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3 RK 84/65

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 22. Juli 1965 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe

I

Der Kläger verbüßt eine mehrjährige Zuchthausstrafe beziehungsweise befindet sich in Sicherungsverwahrung in der Strafanstalt Werl. Er wird seit dem 5. Juli 1961 zu Arbeiten auf dem anstaltseigenen Kabelhof herangezogen. Dafür erhält er die in Nr. 93 der Dienst- und Vollzugsordnung vorgesehene Arbeitsbelohnung, deren Höchstsätze 1.- DM je Tag betragen.

Mit Schreiben vom 2. September 1962 forderte der Kläger die beklagte Allgemeine Ortskrankenkasse auf, für seine Tätigkeit von der Verwaltung der Strafanstalt Beiträge zur Sozialversicherung einzuziehen. Die Beklagte lehnte dies sowohl durch den Bescheid vom 6. September 1962 als auch durch ihren Widerspruchsbescheid vom 19. November 1962 ab, weil die Tätigkeit des Klägers im Rahmen der Strafverbüßung beziehungsweise der Sicherungsverwahrung nicht der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung unterliege, die Vorschriften über die Versicherungspflicht nur auf "freie Arbeiter" anzuwenden seien.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage gegen diese Bescheide durch Urteil vom 15. Juli 1963 abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers durch Urteil vom 22. Juli 1965 zurückgewiesen; es hat die Revision zugelassen: Die Versicherungspflicht in den genannten Zweigen der Sozialversicherung setze ein entgeltliches, abhängiges in freier Entschließung eingegangenes Beschäftigungsverhältnis voraus. Bei der Arbeit der Strafgefangenen finde kein freier Austausch von Arbeit und Lohn statt. Der Kläger stehe vielmehr in einem öffentlich-rechtlichen Gewaltverhältnis, das ihn gemäß Art. 12 Abs. 3 aF des Grundgesetzes - GG - (= Art. 12 Abs. 4 nF GG), §§ 15, 42i des Strafgesetzbuches (StGB) dem Arbeitszwang unterwerfe, ohne daß ihm für die geleistete Arbeit ein Rechtsanspruch auf Zahlung des Tariflohnes zustehe.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger Revision eingelegt: Das angefochtene Urteil stelle zu Unrecht darauf ab, daß eine Sozialversicherungspflicht nicht bestehen könne, wenn kein hinreichendes Arbeitsentgelt gezahlt werde. Die Unternehmer zahlten der Strafanstalt für die Arbeitsleistung des Klägers im Tagesdurchschnitt etwa 25.- DM, wovon für Verpflegung, Personal- und Sachkosten nur etwa 4,50 DM Kosten entstünden. Die Einbehaltung des Überschusses verstoße gegen Art. 14 GG. Er, der Kläger, müsse für seine Arbeit die gleichen Rechte wie im freien Arbeitsleben - abgesehen von der Freiheitsentziehung - haben. Es komme nämlich nicht darauf an, ob ein hinreichender Arbeitslohn gezahlt werde, sondern darauf, ob ein Anspruch auf hinreichenden Arbeitslohn bestehe. Das LSG habe im übrigen verkannt, daß dem Kläger unter der Geltung des GG ein Anspruch auf gerechte Entlohnung seiner Arbeit zustehe. Die Vorenthaltung des gerechten Lohnes für geleistete Arbeit mit der damit einhergehenden, selbstverständlichen Sozialversicherung verstoße auch gegenüber Strafgefangenen beziehungsweise Sicherungsverwahrten gegen die Art. 1 Abs. 1, 3 Abs. 1, 14 Abs. 3 GG und Abschnitt I Art. 4 Abs. 1 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Der gesetzliche Sozialversicherungsschutz ergebe sich einfach mit Rücksicht auf die totale Rechtswidrigkeit und Grundgesetzwidrigkeit der Behandlung der Strafgefangenen in Ansehung ihres Arbeitslohnes.

Der Kläger beantragt,

  • unter Abänderung des Urteils des SG Dortmund vom 15. Juli 1963 und des Urteils des LSG Nordrhein-Westfalen vom 22. Juli 1965 die Beklagte unter Aufhebung ihrer Bescheide vom 6. September 1962 und 19. November 1962 zu verurteilen, von dem Beigeladenen zu 1) für ihn ab 5. Juli 1961 Beiträge zur Sozialversicherung zu fordern.

Die Beklagte und die Beigeladenen beantragen,

  • die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision konnte keinen Erfolg haben.

Voraussetzung für die gesetzliche Versicherungspflicht - soweit sie für den Kläger in Betracht kommt - ist gemäß § 165 Abs. 1 Ziff. 1 und Abs. 2, § 1227 Abs. 1 Ziff. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und § 56 Abs. 1 Ziff. 1 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung das Vorliegen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses, in dessen Rahmen eine Beschäftigung gegen Entgelt ausgeübt wird (vgl. BSG 3, 30 ff und SozR Nr. 41 und 51 zu § 165 RVO). Die Tätigkeit des Klägers unterscheidet sich in ihren gesamten Umständen von der abhängigen Arbeit freier Menschen. Der Kläger leistet zwar abhängige Arbeit in dem anstaltseigenen Betrieb. Im Gegensatz zu freien Arbeitnehmern verrichtet er diese Arbeit aber nicht auf Grund einer Verpflichtung aus einem Beschäftigungs- oder Arbeitsverhältnis, sondern unmittelbar auf Grund des öffentlich-rechtlichen Gewaltverhältnisses als Gefangener beziehungsweise Sicherungsverwahrter kraft seiner Unterworfenheit unter den Anstaltszwang. Zu dieser Arbeit ist er nach §§ 15, 42i StGB verpflichtet.

Schon das Reichsversicherungsamt (RVA) vertrat ständig die Auffassung, die Sozialversicherung umfasse nicht die Strafgefangenen, weil diese nicht in einem Beschäftigungsverhältnis ständen, in dem ein freier wirtschaftlicher Austausch von Arbeit und Lohn stattfinde (vgl. schon die 1. "Anleitung betreffend den Kreis der nach dem Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz versicherten Personen" vom 31. Oktober 1890, Nr. XI, AN IuAV 1891, S. 4; Revisionsentscheidung vom 31. Mai 1893, AN IuAV S. 111 Nr. 263; Praxis der Reichsversicherung, Bd. 3, 1935, Anleitung des RVA über den Kreis der nach der RVO gegen Invalidität und gegen Krankheit versicherten Personen, nach dem neuesten Stand der Gesetzgebung und Rechtsprechung ergänzt von Kreil, S. 83). Auch der erkennende Senat hat diese Auffassung vertreten. In seinem Urteil über die Versicherungspflicht von Fürsorgezöglingen vom 30. Januar 1963 (BSG 18, 246 ff, 251) hat er wörtlich ausgeführt:

"... grundsätzlich können nur freie Beschäftigungs- oder Ausbildungsverhältnisse Versicherungspflicht begründen. Wären die beigeladenen Jugendlichen den Insassen von Strafanstalten und Arbeitshäusern gleichzusetzen, die Kraft ihrer Unterworfenheit durch die Anstaltsgewalt Arbeit verrichten müssen, so wäre für ein freies Beschäftigungs- oder Arbeitsverhältnis kein Raum".

Dementsprechend vertreten auch Brackmann (Handbuch der Sozialversicherung, Bd. II, Stand: 29. Nachtragslieferung 1967, S. 308) und Peters (Handbuch der Krankenversicherung, Teil 2, Stand: 19. Nachtrag 1967, § 165 RVO S 17/56) die Meinung, die Versicherungspflicht setze ein freies Beschäftigungsverhältnis voraus, das heißt nur bei frei übernommener Tätigkeit könne man von einer Beschäftigung "gegen Entgelt" reden.

Diese Rechtsauffassung hält der Senat bei nochmaliger Prüfung aufrecht. Sie entspricht auch der arbeitsrechtlichen Ansicht, daß Strafgefangene keine Arbeitnehmer sind (vgl. Hueck-Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, 7. Aufl. Bd. I § 9 V 4). Denn es handelt sich um einen grundlegenden Unterschied, ob jemand auf Grund eines Arbeitsvertrages für einen Arbeitgeber tätig wird oder ob er als Strafgefangener beziehungsweise als Sicherungsverwahrter kraft gesetzlichen Zwangs arbeiten muß. Die Eigenschaft als Strafgefangener schließt zwar nicht aus, daß dennoch ein freies Arbeitsverhältnis vorliegt. So hat zB der 2. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in BSG 12, 71 ff einen Fall entschieden, in dem ein Strafgefangener in der sowjetischen Besatzungszone auf Grund einer dort erlassenen Verordnung über die Beschäftigung von Strafgefangenen vom 3. April 1952 (GBl S. 275) mit seinem Einverständnis zur Arbeitsleistung in einem volkseigenen Baubetrieb herangezogen und nach dem allgemein gültigen Tarif entlohnt wurde. Der 2. Senat hat diesen Strafgefangenen in der Sozialversicherung einem freien Arbeiter gleichgestellt, weil sein Beschäftigungsverhältnis durch den freien Austausch von Lohn und Arbeit, dagegen nicht durch eine Arbeitsleistung unter Zwangsanwendung gekennzeichnet sei. Um einen solchen Fall handelt es sich aber hier nicht.

Daß die Gefangenen nach § 540 RVO den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung genießen, ändert an dieser Beurteilung nichts. Denn diese Vorschrift dient dem Schutz der Strafgefangenen, sie sollen, soweit es sich um Unfälle bei Arbeiten handelt, in ihrem Interesse genau so behandelt werden wie die sonstigen von der gesetzlichen Unfallversicherung erfaßten Personen. Daraus kann also nicht geschlossen werden, daß ein Versicherungsschutz für die anderen Gebiete der Sozialversicherung bestehen muß.

Diese Regelung verstößt auch nicht gegen das GG. In Betracht könnten hier zunächst die Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 Satz 1 GG kommen, in denen auf der einen Seite das Gebot enthalten ist, die Würde jedes Menschen zu achten und zu schützen, und in denen auf der anderen Seite das Sozialstaatsprinzip aufgestellt wird.

Es mag gerechtfertigt sein, in der Forderung, die Menschenwürde zu schützen, das Gebot zu sehen, jedermann ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit zu gewährleisten (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung. Bd. I S. 101; Bachof, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaats, Heft 12 der Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer, 1954, 37 ff, 42; Löw, DöV 1958, 516 ff, 520). Es mag ebenso angebracht sein, dem Sozialstaatsprinzip normativen Charakter beizumessen derart, daß für den Staat der Schutz aller Staatsbürger gegen die Wechselfälle des Lebens zur unmittelbaren Aufgabe geworden ist (vgl. Brackmann, aaO, Bd. I S. 102). Selbst wenn man aber mit der Minderheit der im Schrifttum vertretenen Meinungen diesen Verfassungsbestimmungen ein subjektives Recht des Einzelnen entnehmen wollte (so Nipperdey, Die Würde des Menschen, in Neumann-Nipperdey-Scheuer, Die Grundrechte, Bd. 2 1954 S. 11 ff; Löw, Ist die Würde des Menschen im GG eine Anspruchsgrundlage? in DöV 1958, 516 ff; dagegen Dürig in Maunz-Dürig, Grundgesetz, Stand: 1. März 1966, Randnummern 3 und 13 zu Art. 1 und Wertenbruch, Grundgesetz und Menschenwürde, Köln-Berlin 1958, S. 31 ff mit weiteren Literaturhinweisen), so könnte sich dieses allenfalls auf allgemeine staatliche Fürsorge richten. Mit der Sicherung der Existenz, gegebenenfalls durch die Sozialhilfe, wäre den so verstandenen Verfassungsnormen jedenfalls Genüge getan.

Ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 GG ist in der gesetzlichen Regelung des Sozialversicherungsschutzes nicht zu sehen. Denn es ist ein Unterschied, ob jemand seine Arbeit auf Grund eines freien Arbeitsvertrages oder auf Grund des auf der Strafverbüßung beruhenden Arbeitszwanges verrichtet.

Ferner ist es auch schon begrifflich ausgeschlossen, daß die Regelung der Sozialversicherungsgesetze in dem hier in Betracht kommenden Zusammenhang gegen Art. 14 GG verstößt.

Schließlich muß auch ein Verstoß gegen die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 verneint werden. Von einer Sklaverei oder Leibeigenschaft kann schon deshalb nicht gesprochen werden, weil kein Eigentum des Übergeordneten an den Untergeordneten vorliegt. Sie kann auch nicht in der zwangsweisen Heranziehung zur Arbeit erblickt werden. Denn eine Zwangs- oder Pflichtarbeit, die nach Art. 4 Abs. 2 aaO verboten ist, liegt dann nicht vor, wenn jemand auf Grund einer rechtmäßigen Verurteilung durch ein zuständiges Gericht in Haft gehalten wird und eine Arbeit verrichtet, die normalerweise von solchen Personen verlangt wird (Art. 4 Abs. 3 Buchst. a und Art. 5 Abs. 1 Buchst. a der genannten Konvention; vergleiche hierzu auch OLG Hamm vom 31. Dezember 1965, NJW 1966, 602 und Kammergericht vom 9. Dezember 1965 in NJW 1966, 1088).

Die Revision muß daher zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

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