Navigation und Service

Logo der Deutschen Rentenversicherung (Link zur Startseite rvRecht)

rvRecht® - Rechtsportal der Deutschen Rentenversicherung

4 RJ 3/71

Gründe

Die Klägerin begehrt die jährliche Neuberechnung und Erhöhung ihrer Witwenrente. Ihr Ehemann - der Versicherte - ist im August ... gestorben. Damals schuldete er als unständig Beschäftigter (§§ 441, 1396 Abs. 2, 1405 Abs. 1 und 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) eigene Pflichtbeiträge in Höhe von 4.811,00 DM. Ein Teil dieser Rückstände war anerkannt oder durch Bescheid festgestellt.

Die Beklagte stellte die Witwenrente der Klägerin aus den bis zum Tode des Versicherten entrichteten Beiträgen mit monatlich 140,00 DM fest (Bescheid vom 22. Dezember 1965). Gegen die bis zum Januar 1966 fällige Rentennachzahlung in Höhe von 1.119,90 DM rechnete die Beklagte mit der Beitragsschuld sofort auf; zur Tilgung der Restforderung von 3.691,10 DM behielt die Beklagte von der Witwenrente, die vom 1. Februar 1966 an monatlich gezahlt wurde, jeweils den Betrag von 70,00 DM ein; der Klägerin wurde weitere Mitteilung über die Anweisung ihrer vollen Rente nach Tilgung der Beitragsschuld in Aussicht gestellt (Bescheidnachtrag vom 28. Dezember 1965). Mit Bescheid vom 11. Januar 1971 hat die Beklagte, nachdem die Aufrechnung der Beitragsschuld Ende Juni 1970 abgeschlossen war, die Witwenrente der Klägerin für die Zeit vom 1. Juli 1970 an neu berechnet.

Das Sozialgericht (SG) Bremen hat die Beklagte - dem Klageantrag entsprechend - verurteilt, die Witwenrente der Klägerin jährlich vom 1. Januar 1967 an unter Berücksichtigung der bis dahin jeweils erbrachten Beitragsrückstände neu zu berechnen (Urteil vom 8. September 1967). Das Landessozialgericht (LSG) Bremen hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 29. Oktober 1970).

Mit der Revision rügt die Beklagte die Verletzung der §§ 1268, 1409, 1418, 1420 sowie 1253, 1254, 1255 und 1258 RVO. Die Entrichtung von Pflichtbeiträgen nach dem Tode des Versicherten sei zulässig (§§ 1418 bis 1420 RVO) und zwar auch dann, wenn der Versicherte selbst zur Entrichtung der Beiträge verpflichtet gewesen sei (§ 1405 RVO). Diese könnten auch zu einer Erhöhung der Witwenrente (§ 1268 RVO) führen. Maßgebend für die Neuberechnung dürfte der Zeitpunkt der Beitragsentrichtung sein. Der Versicherte habe die ordnungsgemäße Beitragsentrichtung durch Verwendung von Beitragsmarken (§ 1409 RVO) versäumt. Die zur Abdeckung größerer Beitragsschulden eingehenden Teilbeträge würden bei den Versicherungsträgern so lange auf einem Verwahrkonto verbucht, bis der Rückstand abgedeckt sei. Danach werde die Gesamtsumme auf die einzelnen Monatsbeiträge verteilt und damit als Beiträge verwendet. Mit dieser Aufteilung seien die rückständigen Beiträge ebenso als verwendet anzusehen, wie wenn der Versicherte sie durch Entrichtung von Monatsmarken verwendet hätte. Wegen Verzuges sei der Gesamtbetrag auf einmal zu zahlen. Die Gestattung der Ratenzahlung, wozu keine Verpflichtung bestehe, ändere daran nichts; abgetragen werde nicht der einzelne in dem Gesamtbetrag enthaltene Beitrag, sondern ein Teil des Gesamtschuldbetrages. Eine frühere Aufteilung der Einzelbeträge sei systemwidrig und der Verwaltung nicht zumutbar. Entgegen der Ansicht des LSG müßte nämlich nicht halbjährlich, sondern nach jeder Abzahlung geprüft werden, ob sie einen Monatsbeitrag abdecke und zu einer Rentenerhöhung führe. Eine solche Verpflichtung wäre angesichts der Pflichtversäumnisse des Versicherten unerträglich. Schließlich sei die Frage zu entscheiden, wann die neu berechnete Rente einzusetzen habe. Nachentrichtete Pflichtbeiträge von Versicherten, die selbst zur Beitragsentrichtung verpflichtet seien, gälten - wie nachentrichtete freiwillige Beiträge - nicht als in der Zeit entrichtet, für die sie entrichtet seien (BSG 21, 193; Scheerer in SozVers. 1962, 368 und SGb 1965, 193). Anderenfalls würde sich das merkwürdige Ergebnis zeigen, daß die Rente zwar erst nach der Tilgung der Gesamtbeitragsschuld, dann jedoch in vollem Umfang rückwirkend neu berechnet werden müßte.

Die Beklagte beantragt,

  • die angefochtenen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

  • die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die jährliche Neuberechnung ihrer Rente, die die Beklagte selbst vor dem SG zunächst angeboten habe, für nicht schwierig. An der Rechtsprechung, daß nach § 1418 RVO wirksam nachentrichtete Beiträge auch hinsichtlich des Rentenbeginns wie rechtzeitig entrichtete Beiträge zu behandeln seien, habe sich nichts geändert.

Die Revision der Beklagten ist unbegründet.

Nach den Urteilen der Vorinstanzen ist die Beklagte verpflichtet, die Witwenrente der Klägerin jährlich - erstmals mit Wirkung vom 1. Januar 1967 an - unter Berücksichtigung der bis dahin jeweils getilgten Beitragsrückstände neu zu berechnen. Hierdurch ist die Beklagte nicht rechtswidrig beschwert. Die Klägerin hätte möglicherweise mit einem weitergehenden Klagebegehren durchdringen können. Dies brauchte der Senat jedoch nicht zu entscheiden. Die Beklagte als Revisionsklägerin darf gegenüber dem Berufungsurteil nicht schlechter gestellt werden. Die Klägerin hat sich weder der Berufung noch der Revision der Beklagten angeschlossen.

Die jährliche Neuberechnung der Witwenrente ist der Beklagten zuzumuten. Eine Rentenerhöhung - nach Eingang von Tilgungsbeträgen - von Jahr zu Jahr ist wahrscheinlich. Nach den Feststellungen des LSG wurden jährlich wenigstens sechs rückständige Beiträge getilgt, wodurch sich die Zahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre (§ 1258 RVO) erhöhte. - Die notwendigen Verwaltungsarbeiten hätten die Beklagte nicht übermäßig belastet, was noch näher dargestellt wird. Ob eine Neuberechnung in kürzeren Abständen ebenfalls noch zumutbar gewesen wäre, braucht wegen der Beschränkung des Klageantrags nicht geprüft werden.

Die Klägerin hat einen Anspruch auf Neuberechnung der Witwenrente. Sie hat wirksam Beiträge entrichtet, die sich auf die Höhe der Witwenrente auswirken.

Ob die Beklagte zur Aufrechnung befugt war, kann auf sich beruhen. Bedenken könnten sich daraus ergeben, daß lediglich unterstellt wurde, die Klägerin sei die Erbin oder wenigstens die Miterbin des Versicherten, und daß die Aufrechnung der vom Versicherten geschuldeten Beiträge gegen eine Hinterbliebenenrente allgemeine Grundsätze des öffentlichen Rechts verletzen könnte (vgl. hierzu Reichsversicherungsamt - RVA - in AN 1918, 467 und in EuM 40, 159; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. III S. 741; Stamm in SozVers. 1958, 337, 339; Schmidt in SozVers. 1966, 200, 201; Ricke in SozVers. 1968, 321; Drong in SGb 1970, 286, 287/288). Stellt das Abrechnungsverfahren zwischen der Beklagten und der Klägerin keine Aufrechnung mit der Wirkung des Erlöschens der sich deckenden Forderungen dar (§ 389 des Bürgerlichen Gesetzbuchs - BGB -), so handelt es sich um die Erfüllung der Beitragsforderungen der Beklagten durch die Leistung eines hierzu berechtigten Hinterbliebenen (vgl. auch § 267 Abs. 1 Satz 1 BGB), die darin besteht, daß die Beklagte von einem Teil ihrer eigenen Schuld (Witwenrente) frei wird.

Für die Wirksamkeit der Beiträge ist ohne Bedeutung, ob eine Aufrechnung oder eine Verrechnung anzunehmen ist. Die Beklagte hat die Beiträge von der Klägerin gefordert und angenommen. Sie kann sich nunmehr der Klägerin gegenüber nicht mehr auf Fristversäumnis (§ 1418 RVO) berufen, mag es sich um eine echte Beitreibung der Beiträge gehandelt haben oder nicht (vgl. Brackmann, a.a.O. S. 654g mit weiteren Hinweisen, insbesondere auf die Rechtsprechung des RVA; RVO-Gesamtkommentar, Anm. 2 zu § 1418 RVO). Die Anwendung des § 1420 Abs. 1 RVO (Gleichstellung der Mahnung und der Bereiterklärung mit der Beitragsentrichtung) scheitert allerdings daran, daß die Beiträge nicht binnen angemessener Frist entrichtet worden sind. Andererseits durfte die Beklagte die Beiträge fordern, weil der „Anspruch auf Rückstände“ noch nicht verjährt war (§ 29 Abs. 1 RVO). Die Verjährung wurde durch das Anerkenntnis des Versicherten (§ 208 BGB), durch den Feststellungsbescheid der Beklagten (§ 209 BGB; BSG in SozR Nr. 22 zu § 29 RVO) und durch das sozialgerichtliche Streitverfahren (§ 1420 Abs. 3 RVO) unterbrochen.

Der Tod des Versicherten schloß die wirksame Beitragsentrichtung nicht aus. § 1419 RVO gilt nicht für Pflichtbeiträge. Die Pflichtbeiträge unständig Beschäftigter können nicht mit freiwilligen Beiträgen gleichgestellt werden. Ein Rechtsmißbrauch (vgl. BSG in Breithaupt 1959, 137) scheidet aus, wenn der Versicherungsträger - wie in diesem Fall - die Beiträge nicht nur angenommen, sondern ausdrücklich und in Kenntnis des Eintritts des Versicherungsfalls gefordert hat.

Die Beklagte war nicht berechtigt, die Neuberechnung und Erhöhung der Witwenrente der Klägerin bis zur Tilgung aller Beitragsschulden hinauszuschieben. Eine solche Befugnis ergibt sich weder aus dem geltenden Recht noch aus einer allgemein anerkannten Verwaltungspraxis. Nach dem Gesetz kann der Berechtigte nach jeder einzelnen Beitragsentrichtung die Neuberechnung der Rente verlangen. Wie weit diesem Begehren im Einzelfall Gründe der Zumutbarkeit oder der Praktikabilität entgegenstehen mögen, ist an dieser Stelle nicht zu prüfen.

Die Revision geht davon aus, daß für die Neuberechnung der Witwenrente der Klägerin die Zeit der Beitragsentrichtung maßgebend sei. Dieser Grundsatz deckt das Klagebegehren der Klägerin. Ein Neuberechnungsanspruch entsteht, sobald durch Aufrechnung oder Verrechnung ein weiterer Beitrag entrichtet ist und sich auf die Höhe der Witwenrente auswirkt. Entgegen der Ansicht der Beklagten kommt es nicht darauf an, wenn alle Beitragsschulden getilgt sind. Eine Zusammenfassung oder gar ein Verschmelzen aller geschuldeten Beiträge zu einer „Gesamtschuld“ mit der Folge, daß die Beklagte zu einer Neuberechnung der Witwenrente erst verpflichtet wäre, wenn die ganze Schuld abgetragen ist, läßt sich weder aus dem Gesetz herleiten noch mit einer etwaigen Buchungspraxis der Rentenversicherungsträger begründen. Der Begriff „Gesamtschuld“, wie ihn das LSG gebraucht, gibt es nicht; die Gesamtschuldner, eine Mehrheit von Schuldnern, sind etwas anderes (vgl. §§ 421 ff. BGB). Die Revision verwendet den Ausdruck „Gesamtschuldbetrag“. Dieser bezeichnet jedoch nicht eine einheitliche, unteilbare Schuld; er ist lediglich ein Additionsergebnis, die Summe der Geldbeträge aller einzelnen Beitragsforderungen. Auch wegen Verzuges ist der Gesamtbetrag nicht auf einmal zu zahlen. Die Wirkungen des Verzuges sind im Gesetz (§§ 286 bis 290 BGB) aufgeführt; zu ihnen gehört nicht das von der Revision angenommene Verschmelzen mehrerer Einzelforderungen. Die vom LSG erwähnte Vorschrift des § 284 Abs. 2 BGB regelt nur den Eintritt des Verzuges ohne Mahnung, Klage oder Zahlungsbefehl (§ 284 Abs. 1 BGB), wenn für die Leistung die Zeit nach dem Kalender bestimmt ist oder sich nach dem Kalender berechnen läßt. - Eine selbstständiges Schuldversprechen oder Schuldanerkenntnis (§§ 780, 781 BGB) des Versicherten ist weder von der Beklagten behauptet noch vom LSG festgestellt. - Auch schafft die Feststellung von Rückständen durch einen Bescheid des Versicherungsträgers keine einheitliche Forderung. - Von Bedeutung könnte § 266 BGB sein, wonach der Schuldner zu Teilleistungen nicht berechtigt ist. Die Beklagte hat jedoch Ratenzahlungen eingeräumt, ob sie dazu verpflichtet war oder nicht. Wird eine solche Rate gezahlt, so kann der Gläubiger nicht mehr geltend machen, die Schuld bestehe auch in Höhe der Rate fort.

Die Einrichtung eines Verwahrkontos bei der Beklagten ist ein interner Verwaltungsvorgang. Die Buchungen auf diesem Konto sind ohne Einfluß darauf, wann ein Beitrag als entrichtet anzusehen ist. Hierfür ist vielmehr der Augenblick entscheidend, in dem die Beklagte einen entsprechenden Geldbetrag erhält. - Die Rüge der Revision, § 1409 RVO sei verletzt, stößt ins Leere. Die Verwendung von Beitragsmarken zur Beitragsentrichtung scheidet aus, wenn die Barzahlung zugelassen oder - wie in diesem Fall - die Aufrechnung (Verrechnung) erklärt ist.

Die Revision geht nicht vom richtigen Sachverhalt aus, wenn sie sich gegen eine - nachträgliche - Aufteilung der Gesamtsumme auf die einzelnen geschuldeten Monatsbeiträge wendet. Das LSG brauchte nicht damit zu argumentieren, daß die einzelnen Monatsbeiträge in jedem Fall zur Ermittlung der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre (§ 1258 RVO) - etwa durch Rückrechnung wieder neu - festgestellt werden müßten. Die einzelnen Monatsbeiträge, die der Versicherte schuldete, waren vielmehr der rechtliche und rechnerische Ausgangspunkt. Ein Gesamtschuldbetrag konnte nur festgestellt werden, wenn die einzelnen Beiträge nach dem Monat, für den sie zu entrichten waren, und - anfangs (vgl. § 1405 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 1419 Abs. 3 RVO) - nach ihrer Höhe feststanden. Die Monatsbeiträge sind auch nicht aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen verlorengegangen. Sie bildeten die Grundlage der Gegenforderung, als die Beklagte die Aufrechnung oder Verrechnung erklärte; sie führten zu der - die Ausführungen der Revision widerlegenden - Aufrechnung einer Versicherungskarte lange vor Ablauf der Gesamttilgungszeit; auf ihnen beruht die Neuberechnung der Witwenrente der Klägerin im Bescheid vom 11. Februar 1971.

Das Entstehen der Prüfungspflicht der Beklagten nach der Entrichtung jedes einzelnen Monatsbeitrags entspricht somit dem Gesetz und ist nicht systemwidrig. Grundsätzliche Einwände können von der Beklagten nicht erhoben werden. Die Beklagte hat die Beiträge, die nur rentenerhöhend wirken, im Wege der Aufrechnung entgegengenommen. Sie mußte dann auch die Wirkungen der Ratenzahlungen gelten lassen. Dagegen erscheint eine bis zum Ende der Gesamttilgungszeit andauernde Benachteiligung nicht berechtigt.

Die Überprüfung der Witwenrente in Jahresabständen bedeutete für die Beklagte keine übermäßige Arbeitsbelastung. Ein Tilgungsplan war schnell aufzustellen. Ein gröberer Tilgungsplan muß bereits beim Erlaß des Bescheidnachtrages vom 28. Dezember 1965 vorgelegen haben; anders läßt sich nicht erklären, daß die Beklagte der Klägerin das voraussichtliche Ende der Tilgungszeit mitteilen konnte.

Die Aufrechnung einer Versicherungskarte während des Laufs der Gesamttilgungszeit zeigt im übrigen, daß die Beklagte tatsächlich mit einem Tilgungsplan arbeitete. Die Frage, ob und in welchem Umfang die durch Tilgung bewirkte Entrichtung von Beiträgen jährlich auch eine Rentenerhöhung ergab, war relativ leicht zu beantworten.

Die Klägerin begehrt nur die jährliche Neuberechnung ihrer Witwenrente unter Anrechnung der bis dahin entrichteten Beiträge. Die Frage, ob die Beklagte darüber hinaus verpflichtet ist, die Witwenrente bereits mit Wirkung vom Rentenbeginn an neu zu berechnen, muß in diesem Rechtsstreit unbeantwortet bleiben.

Der Bescheid der Beklagten vom 11. Januar 1971 hat keine Wirkung, soweit er diesem Urteil entgegensteht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Zusatzinformationen