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11 RA 6/77

Gründe I.

Der 1912 geborene Kläger ist Inhaber eines Eisenwarengeschäfts. Ab Februar 1973 erhielt er gemäß seinem Antrag Rente wegen Berufsunfähigkeit von der Beklagten (Bescheid vom 5. Oktober 1973); seit Juni 1977 bezieht er Altersruhegeld.

Im Klageverfahren begehrte der Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit anstelle der Rente wegen Berufsunfähigkeit; vor dem Landessozialgericht (LSG) schränkte er diesen Anspruch auf die Zeit ab Januar 1974 ein. Das Sozialgericht und das LSG haben die Klage abgewiesen (Urteile vom 12. Mai 1975 und 11. November 1976). Das LSG hatte zuvor den Kläger persönlich angehört und seine Ehefrau als Zeugin vernommen. Der Kläger hat dabei angegeben, alle wichtigen Entscheidungen über den Geschäftsbetrieb zu treffen; er schaue vormittags und nachmittags im Geschäft nach dem Rechten und werde in anstehenden Sachen um Rat gefragt. Seine Ehefrau hat bekundet, der Kläger sei täglich im Geschäft, wichtige Entscheidungen spreche sie vorher mit ihm ab. Zur Begründung seines Urteils hat das LSG ausgeführt:

Der Kläger könne zwar nur noch zwei Stunden am Tag beruflich tätig sein; er sei aber gleichwohl nicht erwerbsunfähig, denn er übe noch eine selbständige Erwerbstätigkeit aus (§ 24 Abs. 2 Satz 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG - i.d.F. des Rentenreformgesetzes - RRG -). Eine Tätigkeit dieser Art werde bereits dann ausgeübt, wenn das Gewerbe auf den Namen des Versicherten angemeldet und er als Steuerpflichtiger beim Finanzamt geführt werde. Wer ein Geschäft betreibe, trage die sich daraus ergebende Haftung. Dies bedinge, daß er mindestens Aufsichtspflichten wahrnehme; dann werde er in seinem Gewerbebetrieb aber wenigstens direktorial tätig. Da der Kläger das Eisenwarengeschäft unter seinem Namen führe und als Geschäftsinhaber zur Gewerbe-, Umsatz- und Einkommensteuer herangezogen werde, sei er mithin nicht erwerbsunfähig. Bei dieser Sachlage habe es keiner weiteren Beweiserhebung bedurft, wie umfangreich seine Mitarbeit im Geschäft tatsächlich sei.

Mit; der - zugelassenen - Revision beantragt der Kläger (sinngemäß),

  • die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Beklagte unter Änderung ihres Bescheides zu verurteilen, ihm Rente wegen Erwerbsunfähigkeit von Januar 1974 bis Mai 1977 zu gewähren.

Er rügt dem Sinne nach die fehlerhafte Anwendung des § 24 Abs. 2 Satz 2 AVG durch das LSG.

Die Beklagte beantragt,

  • die Revision zurückzuweisen.

Gründe II.

Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Das LSG hat im Ergebnis zu Recht entschieden, daß dem Kläger keine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zusteht.

Der Begriff der Erwerbsunfähigkeit ist in § 24 Abs. 2 AVG definiert. Nach dessen Satz 1 (der vor dem RRG den Begriff noch abschließend bestimmt hatte) ist erwerbsunfähig der Versicherte, der infolge Krankheit, Gebrechen oder Kräfteschwäche auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann. Zu diesen Voraussetzungen hat sich das LSG nicht näher geäußert; es hat aber wohl einen der alternativen Tatbestände des Satzes 1 für gegeben erachtet. Ob dem zu folgen ist, kann dahingestellt bleiben. Das RRG hat nämlich den Begriff der Erwerbsunfähigkeit durch Anfügen eines Satzes 2 um eine - negative - Voraussetzung erweitert. Darin wird bestimmt:

„Erwerbsunfähig ist nicht, wer eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt“. Das aber war beim Kläger in der streitigen Zeit der Fall; mithin war er jedenfalls aus diesem Grunde nicht erwerbsunfähig.

Ein Versicherter übt eine selbständige Erwerbstätigkeit aus, wenn er im eigenen Namen und auf eigene Rechnung erwerbstätig ist (BSG 39, 152, 153 mit weiteren Hinweisen; BSG 2, 67, 74 f.). Das trifft insbesondere auf gewerbliche Unternehmer zu. Unternehmer ist, wer die für das Unternehmen erforderlichen Willensentscheidungen eigenverantwortlich und persönlich unabhängig trifft und vom wirtschaftlichen Ergebnis den unmittelbaren Vor- oder Nachteil hat. Ein solcher Unternehmer übt selbständige Erwerbstätigkeit aus, solange auf den Geschäftsbetrieb gerichtete Handlungen in seinem Namen vorgenommen werden. Es kommt dann nicht darauf an, ob und in welcher Weise er sich nach außen oder innen am Geschäftsbetrieb tätig beteiligt. Vielmehr genügt es, daß er kraft seiner Unternehmerstellung den notwendigen Einfluß zu nehmen vermag. Er kann deshalb auch das Geschäft durch andere betreiben lassen (BSGE 2, a.a.O.); solange er der Unternehmer bleibt, ist ihm der Geschäftsbetrieb als selbständige Erwerbstätigkeit zuzurechnen.

Dieses Verständnis der ausgeübten selbständigen Erwerbstätigkeit entspricht auch dem Sinn und Zweck von § 24 Abs. 2 Satz 2 AVG. Hierzu findet sich in der Entstehungsgeschichte (BT-Drucks. VI/2153, Begründung A) nur, bei Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit gelte („gilt“) Erwerbsunfähigkeit als nicht gegeben (S. 9), bzw. die Vorschrift stelle für diesen Fall das Nichtvorliegen der Erwerbsunfähigkeit klar (Begründung B), (S. 16). Weder das eine noch das andere kann aber zutreffen. Dem Wortlaut nach („erwerbsunfähig ist nicht“) enthält Satz 2 keine Fiktion; er vermag auch nicht der Klarstellung zu dienen. Denn in Satz 1 kommt es darauf an, ob (und inwieweit) der Versicherte noch Erwerbstätigkeit ausüben und Einkünfte erzielen kann - die tatsächliche Erwerbstätigkeit hat hierfür nur indizielle Bedeutung -; Satz 2 dagegen stellt im Tatbestand auf die tatsächliche Ausübung der (selbständigen) Erwerbstätigkeit ab. Dem Satz 2 von § 24 Abs. 2 AVG muß mithin ein anderer Sinn zukommen. Nach Aufbau und Fassung der Vorschrift hat der Gesetzgeber hier eine Ausnahme von Satz 1 geschaffen. Satz 2 soll - selbst bei Vorliegen der Voraussetzungen von Satz 1 - die Gewährung von Renten wegen Erwerbsunfähigkeit ausschließen, wenn (und solange) der Versicherte eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt. Damit wollte der Gesetzgeber verhindern, daß ein Versicherter Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bezieht und zugleich selbständig erwerbstätig ist; der Empfänger einer solchen für das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben bestimmten Rente soll nicht daneben Einkünfte aus selbständiger Erwerbstätigkeit erzielen können. Diese Möglichkeit verbleibt ihm jedoch, wenn er unternehmerisch tätig ist; hierbei kommt es nicht entscheidend auf das Maß seiner Mitwirkung im Geschäftsbetrieb an.

Hiervon ausgehend kann der Senat dem LSG nicht darin beipflichten, daß ein Versicherter eine selbständige Erwerbstätigkeit schon dann ausübe, wenn ein Gewerbe auf seinen Namen angemeldet ist und er für die anfallenden Steuern beim Finanzamt als Steuerpflichtiger geführt wird. Dagegen steht, daß die entsprechenden Anzeige- und Meldevorschriften (§§ 14 der Gewerbeordnung - GewO -, 165d, 191 der Abgabenordnung) den Charakter von Ordnungsvorschriften besitzen. Die Meldung muß nicht mit dem tatsächlichen Beginn und Ende der gewerblichen Tätigkeit zeitlich zusammenfallen. Im übrigen kann eine Anzeigepflicht schon bestehen, wenn Einrichtungen zur Ausübung eines Gewerbes vorhanden sind, ohne daß sie ständig benutzt werden, wie umgekehrt ein Gewerbebetrieb bei nur vorübergehender Einstellung nach § 14 Abs. 1 Nr. 3 GewO noch nicht abgemeldet zu werden braucht (vgl. Landmann-Rohmer, GewO, 12. Aufl. RdNrn. 7, 35 und 39 zu § 14). Die Meldung bzw. Führung bei den Gewerbe- und Steuerbehörden besagt hiernach nicht immer, daß der Versicherte eine selbständige Erwerbstätigkeit tatsächlich ausübt; sie kann insoweit nur ein Indiz im Rahmen der Beweiswürdigung sein, allerdings dann möglicherweise im Einzelfall auch für die Annahme einer selbständig ausgeübten Erwerbstätigkeit genügen.

Eine Beweiswürdigung dieser Art hat das LSG jedoch nicht vorgenommen. Es hat sich mit der Meldung und Führung bei den zuständigen Behörden aus Rechtsgründen begnügt, weil es davon ausging, daß die Einfügung von Satz 2 in § 24 Abs. 2 AVG eine Vereinfachung der Feststellung bestehender Erwerbsunfähigkeit bezwecken sollte. Satz 2 kann jedoch die Rechtsanwendung allein insofern vereinfacht haben, als bei Vorliegen seiner Voraussetzungen das Vorliegen der alternativen Tatbestände des Satzes 1 ungeprüft bleiben kann; eine weitere „Vereinfachung“ in dem Sinne, daß der Tatbestand des Satzes 2 durch einen anderen, leichter festzustellenden Tatbestand (Meldung und Führung als selbständiger Unternehmer bei den zuständigen Behörden) ersetzt werden dürfe, ist jedoch nicht statthaft.

Gleichwohl läßt sich das angefochtene Urteil im Ergebnis halten. Schon aus dem Gesamtzusammenhang des Berufungsurteils ist zu entnehmen, daß der Kläger während der streitigen Zeit Unternehmer des Eisenwarengeschäftes gewesen ist und daß im Geschäft damals auch fortlaufend Erwerbshandlungen vorgenommen worden sind. Das LSG hat darüber hinaus sogar eine Mitarbeit des Klägers im Betrieb festgestellt, wie der Kläger sie bei seiner persönlichen Anhörung vor dem LSG und wie sie dort auch seine Ehefrau als Zeugin angegeben haben. Damit hat der Kläger nach der hier vorgenommenen Auslegung des § 24 Abs. 2 Satz 2 AVG in der streitigen Zeit eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt. Dies wird nochmals in der Revisionsbegründung des Klägers deutlich; dort bestätigt er selbst, das Gewerbe werde (lediglich) „unter seinem Namen betrieben“.

Das LSG hat nur offengelassen, „wie umfangreich die Mitarbeit des Klägers in seinem Geschäft tatsächlich ist“. Einer solchen Klärung bedarf es jedoch auch nach der Rechtsauffassung des erkennenden Senats nicht. Desgleichen kommt es nicht darauf an, wie lange der Kläger das Eisenwarengeschäft noch betreiben wollte und welchen Gewinn er daraus in der streitigen Zeit erzielt hat. § 24 Abs. 2 Satz 2 AVG macht hinsichtlich der ausgeübten selbständigen Erwerbstätigkeit keine Einschränkungen zeitlicher oder umfangmäßiger Art wie etwa § 2 Abs. 1 Nr. 11 und § 4 Abs. 1 Nr. 4 AVG (vgl. auch Art. 2 §§ 9a Abs. 2, 49a Abs. 1 und 50 Abs. 1 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes) oder wie es im vorangehenden Satz 1 geschieht. Das bedeutet, daß es im Rahmen des § 24 Abs. 2 Satz 2 AVG auf Dauer und Ergiebigkeit der selbständigen Erwerbstätigkeit nicht ankommt. Dafür spricht im übrigen der bereits hervorgehobene Sinn und Zweck der Vorschrift, die ein Nebeneinander von Erwerbsunfähigkeitsrente und Einkünften aus selbständiger Erwerbstätigkeit ausschließen will. Ob ausnahmsweise etwas anderes gelten kann, wenn die selbständige Erwerbstätigkeit zeitlich oder im wirtschaftlichen Ergebnis nahezu unbedeutend ist, kann dahingestellt bleiben, weil ein derartiger Fall hier nicht vorliegt.

Hiernach war die Revision des Klägers als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

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