissen ungewöhnlich erscheinen, jedoch läßt das keinen zwingenden Schluß auf die andersartigen Verhältnisse in der DDR zu einer anderen Zeit zu.

Daß die Voraussetzungen des § 1744 RVO, insbesondere des Abs. 1 Nr. 6, für eine Änderung des bindend gewordenen Rentenbescheides zuungunsten des Klägers nicht vorliegen, bedarf keiner näheren Begründung. Auch die Beklagte und die Beigeladenen vertreten nicht mehr die Ansicht, bei der „Bescheinigung“ der BKn vom 26.4.1972 handele es sich um eine bereits früher vorhanden gewesene Urkunde, zu deren Benutzung die Beklagte erst nach Zustellung des Rentenbescheids vom 20.7.1970 in der Lage war.

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