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12 RJ 262/66

Gründe I.

Der Rechtsstreit wird über die Zulässigkeit der Berufung (§ 146 Sozialgerichtsgesetz -  SGG -) und außerdem darüber geführt, ob ein Bescheid über die Gewährung des vorzeitigen Altersruhegeldes (§ 1248 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung - RVO -), der während des die Ablehnung der Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeitsrente betreffenden Berufungsverfahrens erlassen worden ist, Gegenstand des Verfahrens wird (§ 153 Abs. 1 i.V.m. § 96 Abs. 1 SGG).

Die im Jahre ... geborene Klägerin stellte im Juni 1964 Antrag auf Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit. Diesen Antrag lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 28. Dezember 1964). Die Klage hatte keinen Erfolg (Urteil vom 5. Oktober 1965). Während des Berufungsverfahrens gab die Beklagte dem weiteren Antrag der Klägerin auf Gewährung des vorzeitigen Altersruhegeldes vom 1. September 1965 an statt. Die gegen den Rentenbescheid vom 3. Januar 1966 erneut erhobene Klage, mit der sich die Klägerin gegen die Rentenhöhe wendet, ist beim Sozialgericht (SG) Aurich noch anhängig. Das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung der Klägerin gegen das Ersturteil zurück; es ließ die Revision zu (Urteil vom 28. April 1966).

Zur Begründung führte das LSG im wesentlichen aus: Mit Rücksicht auf den Altersruhegeldbezug seit 1. September 1965, neben dem gemäß § 1248 Abs. 6 RVO eine Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit ausscheide, sei nur noch die Gewährung von Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeitsrente für die Zeit vom 1. Juni 1964 bis 31. August 1965 streitig, Trotzdem sei die Berufung nicht nach § 146 SGG unzulässig, da der das Altersruhegeld gewährende Bescheid erst nach Einlegung der Berufung ergangen sei. Die Berufung sei jedoch unbegründet, da die Klägerin noch in der Lage sei, mindestens den halben Lohn einer gesunden Arbeiterin zu verdienen. Sie sei daher weder berufsunfähig noch gar erwerbsunfähig. Der das Altersruhegeld gewährende Bescheid vom 3. Januar 1966 sei - entgegen der Auffassung der Beklagten -nicht gemäß §§ 153 Abs. 1, 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden, weil er - gegenüber der zunächst streitigen Gewährung der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeitsrente - einen auf anderen Voraussetzungen beruhenden Anspruch mit einer für die Klägerin andersartigen Beschwer betreffe. Der bloße zeitliche Zusammenhang genüge für die Anwendung des § 96 SGG nicht. Da die Klägerin entsprechend der zutreffenden Rechtsmittelbelehrung im Bescheid vom 3. Januar 1966 vor dem SG Aurich erneut Klage erhoben habe, bestehe auch kein Anlaß, ihrem schriftlichen Vorbringen einen anderen Antrag zu entnehmen (§ 123 SGG). Aus dem gleichen Grunde bedürfe es auch keiner Prüfung, ob der Fall einer Klageänderung (Klageerweiterung) i.S. des § 99 SGG gegeben sei.

Gegen dieses Urteil hat die Beklagte form- und fristgerecht Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung der §§ 143, 146 und 96 Abs. 1153 Abs. 1 SGG. Da beim vorzeitigen Altersruhegeld i.S. des § 1248 Abs. 2 bzw. 3 RVO der Rentenantrag zu den materiell-rechtlichen Anspruchsvoraussetzungen gehöre, sei der Anspruch auf das vorzeitige Altersruhegeld bereits am 22. September 1965 mit der Stellung des Rentenantrags entstanden und damit der Anspruch der Klägerin auf Rente wegen Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit auf den Zeitraum bis zum 31. August 1965 begrenzt gewesen. Diese Begrenzung liege vor der Berufungseinlegung, so daß das Rechtsmittel bereits im Zeitpunkt seiner Einlegung nur Rente wegen eines abgelaufenen Zeitraumes i.S. des § 146 SGG betroffen habe. Daran ändere auch nichts, daß der Altersruhegeldbescheid erst im Januar 1966 und damit nach der Berufungseinlegung ergangen sei. Der die Leistung feststellende Verwaltungsakt habe den Anspruch auf vorzeitiges Altersruhegeld nicht begründet, sondern nur deklaratorische Bedeutung gehabt. Das LSG hätte deshalb die Berufung der Klägerin gegen das Urteil vom 5. Oktober 1965 als unzulässig verwerfen und gleichzeitig über die Rechtmäßigkeit des Altersruhegeldbescheides vom 3. Januar 1966 befinden müssen. Die Unzulässigkeit der Berufung habe eine sachliche Entscheidung über den Altersruhegeldbescheid nicht gehindert, da dieser trotzdem gemäß §§ 96 Abs. 1, 153 Abs. 1 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden sei. Aus der prozeßökonomischen Erwägung, die dem § 96 Abs. 1 SGG zugrunde liege, habe die bisherige Rechtsprechung gefolgert, daß diese Vorschrift weit auszulegen sei. Ihre Voraussetzung sei immer dann gegeben, wenn der neue Bescheid den Streitstoff und damit die Beschwer für den Betroffenen ändere oder den Betroffenen hinsichtlich des Streitgegenstandes noch mehr beschwere. Der Bescheid über das Altersruhegeld habe den bisherigen Streitstoff in dem Sinne beeinflußt, daß die Beschwer der Klägerin, die in der Ablehnung eines vermeintlichen Rentenanspruchs gelegen habe, vom 1. September 1965 an nicht mehr gegeben gewesen sei. Die Klägerin fühle sich aber durch den Altersruhegeldbescheid insofern vermehrt beschwert, als das Altersruhegeld nach ihrer Auffassung zu niedrig sei. Der neue Bescheid habe daher die bisher bestehende Beschwer der Klägerin geädert und eine andersgeartete Beschwer mit sich gebracht. Über diese hätte das LSG mit entscheiden müssen. Die von der Klägerin beim SG Aurich gegen den Altersruhegeldbescheid zusätzlich erhobene Klage sei daher unzulässig.

Die Beklagte beantragt,

  • das Urteil des LSG Niedersachsen vom 28. April 1966 abzuändern und die Berufung der Klägerin als unzulässig zu verwerfen, im übrigen die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.

Gründe II.

Die Revision ist nicht begründet.

Die von der Beklagten gegen das Berufungsurteil erhobenen Einwände vermögen die Entscheidung des LSG nicht zu entkräften.

Das LSG hat die Berufung der Klägerin gegen das klagabweisende Urteil des SG vom 5. Oktober 1965 zu Recht für zulässig gehalten. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) kommt es für die Frage, ob die Berufung nur die Rente für bereits abgelaufene Zeiträume i.S. des § 146 SGG betrifft und damit unzulässig ist, regelmäßig auf den Zeitpunkt ihrer Einlegung an. Betrifft die Berufung in diesem Zeitpunkt eine zeitlich unbegrenzte Rente, so wird sie nicht deshalb unzulässig, weil die Beklagte während des Berufungsverfahrens einen Rentenanspruch für einen Zeitraum anerkennt, der bereits vor Einlegung der Berufung beginnt (BSG-Urteil vom 26.06.1963 - 1 RA 196/61 - in SozR Nr. 9 zu § 146 SGG; vgl. auch BSG in SozR Nr. 6, 8 und 12 zu § 146 SGG).

Die Berufung ist am 26. Oktober 1965 eingelegt worden. Zu diesem sonach für die Zulässigkeit des Rechtsmittels maßgebenden Zeitpunkt hatte die Klägerin zwar schon das vorgezogene Altersruhegeld - am 22. September 1965 - beantragt. Es war aber noch offen, ob die Klägerin die Voraussetzungen für den Altersruhegeldanspruch erfüllen würde, weil die Beklagte darüber erst im Rentenbescheid vom 3. Januar 1966 und damit erst nach der Berufungseinlegung entschied. Bis zum 3. Januar 1966 und somit auch zur Zeit der Einlegung des Rechtsmittels bezog die Klägerin keine Rente und bis dahin betraf der Rechtsstreit daher die Gewährung einer Rente für einen unbegrenzten Zeitraum. Wenn die Beklagte meint, der Rentenbescheid vom 3. Januar 1966 habe mit Rücksicht auf die materiell-rechtliche Natur des Antrags auf Gewährung des vorzeitigen Altersruhegoldes nur noch deklaratorische Bedeutung gehabt, so kann dem nicht gefolgt werden. Der Umstand, daß beim vorzeitigen Altersruhegeld der Rentenantrag zu den materiell-rechtlichen Anspruchsvoraussetzungen gehört (§ 1290 Abs. 5 RVO) ändert nichts daran, daß eine Rente aus der Arbeiterrentenversicherung wirksam nur durch förmlichen Rentenbescheid (§ 1631 RVO) festgestellt werden kann (vgl. BSG Urt. v. 23.06.1960 in SozR Nr. 1 zu § 1631 RVO).

Soweit die Revision der Beklagten den Anspruch der Klägerin auf das vorzeitige Altersruhegeld betrifft, ist die Beklagte durch das Urteil des LSG beschwert, weil das LSG die Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 3. Januar 1966 - entgegen der Antragstellung der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 28. April 1966 - nicht geprüft hat (vgl. BSG in SozR Nr. 12 zu § 160 SGG).

Das LSG hat jedoch eine Änderung oder Ersetzung des die Berufs- und Erwerbsunfähigkeit der Klägerin ablehnenden Bescheids vom 28. Dezember 1964 durch den Altersruhegeldbescheid vom 3. Januar 1966 i.S. des § 96 Abs. 1 SGG zu Recht verneint. Der 11. Senat des BSG hat im Urteil vom 24. September 1968 (Az: 11 RA 199/67) ebenfalls die Ansicht vertreten, daß der Sachzusammenhang, der sich aus der Entscheidung über den Anspruch auf vorzeitiges Altersruhegeld für das Ende des Anspruchs auf Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit ergibt (vgl. BSG 25, 139), den Erfordernissen des § 96 SGG nicht genügt. Der erkennende Senat schließt sich der Rechtsauffassung des 11. Senats an.

Der 11. Senat hat die genannte Entscheidung damit begründet, daß durch die Bewilligung des vorzeitigen Altersruhegeldes der Streit darüber, ob der Klägerin - vor der Bewilligung des Altersruhegeldes - eine Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit zugestanden hat, nicht berührt worden ist. Er hat damit die bisherige Rechtsprechung des BSG weitergeführt, wonach die in § 96 Abs. 1 SGG genannte Rechtsfolge nur dann eintritt, wenn der neue Bescheid den bisherigen Streitgegenstand (§ 92 SGG) betrifft (so BSG 10, 103; 11, 146) oder wenigstens den Streitstoff des anhängigen Rechtsstreits beeinflussen kann (so BSG 5, 13 und BSG-Urteil vom 16.02.1966 - Az.: 1 RA 153/63). Beides könnte man nur insoweit annehmen, als Streitgegenstand bzw. Streitstoff des Verfahrens vor Erlaß des Altersruhegeldbescheids ebenfalls ein gegen die Beklagte gerichteter Anspruch auf Rente war. Diese nur äußerliche Gemeinsamkeit reicht aber trotz der an sich aus Gründen der Prozeßwirtschaftlichkeit gebotenen weiten Auslegung des § 96 SGG für die Anwendbarkeit der Vorschrift nicht aus. Um Gegenstand des Verfahrens zu werden, ist - was die Beklagte verkennt - vielmehr erforderlich, daß die Leistungen, die im alten und neuen Bescheid gewährt oder abgelehnt worden sind, ihrer Art nach die gleichen sind (BSG-Urteil vom 22.06.1967 in VersorgBL 1967, 123). Dies ist hier nicht der Fall. Der Bescheid vom 28. Dezember 1964 betrifft die Ablehnung der Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente, der Bescheid vom 3. Januar 1966 die Gewährung des vorzeitigen Altersruhegeldes. Diese Rentenarten sind von unterschiedlichen gesetzlichen Voraussetzungen abhängig; für die Feststellung und Zahlung kann eine unterschiedliche Zuständigkeit nach § 1311 RVO/§ 90 AVG begründet sein. Auch kann der Antrag auf Gewährung von Rente wegen Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit nicht als stillschweigender Eventualantrag auf Gewährung des vorzeitigen Altersruhegeldes aufgefaßt werden (BSG-Urteil vom 15.03.1962 in SozR Nr. 12 zu § 1248 RVO)o Der Altersruhegeldbescheid vom 3. Januar 1966 betrifft aber nicht nur eine andere Rentenart als sie im Klage- und Berufungsverfahren streitig war. Er änderte auch deswegen nicht den im vorausgegangenen Verfahren streitbefangenen Prozeßstoff, weil in diesem nur Streit über die Voraussetzungen eines Rentenanspruchs dem Grunde nach bestand, während der neue Bescheid nur noch hinsichtlich der Höhe einer darin gewährten (anderen) Rente streitig sein kann.

Der Bescheid über die Gewährung des vorzeitigen Altersruhegeldes vom 1. September 1965 an hat somit im Verhältnis zu dem Bescheid über die Ablehnung der Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente einen neuen unterschiedlichen Streitstoff und ist ohne Einfluß auf den Streit darüber, ob der Versicherungsfall der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit bereits vorher eingetreten war. Die durch den Altersruhegeldbescheid hervorgerufene neue andersartige Beschwer der Klägerin wird auch von der Beklagten nicht verkannt. Sie meint nur, das LSG hätte über diese neue Beschwer gemäß den §§ 96 Abs. 1, 153 Abs. 1 SGG mit entscheiden müssen. Die Beklagte übersieht dabei, daß von einer Änderung oder Ersetzung des angefochtenen Verwaltungsaktes durch den während des Berufungsverfahrens erlassenen neuen Verwaltungsakt nur dann gesprochen werden könnte, wenn der spätere Bescheid die Klägerin im Hinblick auf ihr bisheriges Prozeßziel, also die Gewährung einer Berufs- oder Erwerbsunfähigkeitsrente zu erreichen, noch beschwert hätte (vgl. BSG 11, 146). Gerade daran fehlt es. Zutreffend weist das LSG darauf hin, daß die sich nur auf den Anspruch der Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente beziehende Dauerwirkung des ersten Bescheids durch den Erlaß des Bescheids über die Gewährung des vorzeitigen Altersruhegeldes nicht beseitigt worden ist. Bei einem etwaigen Wegfall des vorzeitigen Altersruhegeldes (§ 1248 Abs. 3 Satz 2 RVO) wirkt sich vielmehr die frühere Ablehnung der Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente ebenso voll aus wie eine frühere Rentenbewilligung dann wieder in Kraft treten würde (vgl. BSG in SozR Nr. 4 zu § 1254 RVO).

Eine andere Auslegung des § 96 Abs. 1 SGG ist hier auch nicht nach den dieser Vorschrift zugrunde liegenden prozeßökonomischen Erwägungen geboten. Der 11. Senat hat in der genannten Entscheidung vom 24. September 1968 zutreffend darauf hingewiesen, daß durch die Einbeziehung des neuen Bescheides ein ganz neuer Streitstoff, nämlich die Berechnung des vorzeitigen Altersruhegeldes, in das anhängige Verfahren eingeführt würde. Dies kann auch mit Gründen der Prozeßwirtschaftlichkeit allein nicht gerechtfertigt werden. Vielmehr entspricht es den verfahrensrechtlichen Belangen der Beteiligten, wenn die Prüfung der Rentenhöhe einem gesonderten Verfahren vorbehalten bleibt.

Da somit die Voraussetzungen für die Anwendung des § 96 Abs. 1 SGG im Berufungsverfahren (§ 153 Abs. 1 SGG) nicht vorgelegen haben, hat das LSG den Bescheid vom 3. Januar 1966 zu Recht nicht als Streitgegenstand angesehen. Mit Rücksicht auf die gegen den Bescheid vom 3. Januar 1966 erneut erhobene und beim SG Aurich noch anhängige Klage sind damit für die Klägerin auch keine weiteren Rechtsnachteile verbunden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

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