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§ 88 SGG: Untätigkeitsklage

Änderungsdienst
veröffentlicht am

12.11.2019

Änderung

Dokumentdaten
Stand03.08.2015
Erstellungsgrundlage in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26.03.2008 in Kraft getreten am 01.04.2008
Rechtsgrundlage

§ 88 SGG

Version001.01

Inhalt der Regelung

§ 88 SGG regelt in

  • Absatz 1 die Untätigkeitsklage bei Nichtbescheidung eines Antrages und in
  • Absatz 2 die Untätigkeitsklage bei Nichtbescheidung eines Widerspruchs.

Untätigkeitsklagen sind zügig zu bearbeiten

Untätigkeitsklagen sind zügig und ohne Zeitverzug zu bearbeiten. Nach Berechnung der Sperrfrist (Abschnitt 3.1) ist unverzüglich zu prüfen, ob der verlangte Bescheid zu erteilen ist (Abschnitt 3.2).

Die Regelung im Einzelnen

Gegenstand einer Untätigkeitsklage ist im sozialgerichtlichen Verfahren die Bescheidung eines Antrages oder Widerspruchs, nicht die Prüfung der materiellen Voraussetzungen eines Anspruchs oder die Bewilligung einer Leistung (siehe Abschnitt 3.2).

§ 88 SGG hält die Träger der Deutschen Rentenversicherung an, den Versicherten nicht durch Untätigkeit in seinen Rechten zu beeinträchtigen. Der allgemeine Programmsatz, jedem Versicherten die ihm zustehenden Sozialleistung umfassend und schnell zukommen zu lassen (§ 17 Abs. 1 Nr. 1 SGB I), wird in § 88 SGG durch ein wirksames prozessuales Mittel ergänzt. Zugunsten des Versicherten besteht die gesetzliche Vermutung, dass ein Bescheid grundsätzlich innerhalb der angegebenen Fristen (siehe Abschnitt 3.1) ergehen wird.

Denn der Antragsteller hat einen Anspruch auf eine zügige Entscheidung (§ 9 S. 2 SGB X), in Leistungsfällen auf eine schriftliche Entscheidung (§ 117 SGB VI) nach Maßgabe der gesetzlichen Regelungen, sobald das Verwaltungsverfahren entscheidungsreif ist. Entscheidungsreif sind die Verwaltungsverfahren, die keiner weiteren Sachverhaltsaufklärung bedürfen. Ob Entscheidungsreife vorliegt, unterliegt der vollen gerichtlichen Überprüfung.

Angemessene Frist (Sperrfrist)

§ 88 Abs. 1 Satz 1 SGG sieht als angemessene Zeit für die Entscheidung über den Antrag sechs Monate vor. § 88 Abs. 2 SGG sieht als angemessene Zeit für die Entscheidung über den Widerspruch drei Monate vor.

Beachte:

Gesetzliche Regelungen können im Einzelfall kürzere Fristen vorsehen, in denen die Deutsche Rentenversicherung eine Entscheidung treffen muss (zum Beispiel Einmonatsfrist bei § 42 Abs. 1 S. 2 SGB I).

Die Fristberechnung regelt § 64 SGG. Die Sperrfrist ist eine gesetzliche Frist und kann nicht verlängert werden. Eine nach Ablauf der Frist erhobene Klage ist stets zulässig, sofern ein Bescheid nicht erteilt wurde.

Wird die Klage vor Ablauf der Sperrfrist erhoben, so wird sie zulässig, wenn bis zum Ablauf der Sperrfrist der Bescheid nicht erteilt worden ist (BSG vom 26.08.1994, AZ: 13 RJ 17/94, SozR 3-1500 § 88 Nr. 2). Wird der Bescheid noch vor Ablauf der Sperrfrist erteilt, ist die Klage unzulässig.

Vornahme eines Verwaltungsaktes („Bescheidung“)

Ziel einer Untätigkeitsklage ist grundsätzlich nur die Vornahme des Verwaltungsaktes entweder aufgrund eines Antrages oder eines Widerspruchs. Die Vornahme eines Verwaltungsaktes bedeutet die Erteilung eines Bescheides.

Ist die Unterlassung eines Verwaltungsaktes rechtswidrig, so kann das Sozialgericht den Rentenversicherungsträger durch Urteil verpflichten, einen Verwaltungsakt unter Beachtung der Rechtsauffassung des Sozialgerichts zu erteilen (§ 131 Abs. 3 SGG). Verurteilt wird nur zur Bescheiderteilung, nicht zur Gewährung der beantragten Leistung oder des sonstigen materiellen Gegenstands des Antrags (Wolff-Dellen in Breitkreuz/Fichte, § 88 SGG, Rn 16). Es erfolgt also ein sogenanntes Bescheidungsurteil.

Zureichender Grund; Zwischennachricht

Der Rentenversicherungsträger ist stets verpflichtet, zureichende Gründe für die Nichtbescheidung beziehungsweise die Verzögerung bei der Bescheidung zu benennen (LSG Berlin, Beschluss vom 17.08.1993, AZ: L 6 An S 136/93, DAngVers. 11/93, S. 419).

Mit der Zwischennachricht lassen sich das Wissensdefizit des Berechtigten und der Wissensvorsprung des Rentenversicherungsträgers ausgleichen. Denn nur der Rentenversicherungsträger kennt die Gründe für die Verzögerung des Abschlusses des Verwaltungs- oder Vorverfahrens (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11.02.2008, AZ: L 22 B 1331/07 R).

Der Rentenversicherungsträger trägt die materielle Beweislast. Ob ein zureichender Grund für eine bislang unterbliebene Bescheiderteilung vorliegt, ist allein nach objektiven Kriterien unter Berücksichtigung der seit Antragstellung verstrichenen Zeit zu beurteilen. Ob zureichende Gründe dargelegt worden sind, unterliegt der vollen gerichtlichen Überprüfung.

Eine unzureichende oder fehlerhafte Zwischennachricht steht einer Untätigkeit gleich. Die Benennung von „verwaltungstechnischen Gründen“ ist nicht ausreichend. Dem Versicherten muss nachvollziehbar erläutert werden, warum der begehrte Bescheid noch nicht erteilt werden konnte.

Keine Nachfragepflicht des Versicherten vor Erhebung der Untätigkeitsklage

Es ist grundsätzlich die Aufgabe des Rentenversicherungsträgers, jederzeit über den Verfahrensstand vollständig Auskunft zu geben und Entscheidungshindernisse zu benennen, denn allein er bestimmt Art und Umfang der Ermittlungen im Verwaltungs- beziehungsweise im Widerspruchsverfahren.

Bei Sachverhalten, in denen keine besonderen Umstände vorliegen, welche für den Versicherten eine länger andauernde Ermittlung oder eine sonstige Verzögerung der Bearbeitung nahelegen, besteht für den Versicherten kein Anlass, nach dem Verfahrensstand nachzufragen (SG Berlin, Beschluss vom 17.11.2009, AZ: S 30 R 5256/07).

Grundsätzlich ist ein Versicherter nicht verpflichtet, vor Erhebung der Untätigkeitsklage beim Rentenversicherungsträger nach dem Sachstand zu fragen. Aus § 88 SGG ergibt sich keine derartige Verpflichtung (Hessisches LSG, Beschluss vom 15.02.2008, AZ: L 7 B 184/07 AS).

Aussetzung des Verfahrens

Eine Aussetzung des Verfahrens (§ 88 Abs. 1 S. 2 SGG) wird das Sozialgericht vornehmen, wenn mit zureichendem Grund (Abschnitt 3.3) nicht entschieden wurde. Das Gericht kann in derartigen Fällen eine angemessene, kalendermäßige Frist bestimmen (§ 65 SGG) und das Verfahren bis zu ihrem Ablauf aussetzen (Wolff-Dellen in Breitkreuz/Fichte, § 88 SGG, Rn 19, 20). Sowohl die Aussetzung als auch Fristbestimmung erfolgen durch Beschluss.

Erledigung der Hauptsache

Der Versicherte wird regelmäßig nach Bescheiderteilung die Hauptsache für erledigt erklären mit der Folge, dass die Untätigkeitsklage erledigt ist (§ 88 Abs. 1 S. 3 SGG).

Rechtsprechung

Die Rechtsprechung zur Untätigkeitsklage ist vielfältig. Im Folgenden werden einige Beispiele genannt, die für die Praxis von Bedeutung sind.

Abrechnung der Rentennachzahlung

Die Abrechnung der Rentennachzahlung mit den Erstattungsansprüchen dritter Stellen ist eine sonstige Amtshandlung. Die Vornahme einer sonstigen Amtshandlung kann nicht mit einer Untätigkeitsklage erreicht werden (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 04.02.2008, AZ: L 3 B 1115/07 R; Bestätigung von: SG Berlin, Beschluss vom 16.07.2007, AZ: S 105 R 5076/05).

Abweichung von Rechtsprechung des Bundessozialgerichts

Wird von den Trägern der Rentenversicherung bestimmter Rechtsprechung des Bundesssozialgerichts (BSG) nicht gefolgt, so muss im Einzelfall zur Abwendung einer Untätigkeit dennoch über den Antrag beziehungsweise den Widerspruch nach Maßgabe der geltenden Rechtsauffassung der Deutschen Rentenversicherung entschieden werden (LSG für das Land Brandenburg, Beschluss vom 23.05.2001, AZ: L 1 B 19/01 RA).

Einstweiliger Rechtsschutz und Vorverfahren

Das Zuwarten auf den Ausgang eines sozialgerichtlichen Verfahrens zum einstweiligen Rechtsschutz stellt keinen zureichenden Grund (Abschnitt 3.3) für eine Nichtbescheidung dar. Es kann deshalb mit der Erteilung des Widerspruchsbescheides nicht bis zum Abschluss des sozialgerichtlichen Verfahrens zum einstweiligen Rechtsschutz gewartet werden. Rechtlich verbindliche vorgreifliche Feststellungen werden im Eilrechtsschutzverfahren für das Vorverfahren nicht getroffen (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30.09.2008, AZ: L 23 B 36/08 SO).

Ruhen des Verwaltungs- oder Vorverfahrens

Ruht das Verwaltungs- oder Vorverfahren aufgrund übereinstimmender ausdrücklicher Erklärungen der Beteiligten bis zum Eintritt eines bestimmten Ereignisses (Entscheidung des Bundessozialgerichtes, des Bundesverfassungsgerichtes, der Verkündung einer gesetzlichen Neuregelung), so liegen erkennbare besondere Umstände vor, die eine Verzögerung der Vornahme der Bescheiderteilung rechtfertigen (Bayerisches LSG, Urteil vom 16.05.2007, AZ: L 13 R 752/06; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 14.09.2005, AZ: L 10 LW 4563/04 AK-B).

Für die Dauer des auf übereinstimmender Erklärung ruhenden Verfahrens liegt keine Untätigkeit vor.

Sobald allerdings ein in der Ruhensvereinbarung konkret benanntes Ereignis eingetreten ist (zum Beispiel die Entscheidung des BSG liegt vor), beginnt die Sperrfrist erneut zu laufen. Das Verwaltungs- oder Vorverfahren ist von Amts wegen aufzunehmen (LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 15.07.2008, AZ: L 6 B 142/08 RS). Zur Vermeidung des Eintritts der Untätigkeit ist gegebenenfalls eine begründete Zwischennachricht (Abschnitt 3.3) zu versenden.

Teilabhilfe im Widerspruchsverfahren

Hat der Rentenversicherungsträger zunächst nur über einen Teil des Widerspruchs abhelfend entschieden und steht im übrigen noch eine Entscheidung (zum Beispiel durch weitere Teilabhilfen) aus, so ist eine Untätigkeitsklage nach Ablauf der Sperrfrist zulässig (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 14.07.2010, AZ: L 7 AS 51/10 B).

Unzulässiger Widerspruch

Ein unzulässiger Widerspruch muss beschieden werden (BSG vom 11.11.2003, AZ: B 2 U 36/02 R, SozR 4-1500 § 88 Nr. 1; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 15.12.2010, AZ: L 4 U 124/10, Breithaupt 2011, S. 385).

Zur Prüfung der Zulässigkeit eines Widerspruchs wird auf die GRA zu § 84 SGG hingewiesen.

Versicherte beantwortet Fragen unvollständig

Beantwortet ein Rentenantragsteller Fragen des Versicherungsträgers zur Ermittlung des Sachverhaltes nur unvollständig und erhebt er eine Untätigkeitsklage zwecks Erlangung des Rentenbescheides, so ist diese unzulässig, da kein zureichender Grund zur Klageerhebung bestanden hat. (Bayerisches LSG, Beschluss vom 06.10.1978, AZ: L 3 B 53/78).

Widerspruch wird nicht begründet

Die Nichtbegründung des Widerspruchs durch den Widerspruchsführer stellt keinen zureichenden Grund im Sinne von § 88 Abs. 1 Satz 1 SGG für eine Nichtbescheidung des Widerspruchs dar. In einem derartigen Fall muss nach Aktenlage, gegebenenfalls nach Abschluss der Ermittlungen von Amts wegen (§§ 20ff. SGB X), entschieden werden. Etwas anderes gilt nur, wenn der Widerspruchsführer eine Begründung seines Widerspruchs angekündigt hat (LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 28.08.1995, AZ: L 4 Sb 38/95, Breithaupt 1995, S. 975).

Zinsen (§ 44 SGB I)

Bei unterbliebener Zinsfestsetzung (§ 44 SGB I) bedarf es eines darauf gerichteten Antrages, um die Sperrfrist des § 88 Abs. 1 SGG in Gang zu setzen. Auf den Rentenantrag ist nicht abzustellen (LSG Berlin, Beschluss vom 05.06.2001, AZ: L 17 B 9/01 RA).

Sechstes Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes (6. SGGÄndG) vom 17.08.2001 (BGBl. I S. 2144)

Inkrafttreten: 02.01.2002

Quellen zum Entwurf: BT-Drucksachen 14/5943 und 14/6335

§ 88 SGG wurde zuletzt durch das Sechste Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes (6. SGGÄndG) vom 17.08.2001 (BGBl. 2001 I S. 2144 ff.) mit Wirkung vom 02.01.2002 geändert. Die Änderung war für die gesetzlichen Rentenversicherung nicht von Bedeutung.

Zusatzinformationen

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