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11 RA 8/74

Gründe I.

Streitig ist, ob Versicherungssummen, die der Klägerin nach dem Tode ihres zweiten Ehemannes ausgezahlt worden sind, nach § 68 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) auf die wiederaufgelebte Witwenrente anzurechnen sind.

Die Klägerin hatte aus der Versicherung ihres im 2. Weltkrieg gefallenen ersten Ehemannes eine Witwenrente bezogen. Diese Rente fiel weg, als die Klägerin im Mai 1951 erneut heiratete. Der zweite Ehemann verstarb am 22. Januar 1971. Im März 1971 beantragte die Klägerin die Wiedergewährung der Witwenrente. Die Beklagte entschied durch Bescheid vom 27. Juni 1972, daß der Anspruch zwar wiederaufgelebt, die Rente aber nicht zu zahlen sei, weil außer einem anderen Rentenanspruch in Höhe von monatlich unter 10,00 DM ein „Unterhaltsanspruch“ in Höhe von monatlich 542,50 DM angerechnet werden müsse. Den letztgenannten Betrag ermittelte sie im Wege einer Verrentung mehrerer Versicherungssummen in Höhe von insgesamt 97.987,00 DM, die der Klägerin infolge des Todes ihres zweiten Ehemannes aus von diesem abgeschlossenen Versicherungsverträgen zugeflossen waren.

Mit der Klage wendet sich die Klägerin gegen die Anrechnung der verrenteten Versicherungssummen. Das Sozialgericht (SG) Bremen wies die Klage ab (Urteil vom 27.2.1973), das Landessozialgericht (LSG) Bremen gab ihr statt (Urteil vom 18.10.1973). Im Berufungsurteil ist ausgeführt:

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sowie im Schrifttum vertretenen Ansichten seien Leistungen aus Lebensversicherungsverträgen beim Aufleben der Witwenrente nach § 68 Abs. 2 AVG und den entsprechenden Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO) und des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) anzurechnen. Dem könne jedoch nicht gefolgt werden. Solche Leistungen zählten nicht zu den allein anrechenbaren Unterhalts-, Versorgungs- und Rentenansprüchen. Unter Unterhaltsansprüchen seien nur familienrechtliche Ansprüche zu verstehen. Ebensowenig überzeuge die Ansicht des BSG, unter Versorgungs- und Rentenansprüchen verstehe das Gesetz nicht nur Hinterbliebenenansprüche nach öffentlichem Recht, insbesondere nach beamtenrechtlichen Vorschriften bzw. aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Wenn man schon darauf abstelle, daß nach dem Gesetzeszweck Ansprüche erfaßt werden sollten, die den vor Auflösung der Ehe vom Ehemann zu gewährenden Unterhalt ersetzen sollten, so müßte auch ein Erwerb von Todes wegen berücksichtigt werden; diese Folgerung werde jedoch mit Recht nicht gezogen. Unverständlich sei, daß in der Kriegsopferversorgung, wenn man die Ansicht des BSG zugrunde lege, Versicherungssummen auf die Witwenausgleichsrente und den Schadensausgleich mit den aus ihnen zu erzielenden Einkünften, bei der Witwengrundrente mit ihrer Substanz berücksichtigt würden. Es widerspräche den Grundgedanken des BVG, Ansprüche anzurechnen, die darauf hinzielten, den vom zweiten Ehemann gewährten Unterhalt zu ersetzen. Denn die Witwengrundrente diene nicht der Bestreitung des Unterhalts, sondern dem Ausgleich im einzelnen nicht wägbarer Schäden, die die Witwe durch den Verlust ihres Ernährers erlitten habe. Auch ein Zurückgreifen auf den Gedanken der Vorteilsausgleichung sei nicht zulässig. Die Witwe habe einen verfassungsrechtlich geschützten Anspruch auf das Wiederaufleben einer von Vermögens- und Einkommensverhältnissen und jeder privaten Vorsorge unabhängigen Witwenrente. § 68 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 AVG regele lediglich die Kumulierung von Sozialleistungen; das gelte auch für die - nach Ansicht des LSG für eine Anrechnung allein in Frage kommenden - Unterhaltsansprüche gegen einen geschiedenen Ehemann; ihre Anrechnung sei von § 42 AVG her zu verstehen.

Gegen dieses Urteil hat die Beklagte die - zugelassene - Revision eingelegt und beantragt,

  • unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung gegen das Urteil des SG Bremen vom 27. Februar 1973 zurückzuweisen.

Sie beruft sich auf die bisherige Rechtsprechung des BSG, die sie für überzeugend hält.

Die Klägerin beantragt Zurückweisung der Revision.

Gründe II.

Die Revision der Beklagten ist begründet.

Nach der Rechtsprechung des BSG auf dem Gebiete der Kriegsopferversorgung rechnen zu den Ansprüchen, die beim Wiederaufleben einer Witwenrente anzurechnen sind, auch solche aus Lebensversicherungsverträgen (BSG 25, 262 [264]; Urteil des 9. Senats vom 16.5.1972 - 9 RV 490/70 -). Für den Bereich der gesetzlichen Rentenversicherungen hat der 1. Senat des BSG in seinem Urteil vom 16. Juli 1974 - 1 RA 11/73 - die gleiche Auffassung - auch bei Berücksichtigung des z.T. unterschiedlichen Gesetzeswortlautes - vertreten. Der erkennende Senat tritt dieser Ansicht bei. Die Bedenken des LSG gegen die bisherige Rechtsprechung des BSG greifen nicht durch.

Durch das Wiederaufleben der Witwenrente soll Rentenkonkubinaten (sog. „Onkelehen“) entgegengewirkt werden. Die Witwe soll von einer Eheschließung nicht durch die Befürchtung abgehalten werden, sie könne durch eine Wiederheirat ihre soziale Sicherheit für die Zeit nach dem Ende der Zweitehe verschlechtern (vgl. hierzu auch BVerfGE 25, 142 [149] und BVerwGE 26, 15 [19]). Demgemäß ist für ein Wiederaufleben nur insoweit Raum, als nach dem Ende der Zweitehe eine Versorgungslücke gegeben ist. An einer solchen Versorgungslücke fehlt es, wenn und soweit die Auflösung der Zweitehe einen Anspruch entstehen läßt, der bestimmt und geeignet ist, den ehelichen Unterhaltsanspruch zu ersetzen; die wiederaufgelebte Witwenrente ist gegenüber solchen Ansprüchen subsidiär (BSG 30, 220 [222] mit weiteren Nachweisen). Dabei begründet es grundsätzlich keinen Unterschied, ob es sich um privat- oder öffentlich-rechtliche Ansprüche handelt. Auch durch einen zivilrechtlichen Anspruch, insbesondere einen aus einem Lebensversicherungsvertrag, kann ebenso wie durch eine öffentlich-rechtliche Witwenrente eine Versorgungslücke nach der Zweitehe geschlossen werden und das Bedürfnis nach einem Wiederaufleben der Witwenrente ganz oder zum Teil entfallen. Wegen dieser Zwecksetzung des Gesetzes kommt der Verwendung der Begriffe „Versorgungs-, Unterhalts- oder Rentenanspruch“ nicht die Bedeutung zu, die ihr das LSG beilegen möchte. Diese Begriffe sind nicht in dem Sinn eindeutig, daß sie jeweils nur auf eng begrenzte und voneinander deutlich zu unterscheidende Ansprüche des Familien-, Rentenversicherungs- oder Versorgungsrechts bezogen werden könnten. Das zeigt sich auch daran, daß der Gesetzgeber z.B. in § 68 Abs. 2 AVG von einem neuen „Versorgungs-, Unterhalts- oder Rentenanspruch“, in § 44 Abs. 5 BVG dagegen von „Versorgungs-, Renten- oder Unterhaltsansprüchen spricht; dem Gesetzgeber liegt also jede Bindung an eine systematische Gliederung und Reihenfolge fern. Er verwendet hier vielmehr „offene“ Begriffe, weil er auf die wirtschaftliche Funktion der Ansprüche abstellen will.

Wenn das LSG demgegenüber § 68 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 AVG für eine Vorschrift hält, die allein eine Kumulation von Sozialleistungen regele, so bleibt es eine befriedigende Antwort auf die Frage schuldig, worin denn der Sinn und Zweck einer solchen Kumulationsregelung zu finden sei. Die Vorschriften über das Zusammentreffen und Ruhen von Renten (§§ 55 ff. AVG) sehen den Fall eines Zusammentreffens von wiederaufgelebten Witwenrenten aus der gesetzlichen Rentenversicherung mit Leistungen i.S. des § 68 Abs. 2 AVG nicht vor. Auch wenn man davon ausgeht, daß es einer derartigen Regelung gerade wegen § 68 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 AVG nicht bedurfte, läßt sich doch die letzte Vorschrift nicht in einen gedanklichen Zusammenhang mit den Vorschriften der §§ 55 ff. AVG bringen. Dagegen spricht bereits der systematische Aufbau des Gesetzes; es wäre unverständlich, warum die Regelung nicht in den Vorschriften über das Zusammentreffen und Ruhen von Renten getroffen worden ist; unerklärlich bliebe auch, warum sich § 68 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 AVG dann nicht auf das Zusammentreffen von Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung beschränkt hat.

Diese Widersprüche werden bei einer Auslegung, die allein von Sinn und Zweck der Wiederauflebensregelung (BSG 25, 262 [264]; 300, 220 [222]) ausgeht, vermieden. Die wiederaufgelebte Witwenrente ist nicht eine Leistung, die gleichsam gleichrangig neben einer anderen Witwenrente gewährt und nur in ihrer Höhe begrenzt wird, sondern eine Leistung, für die von vornherein nur Raum ist, soweit die Berechtigte einer ausreichenden Sicherung aus der Zweitehe entbehrt. Von diesem Standpunkt aus sind auch die Überlegungen des LSG zum Zweck der Witwenrente und zur Frage der Vorteilsausgleichung gegenstandslos; entscheidend ist nicht, was der Gesetzgeber mit der Gewährung von Witwenrenten im allgemeinen bezweckt, sondern allein der Zweck des Wiederauflebens. Insoweit ist es dem Gesetzgeber auch nicht verwehrt, der wiederaufgelebten Witwenrente einen anderen „Charakter“ als der originären Witwenrente zu geben, indem nun andere Leistungen anrechenbar werden. Unerheblich ist ferner, wie sich Kapitallebensversicherungen auf Witwenausgleichsrenten und Schadensausgleich in der Kriegsopferversorgung auswirken. Gegenstand dieses Verfahrens ist allein das Wiederaufleben einer Witwenrente aus der Rentenversicherung der Angestellten. Gewiß verdient bei der Auslegung des AVG der systematische Zusammenhang mehr oder weniger gleichlautender Vorschriften anderer Gesetze Beachtung; es ist aber weder ersichtlich, inwiefern die vom LSG erörterten Konsequenzen im tragenden Grundgedanken des BVG widersprechen sollen, noch auch, daß ein behaupteter Widerspruch allein im Wege der vom LSG für richtig gehaltenen Auslegung aufzulösen sein sollte.

Daß zu den Ansprüchen, die nach § 68 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 AVG anrechenbar sind, nicht nur solche des öffentlichen Rechts zählen können, ergibt sich schon daraus, daß im Gesetz auch die ihrer Natur nach regelmäßig privatrechtlichen Unterhaltsansprüche ausdrücklich genannt sind. Die Ansicht des LSG, es seien hier lediglich Unterhaltsansprüche gegen den geschiedenen Ehemann gemeint, hält einer Nachprüfung nicht stand. Denn auch wenn man, wie es das LSG getan hat, diesen Anspruch gleichsam als eine antizipierte Geschiedenenwitwenrente auffassen könnte, stünde seine Anrechnung in einem unauflöslichen Widerspruch zu der Annahme, daß Gegenstand der Regelung des § 68 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 AVG nur ein Zusammentreffen von Sozialleistungen sei. Zu begründen wäre eine solche Abweichung von dem angenommenen Prinzip nur mit der Erwägung, daß es sich hier um eine einer Sozialleistung, nämlich der Geschiedenenwitwenrente, im Hinblick auf die Zweckbestimmung vergleichbare Leistung handele; dann ist aber nicht ersichtlich, was einer Betrachtungsweise entgegenstehen sollte, die nach der Zweckbestimmung des Gesetzes die Frage beantwortet, welche Ansprüche anrechenbar sind.

Verfehlt ist auch der Hinweis des LSG auf den Erwerb von Todes wegen. Ob und unter welchen Voraussetzungen eine als Vermächtnis ausgesetzte Leibrente oder ein anderer versorgungshalber der Witwe vom Erblasser letztwillig zugewandter Vermögensvorteil im Rahmen von § 68 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 AVG zu berücksichtigen ist, bedarf hier keiner Entscheidung (vgl. dazu auch Urteil des 1. Senats vom 16.7.1974 - 1 RA 111/73 -). Vermögenswerte, die nach Vorschriften des Erbrechts anfallen, sind jedenfalls nicht regelmäßig dazu bestimmt, den Unterhalt der Berechtigten zu decken oder eine Unterhaltspflicht des Erblassers zu ersetzen; das gilt zumindest seit dem 1. Januar 1900 uneingeschränkt auch für das gesetzliche Erbrecht (§ 1931 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -) und den Pflichtteil (§ 2303 Abs. 2 BGB) der Witwe (vgl. Motive zu dem Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, V S. 369, 373). Daß die Nichtberücksichtigung solcher Vorteile der Witwe nach der Zweitehe ohne einen Versorgungs-, Renten- oder Unterhaltscharakter gelegentlich zu Ergebnissen führen kann, die auf den ersten Blick befremdlich erscheinen, mag zutreffen. Solche Ergebnisse mußte der Gesetzgeber aber in Kauf nehmen, wenn er auf eine allgemeine Bedürftigkeitsprüfung verzichten und allein darauf abstellen wollte, ob eine Versorgungslücke gegeben ist.

Zu Unrecht beruft sich das LSG zur Stützung seiner Ansicht schließlich auf Art. 14 des Grundgesetzes (GG). Nur nach Maßgabe des Gesetzes entstandene Rechtspositionen können Eigentum sein, nur in dem durch § 68 AVG gezogenen Rahmen könnte mithin ein durch Art. 14 GG geschützter Anspruch bestehen (vgl. BVerfGE 20, 31 [34]; 31, 212 [221]). Wie die im Wege der Auslegung zu ziehende Grenze im einzelnen verläuft, ist aber grundsätzlich eine Frage des einfachen Rechts (vgl. BVErfGE 18, 85 [92]). Es ist nicht ersichtlich, warum es dem Gesetzgeber von Verfassungs wegen verwehrt sein soll, das Wiederaufleben eines untergegangenen Anspruchs davon abhängig zu machen, daß eine Versorgungslücke vorliegt. Die Ansicht des LSG, § 68 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 AVG habe allein den Sinn, einen Witwenrentenanspruch für die Dauer der Zweitehe auszuschließen, findet im Gesetz keine Stütze; das Wiederaufleben bringt vielmehr einen untergegangenen Anspruch in einem näher bestimmten Umfang neu zur Entstehung (vgl. BSG [GS] 14, 238 [240]; vgl. auch BVerwGE 26, 15 [18 ff.]).

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

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