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1 RA 191/63

Gründe

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte auf die nach § 68 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) wiederaufgelebte Rente der Klägerin deren infolge Auflösung der zweiten Ehe erworbenen Unterhaltsanspruch gegen den zweiten Ehemann anrechnen kann, wenn bereits der Träger der Beamtenversorgung den Unterhaltsanspruch nach § 164 Abs. 3 des Bundesbeamtengesetzes (BBG) in vollem Umfang auf das beamtenrechtliche Witwengeld angerechnet hat.

Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) bezog die Klägerin als Witwe des auf Ende 1943 für tot erklärten ersten Ehemannes Sch. Witwenrente aus der Kriegsopferversorgung (KOV) und aus der Angestelltenversicherung (AnV). Diese Renten fielen weg, als die Klägerin im Jahre 1946 sich mit O. verheiratete. Die zweite Ehe wurde im April 1961 aus Verschulden des Ehemannes geschieden. Kurz zuvor hatten die Eheleute einen Auseinandersetzungsvertrag geschlossen, in dem sich O. u.a. verpflichtete, der Klägerin für die Dauer von fünf Jahren einen monatlichen Unterhaltsbetrag von 100,00 DM zu zahlen.

Nach der Scheidung betrieb die Klägerin das Wiederaufleben ihrer früheren Witwenversorgung. Nach einem Bescheid der Senats-Kommission für das Personalwesen in B. vom 10. Juli 1961 erhält die Klägerin Witwenbezüge nach dem G 131 in Höhe von 214,22 DM und vom 1. Oktober 1961 an in Höhe von 376,27 DM monatlich. Hierauf wurde der Unterhaltsanspruch (100,00 DM monatlich) gegen den geschiedenen Mann für die Dauer von fünf Jahren angerechnet. Über den beim Versorgungsamt B. gestellten Antrag der Klägerin und die etwaige Anrechnung des Unterhaltsanspruchs auf die Versorgungswitwenrente nach § 44 Abs. 2 und Abs. 5 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) ist nach den Feststellungen des LSG bisher nicht entschieden. Die Beklagte bewilligte der Klägerin die Witwenrente aus der AnV ihres ersten Ehemannes vom 1. Mai 1961 an in Höhe von 103,40 DM, rechnete aber hierauf - vorläufig für die Dauer von fünf Jahren - ebenfalls den gegen den zweiten Ehemann erworbenen Unterhaltsanspruch von 100,00 DM monatlich an (Bescheid vom 22. Januar 1962).

Die gegen diese Anrechnung gerichtete Klage hatte Erfolg. Das Sozialgericht (SG) B. hob den Bescheid der Beklagten insoweit auf, als von der Witwenrente der Klägerin monatlich 100,00 DM abgezogen werden (Urteil vom 23. Januar 1963). Das LSG B. wies - unter Zulassung der Revision - die Berufung der Beklagten zurück: Zwar könne die Klägerin der Anrechnung durch die Beklagte nicht entgegenhalten, daß der Unterhaltsbetrag voraussichtlich auch von der Versorgungsverwaltung auf die Versorgungswitwenrente angerechnet werde; denn die Klägerin habe die Möglichkeit, die Zahlung des Unterschiedsbetrags im Wege des Härteausgleichs zu beantragen. Dagegen könne die Klägerin sich mit Erfolg darauf berufen, daß die Unterhaltszahlungen des geschiedenen Mannes bereits bei der Festsetzung ihrer Versorgungsbezüge nach dem G 131 angerechnet worden seien. Danach habe sie keinen Vorteil mehr aus der aufgelösten Ehe, der nach § 68 Abs. 2 AVG auszugleichen wäre. Für die (nochmalige) Anrechnung der Unterhaltszahlung auf die Witwenrente aus der AnV sei daher kein Raum (Urteil vom 16. Mai 1963).

Die Beklagte legte Revision ein mit dem Antrag

  • unter Aufhebung der vorinstanzlichen Urteile die Klage abzuweisen.

Sie rügte eine unzutreffende Anwendung des § 68 Abs. 2 AVG. Nach dem Wortlaut dieser Vorschrift bestehe keine Möglichkeit, auf die Anrechnung des Unterhaltsanspruchs zu verzichten. Aber selbst wenn es im Sinne des Gesetzes läge, eine „Doppelanrechnung“ des neuerworbenen Unterhaltsanspruchs zu vermeiden, bliebe immer noch ungeklärt, welcher der beteiligten anrechnungsbefugten Leistungsträger auf die Anrechnung zu verzichten hätte. Eine Rangfolge der einzelnen Anrechnungsansprüche gebe es nicht. Vielmehr bestehe eine Gesetzeslücke. Diese könne nicht nach nur förmlichen Gesichtspunkten etwa danach ausgefüllt werden, welcher Leistungsträger zuerst den Bescheid über die in seinem Bereich wiederaufgelebte Leistung erlasse. Den Ausschlag müßten vielmehr sachliche Gründe geben; diese führten aber zu einem Vorrang der Anrechnung im Bereich der Rentenversicherung. Dem Vermögen der Versichertengemeinschaft gebühre gegenüber dem Staatshaushalt der stärkere Schutz. Dafür spreche u.a. das Vorzugsrecht für rückständige Sozialversicherungsbeiträge im Konkurs (§ 28 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung - RVO - i.V.m. § 61 Nr. 1 der Konkursordnung - KO -), die den Steuerforderungen des Staates und der Gemeinden vorgingen. Die Anrechnungsvorschrift des § 68 Abs. 2 AVG gehe deshalb derjenigen des § 164 Abs. 3 BBG vor; eine Anrechnung nach dieser Vorschrift komme erst zum Zuge, wenn ein etwa anrechenbarer Unterhaltsanspruch durch die Anrechnung nach § 68 Abs. 2 AVG nicht voll verbraucht sei.

Die Klägerin beantragte

  • die Zurückweisung der Revision.

Nach ihrer Meinung verstößt die mehrfache Anrechnung des Unterhaltsanspruchs gegen Art. 1 Abs. 1, 3 Abs. 1 und 6 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG).

Der Senat konnte nach Lage der Akten entscheiden, nachdem der im Termin allein erschienene Vertreter der Beklagten dies beantragt hatte (§ 126 SGG).

Die Revision ist zulässig, im Ergebnis aber unbegründet. Die Beklagte ist nicht befugt, den Unterhaltsbetrag von 100,00 DM monatlich nach § 68 Abs. 2 AVG von der Witwenrente der Klägerin aus der AnV abzuziehen, wenn der gleiche Betrag für den gleichen Monat bereits von dem beamtenrechtlichen Witwengeld der Klägerin nach § 164 Abs. 3 BBG abgezogen worden ist.

Zu diesem Ergebnis ist der Senat gekommen, weil die öffentlich-rechtlichen Ansprüche der Klägerin als Witwe ihres ersten Ehemannes unabhängig und unverkürzt nebeneinander bestanden, infolge des Abschlusses der zweiten Ehe sämtlich wegfielen und mit der Auflösung unabhängig voneinander wiederauflebten, entsprechende Vorschriften gelten für die Rentenversicherung der Arbeiter (§ 1291 RVO), für die knappschaftliche Rentenversicherung (§ 83 RKG), für die Unfallversicherung (§ 615 RVO), für die Kriegsopferversorgung (§ 44 Abs. 2 und Abs. 5 BVG) und für das Bundesentschädigungsgesetz (§ 23). Alle diese Vorschriften sollen dazu dienen, der nach diesen Gesetzen versorgungsberechtigten Witwe den Entschluß zur Wiederheirat zu erleichtern, wie der Senat in seiner Entscheidung vom 29. Mai 1963 - 1 RA 221/61 - unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien und die Literatur dargelegt hat (BSG 19, 153 = SozR RVO § 1291 Nr. 7).

Auf die wiederauflebenden Leistungen des öffentlichen Rechts muß sich die Berechtigte die Ansprüche anrechnen lassen, die sie infolge der Auflösung der zweiten Ehe erwirbt. Diese Anrechnung kann weder dadurch gehindert werden, daß die Berechtigte auf ihre Ansprüche - gegenüber dem Verpflichteten wirksam - verzichtet, noch dadurch daß sie durch Vertrag ihre „neuen“ Ansprüche um die wiederaufgelebte Rente mindert (BSG 21, 279 = SozR RVO § 1291 Nr. 9, BSG 19, 153 = SozR RVO § 1291 Nr. 7). Ziel dieser gesetzlichen Vorschriften über das Wiederaufleben der Ansprüche nach dem ersten Ehemann und der Anrechnung der infolge der Auflösung der zweiten Ehe entstandenen Ansprüche ist es, daß die wiederverheiratete Witwe nach Auflösung der zweiten Ehe sich nicht schlechter, aber auch nicht besser stellt als nach Auflösung der zweiten Ehe entstandenen Ansprüche nicht zu Lasten der wiederauflebenden gekürzt werden.

Mit dieser Zielsetzung ist es aber nicht vereinbar, wenn die Ansprüche aus der ersten Ehe, die bis zur Wiederheirat unabhängig und ungekürzt nebeneinander gewährt werden mußten, beim Wiederaufleben jeder für sich um die infolge der Auflösung der zweiten Ehe entstandenen Ansprüche gekürzt werden könnten. Dadurch würde nämlich die Summe der öffentlich-rechtlichen Bezüge nach dem verstorbenen ersten Ehemann um ein Vielfaches der infolge der Auflösung der zweiten Ehe entstehenden Ansprüche gekürzt; sie könnten sogar ganz wegfallen, wenn diese höher sind als jeder einzelne der wiederauflebenden Ansprüche aus der ersten Ehe. Dadurch, daß weder § 68 Abs. 2 AVG noch andere Vorschriften dieses Gesetzes regeln, wie bei Zusammentreffen mehrerer nach verschiedenen Gesetzen wiederauflebender Witwenbezüge zu verfahren ist, noch irgendeines der anderen in Betracht kommenden Gesetze entsprechende Vorschriften enthält, ist eine Lücke im Gesetz entstanden. Diese Lücke muß der Senat ausfüllen; hierbei ist er von den folgenden Erwägungen ausgegangen.

Dem Sinn und Zweck der oben erwähnten Gesetze entspricht es aus den dargelegten Gründen, wenn die infolge der Auflösung der zweiten Ehe entstandenen Ansprüche insgesamt nur einmal angerechnet werden. Da diese Ansprüche der Klägerin aber schon auf ihre wiederaufgelebte beamtenrechtliche Versorgung angerechnet worden waren, konnte sie die Beklagte nicht noch einmal anrechnen. Denn es gibt keine gesetzlichen Vorschriften über das Verhältnis der Anrechnungsbefugnis der verschiedenen Leistungspflichtigen zueinander, auf die sich die Klägerin hätte berufen können, um die Anrechnung ganz oder teilweise dem Leistungspflichtigen gegenüber abzuwehren, der sie zuerst in Anspruch nahm. Insoweit geht auch der Hinweis der Beklagten fehl, aus dem Vorrecht ihrer Beitragsrückstände im Konkurs des Arbeitgebers vor den Steuerforderungen (§ 28 Abs. 3 RVO) ergebe sich ein Vorrang ihrer Anrechnungsbefugnis vor derjenigen des Trägers der beamtenrechtlichen Versorgung.

Die Lage der Klägerin ist daher hinsichtlich der Anrechnung der infolge der Auflösung der zweiten Ehe entstandenen Ansprüche dieselbe wie die des Schuldners einer Gesamtgläubigerschaft nach bürgerlichem Recht (§§ 428, 430 BGB). Sie muß sich von jedem Leistungspflichtigen die Anrechnung des vollen Betrages dieser Ansprüche gefallen lassen, aber sie braucht dies auch nur einmal hinzunehmen. Der Senat hat keine Bedenken, diese Vorschriften zur Ausfüllung der aufgezeigten Lücke entsprechend heranzuziehen.

Nach Auffassung des Senats entsteht dadurch für die Anrechnungsberechtigten kein unbilliger Nachteil; denn auch für ihr Verhältnis zueinander bietet sich die Anwendung der Grundsätze des bürgerlichen Rechts über die Gesamtgläubigerschaft an. Diese Grundsätze werden von den Zivilgerichten z.B. auch für die insoweit vergleichbaren Fälle angewandt, daß ein Unfall für den Träger der Unfallversicherung und für den Träger der Rentenversicherung Rentenverpflichtungen auslöst und der nach § 1542 RVO übergegangene Anspruch auf Schadensersatz der Höhe nach nicht ausreicht, um beiden Versicherungsträgern vollen Ersatz zu leisten; hier sieht die Rechtsprechung die Versicherungsträger, soweit sie konkurrieren, als Gesamtgläubiger an, wobei für den Innenausgleich das Größenverhältnis der beiderseitigen Rentenbelastungen maßgebend sein soll (BGHZ 28, 68; ebenso beim gleichzeitigen Übergang von Schadensersatzansprüchen, auf den Versicherungsträger nach § 1542 RVO und auf die Deutsche Bundesbahn nach § 139 BBG: OLG Stuttgart in NJW 1955 S. 305). Über diese Ausgleichsansprüche ist aber im vorliegenden Rechtsstreit nicht zu entscheiden; er wird vielmehr nur um die von der Beklagten vorgenommene Anrechnung geführt. Diese war aber - wie oben dargelegt - nicht mehr berechtigt. Das im Ergebnis richtige Urteil des LSG muß daher bestätigt und die Revision der Beklagten zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

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