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11 RA 72/76

Aus den Gründen

Der 1908 geborene Kläger, von Beruf Kfz-Meister, hat bis 1943 in Stuttgart gewohnt. Er geriet als Angehöriger der Deutschen Wehrmacht bei Kriegsende in russische Gefangenschaft. Als Gefangener war er im polnisch verwalteten Schlesien zur Instandsetzung von Kraftfahrzeugen eingesetzt. Im Juni 1950 wurde er dort auf seinen Wunsch aus der Kriegsgefangenschaft entlassen. Die polnischen Zivilbehörden beschäftigten ihn anschließend als Kfz-Facharbeiter in L. Die Versuche des Klägers, die Ausreisegenehmigung in die Bundesrepublik Deutschland zu erhalten, blieben bis Juli 1957 ohne Erfolg.

Die Beklagte bewilligte dem Kläger ab März 1973 Rente wegen BU und ab Januar 1974 Altersruhegeld. Bei der Rentenberechnung wurde die Zeit von Juli 1950 bis Juli 1957 nicht als Versicherungszeit angerechnet.

Das SG hat die Beklagte verurteilt, die streitige Zeit als Ersatzzeit - i.S. des § 28 Abs. 1 Nr. 3 AVG - rentensteigernd zu berücksichtigen. Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. ...

Die Vorinstanzen haben in der Sache zu Recht der Klage stattgegeben. Nach § 28 Abs. 1 Nr. 3 AVG sind Ersatzzeiten u.a. Zeiten, in denen der Versicherte nach Beendigung eines Krieges, ohne Kriegsteilnehmer zu sein, durch feindliche Maßnahmen an der Rückkehr aus den unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten verhindert gewesen ist. Diese Voraussetzungen waren beim Kläger erfüllt.

Das LSG hat den Kläger für den streitigen Zeitraum zu Recht nicht mehr als Kriegsteilnehmer angesehen. Der Kläger war zu Beginn des Zeitraumes aus der Kriegsgefangenschaft entlassen worden. Seitdem war er kein Kriegsgefangener und darum auch kein Kriegsteilnehmer i.S. des § 28 Abs. 1 Nr. 3 AVG mehr. Die Kriegsgefangenschaft war vielmehr mit der Entlassung aus ihr beendet. Allerdings endet eine Kriegsgefangenschaft im allgemeinen nicht schon durch bloße Freilassung im Gewahrsamsland, wenn dieses nicht auch das Heimatland ist; eine Beendigung wird ferner verneint, wenn der Kriegsgefangene in den Ostblockstaaten nur formell „entlassen“ und in ein ziviles Arbeitsverhältnis überführt wird (BSGE 13, 16, 17 und SozR Nr. 25 zu § 1251 RVO). Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG haben die russischen Militärbehörden hier jedoch die Entlassung weder von einer freiwilligen Weiterarbeit in Polen abhängig gemacht noch den Kläger „zur Überführung“ in ein unfreiwilliges Arbeitsverhältnis entlassen. Mit der gleichzeitigen „Übergabe an die polnischen Behörden zur weiteren Verfügung“ ist nach dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe des LSG nur gemeint, daß sich der Kläger dort zwecks Ausstellung einer Ausreisegenehmigung melden sollte. Da diese Entlassung somit eine Rückkehr des Gefangenen in das Heimatland ermöglichen sollte und zudem dem Wunsch des Klägers entsprach, war mit ihr das Ende der Kriegsgefangenschaft verbunden. Bei anderer Betrachtungsweise müßte eine Fortdauer der Kriegsgefangenschaft mit Anrechnungspflicht dieser Zeit als Ersatzzeit i.S. des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG angenommen werden.

Zu Recht hat das LSG auch entschieden, daß der Kläger an der Rückkehr nach Deutschland durch feindliche Maßnahmen gehindert worden ist. Das LSG hat diesen Begriff im Einklang mit der Rechtspr. des BSG (vgl. SozR 2200 Nr. 7 zu § 1251) ausgelegt. Danach muß es sich um Maßnahmen eines ehemaligen Feindstaates handeln, die sich allgemein gegen den früheren Kriegsgegner Deutschland richteten; diese Zielrichtung konnte dadurch zum Ausdruck kommen, daß die Maßnahme hauptsächlich Bevölkerungsteile mit deutscher Volkszugehörigkeit treffen oder gerade die Ausreise nach Deutschland verhindern sollte.

Hiernach durfte das LSG freilich noch nicht die Art der Entlassung des Klägers aus der Gefangenschaft durch die russischen Militärbehörden als feindliche Maßnahme werten, zumal nicht festgestellt ist, daß diese damit eine Vereitelung der Rückkehr nach Deutschland bezweckt oder auch nur in Kauf genommen hätten. Dagegen hat das LSG zutreffend in dem Verhalten der polnischen Behörden gegenüber dem Kläger eine feindliche Maßnahme erblickt. Dieses Verhalten richtete sich gegen den früheren Kriegsgegner Deutschland, weil damit eine deutsche Fachkraft durch Verweigerung der Ausreisegenehmigung in Polen zurückgehalten wurde, um sie beim Wiederaufbau zum Ausgleich der von deutscher Seite (tatsächlich oder vermeintlich) verursachten Kriegsschäden einzusetzen. Gegen diese Feststellung des LSG sind keine Verfahrensrügen erhoben. Die materiellen wie formellen Rügen der Revision wollen nur geltend machen, in Polen habe ein allgemeines Ausreiseverbot bestanden, das die gesamte Bevölkerung betroffen habe. Mit diesem Einwand kann die Beklagte jedoch nicht durchdringen.

Auch wenn in Polen ein allgemeines Ausreiseverbot bestand, hatte die Ausreiseverweigerung gegenüber dem Kläger eine besondere persönliche Richtung, die sie gerade als feindliche Maßnahme kennzeichnet. Der Kläger war von den russischen Militärbehörden freigelassen worden und hatte nach völkerrechtlichen Grundsätzen ein Recht auf Rückkehr in das Heimatland. Er gehörte weder zu den Bürgern Polens noch zu den Bewohnern (Einwohnern) dieses Landes einschließlich der polnisch verwalteten Gebiete; er hatte niemals dort gewohnt; das Verbleiben in der streitigen Zeit beruhte nicht auf einem freiwilligen Entschluß. Gerade deswegen wurde er nicht von einem allgemeinen Ausreiseverbot gegenüber der Bevölkerung des polnischen und polnisch verwalteten Landes nur mitbetroffen; er war vielmehr Gegenstand davon zu trennender besonderer Maßnahmen. Diese eben darum feindlichen Maßnahmen i.S. des § 28 Abs. 1 Nr. 3 AVG haben ihn an der Rückkehr nach Deutschland gehindert; die Feststellung des Rückkehrwillens durch das LSG ist von der Beklagten nicht angefochten worden.

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