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1 RA 203/65

Gründe

Der Rechtsstreit betrifft den Anspruch der Klägerin auf „wiederaufgelebte“ Witwenrente (§ 68 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -). Die Klägerin hat bis zu ihrer Wiederheirat im August 1955 Witwenrente aus der Angestelltenversicherung (AnV) ihres ersten Ehemannes bezogen; ihr zweiter Ehemann, von Beruf Arzt, ist im November 1959 gestorben. Die Klägerin erhält seitdem von der Ärztekammer Niedersachsen eine Witwenbeihilfe, die auf den Bestimmungen der „Fürsorgeeinrichtung“ bzw. der späteren „Alterssicherungsordnung“ der Ärztekammer beruht. Die Beklagte hat mit Bescheid vom 2. November 1960 den Anspruch der Klägerin auf Witwenrente aus der AnV ihres ersten Ehemannes anerkannt; zugleich aber hat sie auf die Rentenbeträge von 147,30 für Dezember 1959 und von 156,20 DM monatlich ab 1. Januar 1960 die Witwenbeihilfe von 240,00 DM monatlich angerechnet, weil die Klägerin in dieser Höhe infolge Auflösung der zweiten Ehe einen neuen Versorgungsanspruch erworben habe; sie hat deshalb das Ruhen der Rente angeordnet.

Nach der Ansicht der Klägerin kann die Witwenbeihilfe nicht angerechnet werden; ihre Klage auf Auszahlung der Rente wurde jedoch abgewiesen; die Berufung blieb ohne Erfolg.

Das Landessozialgericht (LSG) ist der Meinung, daß die Klägerin auf die von der Ärztekammer Niedersachsen gezahlte Witwenbeihilfe einen Rechtsanspruch habe, unabhängig davon, daß die bis zum 31. Dezember 1963 bestehende „Fürsorgeeinrichtung“ in eine Alterssicherung der Ärztekammer Niedersachsen umgewandelt worden sei.

Die Voraussetzungen für eine Anrechnung der Witwenbeihilfe nach § 68 Abs. 2 AVG seien gegeben, weil sie als neuer Versorgungsanspruch anzusehen sei. Im übrigen stünden Unterhaltsbeiträge, auch wenn sie der Witwe als Kann-Bezüge gewährt werden, dem Bezug auf Grund eines Anspruchs gleich. Das LSG ließ die Revision zu (Urteil vom 14. Mai 1965).

Die Klägerin legte dieses Rechtsmittel ein und beantragte

  • unter Aufhebung der vorinstanzlichen Urteile und des Bescheids der Beklagten vom 2. November 1960 diese zu verurteilen, an sie vom 1. Dezember 1959 an die Witwenrente zu zahlen, und zwar ohne Anrechnung der ihr von der Ärztekammer Niedersachsen gezahlten Witwenbeihilfe.

Sie rügte die Verletzung des § 68 Abs. 2 AVG; das LSG habe den Begriff „Versorgungsanspruch“ im Sinne dieser Bestimmung verkannt. Darunter könne nur ein echter Rechtsanspruch verstanden werden. Auf die von der Niedersächsischen Ärztekammer gewährte Witwenbeihilfe besteht jedoch kein solcher Rechtsanspruch. Die „Fürsorgeeinrichtung“ sei - anders als die seit dem 1. Januar 1964 bestehende Alterssicherung der Ärztekammer Niedersachsen - keine Versorgungseinrichtung gewesen, sondern eine auf kollegialer Ebene errichtete Hilfs- und Fürsorgegemeinschaft. Die Rechtsauffassung des LSG, daß auch Kann-Bezüge nach § 68 Abs. 2 AVG anrechenbar seien, finde im Gesetz keine Stütze. Die Beklagte beantragte die Zurückweisung der Revision.

Die Revision ist zulässig, aber unbegründet. Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt, weil die übrigen Voraussetzungen des § 68 Abs. 2 AVG gegeben sind, allein davon ab, ob die Witwenbeihilfe, die die Klägerin von der Ärztekammer Niedersachsen laufend erhält, als neuer Versorgungsanspruch im Sinne dieser Vorschrift anzusehen ist.

Hierzu hat das LSG zunächst festgestellt, die Klägerin habe sowohl für die Zeit bis zum 31. Dezember 1963 (Bestehen der „Fürsorgeeinrichtung“ der Niedersächsischen Ärztekammer), als auch für die Zeit vom 1. Januar 1964 an (Inkrafttreten der „Alterssicherungsordnung“) einen Rechtsanspruch auf Witwenbeihilfe erlangt. Es hat diese Feststellung aus der Satzung der auf Grund des § 8 des Niedersächsischen Gesetzes über Standesvertretungen der Ärzte, Apotheker, Tierärzte und Zahnärzte i.d.F. vom 22. August 1955 (Nds. Gu VBl. S. 239) geschaffenen „Fürsorgeeinrichtung“ und späteren „Alterssicherungsordnung“ der Ärztekammer Niedersachsen hergeleitet. Bei diesen Bestimmungen handelt es sich um irreversibles Recht, nämlich solches, das nur in Niedersachsen gilt und dessen Geltungsbereich sich nicht über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus erstreckt (§ 162 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Das Revisionsgericht darf in einem solchen Fall nicht prüfen, ob die irreversible Rechtsnorm besteht und ob sie vom Berufungsgericht auf den Sachverhalt richtig angewendet worden ist (§ 562 der Zivilprozeßordnung - ZPO -; § 202 SGG). Dem Revisionsgericht obliegt vielmehr nur die Prüfung, ob durch die Anwendung von irrevisiblen Normen revisibles Recht - hier § 68 Abs. 2 AVG - verletzt wird, sei es durch dessen Nichtanwendung oder durch dessen unrichtige Anwendung (BSG 3, 77, 80). Eine solche Verletzung revisiblen Rechts läßt sich aber nicht feststellen. Das LSG hat seine Überzeugung vom Bestehen eines Rechtsanspruchs auf die Witwenbeihilfe darauf gestützt, daß der Klägerin die Zahlungen nicht freiwillig, sondern auf Grund allgemeiner Richtlinien der Ärztekammer und auf Grund vorausgegangener Beitragsleistungen des zweiten Ehemannes vorbehaltlos und endgültig gewährt werden. Wenn das LSG aus den Merkmalen geschlossen hat, daß die Bewilligung der Leistung durch die Ärztekammer zu einem Rechtsanspruch der Klägerin geführt hat, so ist damit dieser in zahlreichen Rechtsgebieten inhaltsgleich verwendete Begriff nicht verkannt (vgl. § 194 des Bürgerlichen Gesetzbuches; § 54 Abs. 4 SGG sowie BSG 8, 256, 262, 263; 12, 65; 14, 238). Zwar hat das LSG, wie die Revision zutreffend hervorgeht, in den Urteilsgründen nicht ausdrücklich gesagt, die Ärztekammer Niedersachsen habe der Klägerin einen notfalls mit der Klage durchsetzbaren Anspruch eingeräumt. Das LSG hat jedoch offensichtlich nicht verkannt, daß die Einklagbarkeit ein wesentliches Merkmal des Rechtsanspruchs ist. Das ergibt sich aus den Erwägungen (am Schluß der Urteilsgründe) über die Anrechenbarkeit auch einer etwaigen Kann-Leistung; sie machen deutlich, daß sich das LSG über die Bedeutung des Begriffs Rechtsanspruch im Gegensatz zu einer bloßen Ermessensleistung (Kann-Bezüge) im Klaren war, auch wenn es sich bei diesen Ausführungen des LSG nur um Hilfserwägungen handelt, die das angefochtene Urteil nicht tragen. Der Senat braucht deshalb zu diesen Erwägungen auch keine Stellung zu nehmen. Ausgangspunkt seiner Betrachtung muß vielmehr die ohne Verkennung des Begriffs getroffene Feststellung des LSG sein, daß die Klägerin einen (einklagbaren) Rechtsanspruch auf die Witwenbeihilfe erlangt hat.

Wenn das LSG hieraus weiter gefolgert hat, daß die Witwenbeihilfe ein Versorgungsanspruch im Sinne von § 68 Abs. 2 AVG sei, so ist auch dies rechtlich nicht zu beanstanden. Unter Versorgungsansprüchen im Sinne dieser Vorschrift sind nicht etwa Ansprüche nach beamtenrechtlichen Vorschriften oder Grundsätzen oder Ansprüche nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) zu verstehen; vielmehr ist der Begriff „Versorgung“ schon vom allgemeinen Sprachgebrauch her so umfassend, daß hierunter auch solche Ansprüche fallen, die Angehörigen bestimmter Berufsgruppen und deren Hinterbliebenen als Ersatz für weggefallene Einkünfte oder Unterhalt zustehen und aus einem für solche Leistungen vorgesehenen Fonds erfüllt werden. Das trifft auch auf die von den öffentlich-rechtlichen Organisationen der Ärzte geschaffenen Fürsorge- und Versorgungseinrichtungen zu, wobei - entgegen der Ansicht der Revision - den Bezeichnungen dieser Einrichtungen keine entscheidende Bedeutung zukommt (vgl. Peters, „Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit berufsständischer Pflichtversorgungseinrichtungen für Ärzte“, Köln 1954 S. 3). Allein wichtig ist vielmehr, daß die Leistungen zu dem Zweck gewährt werden, dem Empfänger die Bestreitung des notwendigen Lebensunterhalts zu ermöglichen oder zu erleichtern (BSG 25, 262, 263). Daß die Witwenbeihilfe der Ärztekammer Niedersachsen - in der Zeit bis zum 31. Dezember 1963 und auch danach - der Klägerin zu diesem Zweck gewährt wurde und wird, ergibt sich schon aus der Natur dieser Leistung als „Beihilfe“; die Revision räumt auch ausdrücklich ein, daß die Beihilfe für den Lebensunterhalt der Klägerin bestimmt sei. Damit sind aber die Voraussetzungen für einen Versorgungsanspruch nach § 68 Abs. 2 AVG gegeben. Die Beklagte ist nach dem Gesetz verpflichtet, ihn auf die wiederaufgelebte Witwenrente anzurechnen. Die Revision der Klägerin ist hiernach unbegründet und muß deshalb zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

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