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4 RJ 198/59

Gründe

Die Klägerin ist am ... geboren. Bis Ende November 1956 bezog sie Waisenrente aus der JV ihres im Jahre 1942 gefallenen Vaters. Im Juli 1953 war festgestellt worden, daß sie an Lungentuberkulose litt. Seitdem trug sie einen Pneumothorax. Im Frühjahr 1959 besserte sich ihr Zustand so weit, daß sie im April 1959 eine Arbeit aufnehmen konnte.

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin wegen ihres Leidens nach § 1267 RVO i.d.F. des ArVNG für die Zeit vom 1.1.1957 bis zum 31.3.1959 weiterhin waisenrentenberechtigt war.

Das SG verurteilte die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheids vom 25.11.1957 antragsgemäß zur Weiterzahlung der Waisenrente bis zum 31.3.1959. Es schloß sich der Auffassung des Sachverständigen an, daß die Klägerin bis zum Frühjahr 1959 berufsunfähig gewesen sei. Auch eine Infektionskrankheit könne ein Gebrechen sein. Die Lungen-Tbc habe einen Zustand dargestellt, mit dessen Fortbestand für nicht absehbare Zeit hätte gerechnet werden müssen. Solange eine Waise infolge einer solchen Erkrankung ihren notwendigen Lebensbedarf nicht selbst durch Arbeit verdienen könne, bestehe ein Gebrechen, das die Weitergewährung der Waisenrente rechtfertige. Daß 1957 begründete Aussicht auf Behebung der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit in absehbarer Zeit bestanden habe, sei unerheblich.

Die hiergegen von der Beklagten eingelegte und nach den §§ 161, 150 Nr. 1 SGG statthafte Sprungrevision konnte keinen Erfolg haben.

Körperliche oder geistige Gebrechen, die ein Kind daran hindern, sich selbst zu unterhalten, haben schon frühzeitig dazu geführt, daß deswegen höhere oder längere Leistungen zu gewähren sind, und zwar sowohl im Unterhaltsrecht (§ 1708 Abs. 2 BGB) als auch in der UV (§ 591 RVO i.d.F. des Zweiten Gesetzes über Änderungen in der UV vorn 14.7.1925 [RGBl. I 97]), in der Rentenversicherung (§ 1259 Abs. 1 Satz 3 RVO i.d.F. des Gesetzes zur Änderung der RVO und des AVG vom 25.6.1926 [RGBl. I 311]) sowie im Versorgungsrecht (§§ 30 Abs. 4 Satz 1, 41 Abs. 3 Satz 1 des früheren RVG vom 31.7.1925 und §§ 32 Abs. 3b, 45 Abs. 3b des jetzigen BVG), im Beamtenrecht (z.B. § 133 Abs. 2 DBG vom 26.1.1937 [RGBl. I 39], § 164 Abs. 2 BBG vom 18.9.1957 [BGBl. I 1337] und § 18 Abs. 3 des Bundesbesoldungsgesetzes vom 27.7.1957 [BGBl. I 993], wobei hier allerdings verlangt wird, daß das körperliche oder geistige Gebrechen dauernde Erwerbsunfähigkeit zur Folge hat), und neuerdings in der Kindergeldgesetzgebung (§ 2 Abs. 1 Satz 2 des KGG vom 13.11.1954 [BGBl. I 333] i.d.F. des KGEG vom 23.12.1955 [BGBl. I 841]).

Hierzu hat das frühere RVA in der GE Nr. 3194 vom 18.4.1928 (AN 1928, 232 = EuM Bd. 22, 424) zutreffend ausgeführt, daß nach dem Sinn und Zweck der in Betracht kommenden gesetzlichen Bestimmungen der RVO Gebrechen und Krankheit nicht zwei scharf getrennte Begriffe sein können, die sich gegenseitig ausschließen. In den §§ 141 Abs. 1 Satz 1, 588 Abs. 1 Satz 2, 1254 a.F., 1246 und 1247 Abs. 2 Satz 1 n.F. werden mit der Fassung „Krankheiten oder andere Gebrechen“ die Krankheiten sogar schlechthin zu den Gebrechen gezählt, und nur der Umstand, daß anderenfalls die Unterscheidung von Krankheit und Gebrechen keinen rechten Sinn hätte, verbietet es, das „Gebrechen“ als den Oberbegriff aufzufassen, der die Krankheit als eine besondere Unterart des Gebrechens mit enthält. Demnach muß nicht jede Krankheit zugleich ein Gebrechen sein, doch kann es gleichwohl Krankheiten geben, die sich auch als Gebrechen darstellen. Von diesem sind nur diejenigen Krankheiten auszuschließen, deren Verlauf sich auf eine kürzere oder längere, jedenfalls aber im voraus absetzbare Dauer beschränkt, namentlich also die akuten Krankheiten. Sonst aber sind Gebrechen entsprechend dem allgemeinen Sprachgebrauch alle von der Regel abweichenden körperlichen oder geistigen Zustände, mit deren Dauer für nicht absehbare Zeit zu rechnen ist (ebenso EuM Bd. 23, 461, Urteil vom 9.11.1928).

In der Entscheidung vom 1.12.1928 (EuM Bd. 23, 382) hat das RVA weiter mit Recht ausgeführt, daß ein tuberkulöser Infektionszustand, mit dessen Dauer für nicht absehbare Zeit zu rechnen ist, ebenfalls ein Gebrechen i.S. des § 1259 Abs. 1 Satz 3 und des § 1291 Abs. 1 Satz 3 RVO sein kann. Die tuberkulöse Infektion hat einen von der Regel abweichenden körperlichen Zustand zur Folge. Für den Begriff des Gebrechens darf nicht verlangt werden, daß es sich um eine in der Entwicklung abgeschlossene Gesundheitsstörung handelt, die keiner ärztlichen HeiImaßnahme mehr zugänglich wäre. Eine solche Auslegung würde zu einer zu engen Begrenzung des Begriffs des Gebrechens führen.

In der Folgezeit hat sich die Auffassung des RVA weitgehend durchgesetzt (vgl. z.B. die VerwV Nr. 10 zu § 32 BVG sowie das Schreiben des Gesamtverbandes der FAKn KG 8/56 vom 28.1.1956, in welchem ausgeführt wird, es bestünden keine Bedenken, die Rechtsgrundsätze der RVA-Entscheidungen vom 18.4.1928, 9.11. und 1.12.1928 für das Kindergeldrecht anzuwenden; ähnlich Lauterbach / Wickenhagen, Die Kindergeldgesetzgebung, Anm. 13 zu § 2, und Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. III S. 690).

Damit ist das SG zu Recht davon ausgegangen, daß eine langwierige Lungen-Tbc ein Gebrechen i.S. der genannten Vorschriften der RentV sein kann, wenn es sich um einen Zustand handelt, mit dessen Dauer für nicht absehbare Zeit zu rechnen ist, während kein Gebrechen vorliegen würde, wenn die Erkrankung nur vorübergehender Natur ist. Die Richtigkeit dieses Ergebnisses wird durch die historische Entwicklung des derzeitigen Rechtszustandes bestätigt. Nach § 1258 Abs. 1 RVO in der bis zum 31.12.1956 gültigen Fassung nach § 13 des KGEG erhielten das dritte und jedes weitere Kind eines Versicherten nach seinem Tode Waisenrente über die Vollendung des 18. Lebensjahres hinaus bis zum vollendeten 25. Lebensjahr u.a. dann, wenn sie wegen körperlicher oder geistiger Gebrechen außerstande waren, sich selbst zu unterhalten. Nach § 1267 Abs. 1 RVO i.d.F. des ArVNG gilt jetzt Entsprechendes für jedes Kind, das „bei Vollendung des 18. Lebensjahres infolge körperlicher oder geistiger Gebrechen außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, solange dieser Zustand dauert“. Diese neue Vorschrift gilt nach Art. 2 § 20 ArVNG auch für Versicherungsfälle vor dem Inkrafttreten des Ges. Damit folgt aus dieser erneuten, schon dem früheren Recht bekannten Beschränkung der Weitergewährung der Waisenrente auf die Zeit des Andauerns des Zustandes der Gebrechlichkeit ebenfalls, daß es sich nicht um ein Gebrechen handeln muß, das einen abgeschlossenen Dauerzustand darstellt und dauernde Erwerbsunfähigkeit zur Folge hat.

Ein solches Gebrechen aber hat, wenn die nicht angegriffenen Feststellungen im Urteil des SG (§ 163 SGG) zugrunde gelegt werden, zur Zeit des hier maßgebenden Zeitpunktes, nämlich der Vollendung des 18. Lebensjahres, d.h. also im November 1956, vorgelegen. Denn nach dem Sinn und Zweck des Gesetzes dürfen an das Erfordernis, daß mit einer Dauer des Krankheitszustandes auf nicht absehbare Zeit zu rechnen ist, keine zu großen Anforderungen gestellt werden. Den gesetzlichen Bestimmungen über die Gewährung der Waisenrente über das 18. Lebensjahr hinaus wegen Gebrechlichkeit liegt der Gedanke zugrunde, daß an Kinder über dieses Lebensalter hinaus Versicherungsleistungen gewährt werden sollen, wenn sie in diesem Zeitpunkt, in dem in der Regel der Eintritt in das Erwerbsleben erfolgt, infolge ihrer körperlichen oder geistigen Beschaffenheit gehindert sind, zu arbeiten und ihren eigenen Unterhalt zu verdienen.

Hiermit wäre es nicht zu vereinbaren, solche Vergünstigungen ausschließlich bei unheilbaren Leiden zu gewähren. Vielmehr sind nach Sinn und Zweck des Gesetzes ernstliche Krankheitszustände nicht nur dann als Gebrechen anzusehen, wenn sie für unheilbar gehalten werden, sondern auch dann, wenn ihre Heilung in einer nicht bestimmbaren Zeit oder erst nach Ablauf einer so langen Zeit zu erwarten ist, daß von einer Absehbarkeit i.S. der Rechtssprechung. des RVA nicht gesprochen werden kann. Nach den maßgebenden tatsächlichen Feststellungen des SG bestand die Lungen-Tbc der Klägerin seit 1953 und besserte sich erst im Frühjahr 1959; vom Juli 1953 bis März 1959 bestand nach Ansicht des Sachverständigen, dem das SG gefolgt ist, sogar völlige Erwerbsunfähigkeit. Zu dem maßgebenden Zeitpunkt - Vollendung des 18. Lebensjahres im November 1956 - ist hiernach der Zustand nicht besser gewesen als zur Zeit der ärztlichen Untersuchung im September 1957. Die hierbei festgestellte Heilbarkeit des Leidens schließt die Annahme eines Gebrechens nicht aus, da die Krankheit, von ihrer erstmaligen Feststellung an gerechnet, fast sechs Jahre gedauert hat und im Zeitpunkt der Vollendung des 18. Lebensjahres bereits drei Jahre und vier Monate bestanden und anschließend noch rund 2½ Jahre zu ihrer Heilung gebraucht hat. Wenn auch 1956 zu erwarten war, daß sie einmal geheilt werden würde, so war allenfalls eine nach Jahren zählende Schätzung möglich, wann die Heilung eintreten würde. Diese der Natur der Krankheit entsprechende lange Heilungszeit ist in ihrer Bemessung zu unbestimmt, um die Annahme eines Gebrechens auszuschließen.

Es ist somit nicht zu beanstanden, wenn das SG bei der Klägerin im November 1956 den Zustand eines Gebrechens angenommen hat, der bis zum 31.3.1959 die Rentengewährung rechtfertigte, weil die Klägerin in dieser Zeit außerstande war, sich selbst zu unterhalten (§ 1267 RVO i.V.m. Art. 2 §§ 20, 41 ArVNG).

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