9 RV 294/60
Gründe
Der Kläger rügt mit Recht eine Verletzung des § 67 SGG. Das LSG hat die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist für den Antrag auf mdl. Verhandlung (§§ 216 Nr. 2, 105 Abs. 2 SGG. a.F.) abgelehnt, weil der Kläger das Verschulden seiner Ehefrau als Ersatzperson bei der Zustellung zu vertreten und außerdem durch eigenes schuldhaftes Verhalten die Antragsfrist des § 105 Abs. 2 SGG. a.F. versäumt habe. Der von dem LSG. festgestellte Sachverhalt ist von der Revision nicht angegriffen und daher der rechtlichen Beurteilung durch das Revisionsgericht zugrunde zu legen (§ 163 SGG.). Er rechtfertigt nicht die von dem LSG. gezogenen Schlußfolgerungen.
Nach § 67 Abs. 1 SGG. ist dem Beteiligten, der ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzl. Verfahrensfrist einzuhalten, auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Fassung und Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift lassen keinen Zweifel darüber, daß die Wiedereinsetzung im soz.gerichtl. Verfahren nicht auf die Fristversäumnis durch Naturereignisse oder andere unabwendbare Zufälle - wie im Zivilprozeß § 233 Abs. 1 ZPO - beschränkt bleiben sollte („BSG“ Bd. 11 S. 160; „SozR“ § 67 SGG. Da 1 Nr. 2; Peters / Sautter / Wolff 3. Aufl. § 67 Anm. 1). Da § 67 SGG eine abschließende, von den Vorschriften der ZPO. verschiedene Regelung der Wiedereinsetzung getroffen hat, kommt auch eine entsprechende Anwendung des § 233 ZPO - über § 202 SGG - nicht in Betracht (BSG a.a.O.).
Nach §§ 67, 73 Abs. 3 SGG muß der Beteiligte nicht nur für eigenes Verschulden, sondern auch für das Verschulden seines Vertreters einstehen („BSG“ Bd. 6 S. 1 = Breith. Slg. 1958 S. 195), seines gesetzlichen wie auch seines gewillkürten Vertreters, und ohne Rücksicht darauf, ob er mit allg. oder besonderer Vertretungsmacht ausgestattet ist (Rosenberg, Lehrb. des dtsch. Zivilprozeßrechts 8. Aufl. § 76 IV 3 c S. 348). Das LSG hat geglaubt, das Verhalten der Ehefrau des Klägers nach der Zustellung sei diesem wie eigenes Verhalten zuzurechnen, weil die Ehefrau bei einer Ersatzzustellung nach § 63 Abs. 2 SGG in Verb, mit § 3 VwZG und § 181 ZPO gesetzliche Vertreterin ihres Mannes sei. Diese Auffassung ist nicht frei von Rechtsirrtum. Zwar ist allg. anerkannt, daß die Ersatzzustellung nach § 181 ZPO als ein Fall der gesetzlich bestimmten Vertretung des Adressaten anzusehen ist. Die Ersatzperson gilt als gesetzliche Vertreterin des Adressaten für die Entgegennahme der Zustellung (Rosenberg, Stellvertretung im Prozeß S. 544, 553; derselbe, Lehrb. § 70 III; Stein / Jonas / Schönke ZPO. 18. Aufl. § 181 Anm. 1; Baumbach-Lauterbach ZPO 26. Aufl. Einf. vor § 181 Anm. 1). Das Gesetz knüpft hier an einen Vorgang, bei dem der Ersatzperson eine nur passive Rolle zugewiesen ist, eine Rechtsfolge mit unmittelbarer Wirkung gegen den Adressaten; er muß die Zustellung mit den sich daraus ergebenden Folgen, z.B. Beginn der Rechtsmittelfrist, gegen sich gelten lassen. In Bezug auf die Rechtsfolge der Zustellung wird es so angesehen, als ob das Schriftstück ihm selbst übergeben worden wäre. Von dieser Rechtsfolge der Zustellung ist jedoch zu unterscheiden, ob und inwieweit das Wissen der Ersatzperson um die Zustellung und ihr Verhalten nach der Zustellung dem Adressaten zuzurechnen sind. Den §§ 181 ff. ZPO läßt sich nicht entnehmen, daß der Ersatzzustellung - abgesehen von der Wirkung der Zustellung - auch noch die Bedeutung zukäme, es solle so angesehen werden, als ob das zuzustellende Schriftstück dem Adressaten selbst übergeben worden wäre, so daß sein Wissen von der Zustellung fingiert werden müßte. Es gibt keinen allg. Grundsatz, daß in den Fällen, in denen der am Rechtsverkehr Beteiligte eine Zustellung gegen sich gelten lassen muß, die Zustellung ohne weiteres der Kenntnisnahme von der Zustellung gleichgestellt wird, wenn es auf diese Kenntnis ankommt („RG“ Bd. 87 S. 417/ 18). Bei der Ersatzzustellung steht dem Zustellungsgegner (Adressaten), da die Zustellung die Kenntnis nicht ersetzt, der Beweis offen, daß ihm die Ersatzperson das Schriftstück nicht ausgehändigt und er deshalb von dem Inhalt des Schriftstücks keine Kenntnis erlangt hat (Baumbach-Lauterbach Vorbem. 2 vor § 181; Wieczorek, ZPO und Nebengesetze § 181 A III, § 233 E). Insoweit kommt es für die Wiedereinsetzung nicht darauf an, ob die Ersatzperson verpflichtet war, das Schriftstück dem Adressaten auszuhändigen und ob darum die Wahrscheinlichkeit dafür spricht, daß er die Kenntnis erlangt hat (Baumbach-Lauterbach, Wieczorek a.a.O., wie zuvor). Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 232 Abs. 2 ZPO. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob er im SG-Verfahren neben den §§ 67, 73 Abs. 3 SGG überhaupt anwendbar ist (dagegen „BSG“ Bd. 11 S. 160); denn zumindest ist der in § 232 Abs. 2 ZPO zum Ausdruck gebrachte Grundsatz bereits in den §§ 67, 73 Abs. 3 SGG. vorausgesetzt. Wenn in § 232 Abs. 2 ZPO. das Verschulden des Vertreters dem des Beteiligten gleichgestellt wird, so deshalb, weil der Beteiligte, der den Rechtsstreit durch einen - gesetzlichen oder gewillkürten - Vertreter führen läßt, in jeder Weise sich so behandeln lassen muß, als wenn er den Prozeß selbst geführt hätte. Der Umstand, daß der Beteiligte sich eines Prozeßbevollmächtigten oder Vertreters bedienen kann oder muß, soll nicht dazu führen, das Prozeßrisiko zu Lasten des Gegners zu vergrößern („BGH“ Bd. 2 S. 207; „BSC“ Bd. 11 S. 160; Jonas „JW“ 1932 S. 1350/51). Darum ist § 232 Abs. 2 ZPO auch nur auf die Personen anzuwenden, denen kraft Gesetzes oder durch Rechtsgeschäft, insbes. Vollmacht, Aufgaben „im Rahmen der Prozeßführung“ zugewiesen sind (Rosenberg, Lehrb. § 76 IV 3c S. 348). Dazu gehört zwar der Zustellungsbevollmächtigte (RG. „JW“ 1935 S. 2430 Nr. 6), nicht aber die Ersatzperson nach § 181 ZPO. Eine andere Auffassung wird auch nicht von Stein / Jonas / Schönke (§ 232 ZPO) vertreten, wie das LSG. irrtümlich meint; denn aus dem Zusammenhang (§ 232 II 2) ergibt sich unmißverständlich, daß die Partei nur im Rahmen der Prozeßführung bzw. bei einer Bevollmächtigung für jedes schuldhafte Verhalten des Vertreters einstehen muß, gleichgültig, ob sie Einfluß auf die Auswahl des Vertreters oder die Möglichkeit einer Kontrolle gehabt hat. Darum wird auch a.a.O. zu § 233 ZPO der Mangel der Kenntnis von der Ersatzzustellung nur unter dem Gesichtspunkt des unabwendbaren Zufalls erörtert (§ 233 ZPO III). Im übrigen wäre es auch nicht mit dem verfahrensrechtlichen Begriff der Prozeßvertretung zu vereinbaren, die Versäumung etwa eines Kindermädchens, an das eine Ersatzzustellung nach § 181 Abs. 1 ZPO erfolgt, dem Verschulden des Prozeßvertreters i.S. des § 232 Abs. 2 ZPO gleichzusetzen. Der Kreis der Personen, die für eine Ersatzzustellung nach den §§181 bis 184 ZPO in Frage kommen, ist viel zu weit gezogen, um die Folgerung zu rechtfertigen, der Adressat der Zustellung müsse ohne weiteres für das Verschulden einer Ersatzperson bei der Zustellung und sogar nach der Zustellung einstehen (BGH. 8.3.1957, LM. Nr. 73 zu § 233 ZPO; BPatentGes. v. 26.9.1962 „NJW“ 1963 S. 268).
Hiernach kommt es für die Gewährung der Wiedereinsetzung auf das Wissen der Ehefrau des Klägers um die Zustellung und auf ihr Verhalten nach der Zustellung nicht an. Die Wiedereinsetzung kann nur aus Gründen, die in der Person des Klägers selbst liegen, abgelehnt werden. Ein vorwerfbares Verhalten der Ersatzperson kann nur insoweit von Bedeutung sein, als der Adressat mit einem Verschulden der Ersatzperson rechnen mußte und vorbeugende Maßnahmen unterlassen hat. Aber auch in einem solchen Falle ist die Frage des Verschuldens aus der Person des Vertretenen zu beurteilen. Ein Verschulden liegt vor, wenn ein Beteiligter diejenige Sorgfalt außer acht läßt, die einem gewissenhaften Prozeßführenden nach den gesamten Umständen zuzumuten ist („BSG“ Bd. 1 S. 232). Da es sich nicht um eine Rechtspflicht gegenüber Dritten, sondern um ein Verhalten in eigener Angelegenheit handelt und der Beteiligte sich der rechtlichen Bedeutung seines Verhaltens im Prozeß bewußt sein muß, ist ein den prozeßrechtlichen Erfordernissen entsprechender strenger Maßstab anzulegen. Es ist daher von einem Prozeßbeteiligten auch zu fordern, daß er u.U. gewisse Möglichkeiten des Tatsachenablaufs in seine Überlegungen einbezieht und auf sie seine Maßnahmen einstellt (Stein / Jonas / Schönke Vorbem. V 5 vor § 128 ZPO). Darum wird ein Beteiligter, der in einem soz.gerichtl. Verfahren sich nicht darum kümmert, ob er von der Ersatzzustellung an den Ehepartner Kenntnis erlangen wird, keineswegs in jedem Falle damit rechnen können, daß ihm Wiedereinsetzung gewährt wird, wenn er infolge Unkenntnis von der Zustellung eine gesetzliche Frist versäumt. In erhöhtem Maße gilt dies, wenn bereits mündlich verhandelt wurde und darum mit der Zustellung eines Urteils zu rechnen ist (BSG 27.6.1957 „SozEntsch“ I 4 § 63 Nr. 2). Andererseits dürfen an die Sorgfaltspflicht aber auch keine Anforderungen gestellt werden, die dem wirklichen Leben nicht mehr gerecht werden. Im vorliegenden Fall reicht der von dem LSG. festgestellte Sachverhalt nicht aus, ein Verschulden des Klägers zu bejahen und ihm darum die Wiedereinsetzung zu versagen. Das erstinstanzliche Urteil war ihm im Februar 1957 zugestellt worden; der Vorbescheid vom 26./27.3.1958 wurde zugestellt, ohne daß innerhalb eines Zeitraumes von mehr als einem Jahr eine mdl. Verhandlung stattgefunden hatte. Der Kläger hatte also nicht durch die mdl. Verhandlung einen Hinweis erhalten, daß demnächst mit der Zustellung einer Entsch. zu rechnen sei. Darüber hinaus war dem Kläger nach den Feststellungen des LSG. auch noch einige Zeit vor der Zustellung des Vorbescheids durch einen Bediensteten der Geschäftsstelle die Auskunft erteilt worden, er könne in absehbarer Zeit wegen Überlastung des Senats nicht mit einer Entsch. über seine Berufung rechnen. Auf diese Auskunft durfte er vertrauen, obgleich sie ihm nicht von einem Richter gegeben worden war; er konnte annehmen, daß der Bedienstete der Geschäftsstelle sich bei dem Berichterstatter oder dem Vorsitzenden des Senats nach dem mutmaßlichen Zeitpunkt der Entsch. erkundigt habe. Bei dieser Sachlage war der Kläger nicht verpflichtet, besondere Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, daß, wenn dennoch wider Erwarten „in absehbarer Zeit“ eine Entsch. zugestellt werde, er von einer Ersatzzustellung in jedem Falle Kenntnis erhielt. Weil er noch nicht mit einer Entsch. zu rechnen brauchte, durfte er sich zunächst abwartend verhalten. Darum kann dem Kläger auch nicht zur Last gelegt werden, daß er die durch die Anstreicherarbeiten notwendig gewordene Ausräumung des Wohnzimmers oder die sich aus der Vorbereitung der Familienfeier ergebende Unordnung im Hause nicht zum Anlaß genommen hat, nach Posteingang zu fragen, obgleich er vorübergehend die Post nicht mehr in der Schale auf dem Couchtisch vorfinden konnte. Ein Verschulden des Klägers i.S. des § 67 SGG. ist umso weniger anzunehmen, als das LSG auch nicht festgestellt hat, daß die Ehefrau des Klägers etwa sonst nachlässig in der Behandlung der Posteingänge gewesen wäre.