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§ 66 SGB I: Folgen fehlender Mitwirkung

Änderungsdienst
veröffentlicht am

12.11.2019

Änderung

Die Änderungen im Abschnitt 6 wurde mit den Regionalträgern abgestimmt.

Dokumentdaten
Stand12.05.2016
Erstellungsgrundlage in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts vom 13.12.2007 in Kraft getreten am 21.12.2007
Rechtsgrundlage

§ 66 SGB I

Version002.01
Schlüsselwörter
  • 0709

  • 0805

  • 1805

  • 1855

Inhalt der Regelung

§§ 66 Abs. 1 und 2 SGB I regelt die Folgen fehlender Mitwirkung des Berechtigten. Mit dieser Vorschrift wollte der Gesetzgeber Sanktionsmöglichkeiten schaffen, die auf den Grundsätzen von Zumutbarkeit, Verhältnismäßigkeit und Kausalität zwischen der Verletzung von Mitwirkungspflichten und den daran anknüpfenden Einschränkungen von Sozialleistungen beruhen.

§ 66 SGB I gilt grundsätzlich nur bei Beantragung oder Bezug von Sozialleistungen. Eine entsprechende Anwendung auf andere Bereiche - etwa auf das Beitragsentrichtungsverfahren - ist ausgeschlossen (BSG vom 19.05.1978, AZ: 8/3 RK 4/76).

Sind Sachverhaltsermittlungen trotz mangelnder Mitwirkung möglich, bleiben diese aber ergebnislos, ist ein Antrag gegebenenfalls aus Sachgründen abzulehnen. Die mangelnde Mitwirkung bei der Sachaufklärung geht in Fällen mit Beweislosigkeit beziehungsweise Nichtfeststellbarkeit entscheidungserheblicher Tatsachen zu Lasten des nicht mitwirkenden Leistungsberechtigten. Die Grundsätze über die Beweisführung wie etwa die über die Glaubhaftmachung oder die objektive Beweislast werden durch § 66 SGB I nicht berührt.

Regelungsgegenstand des § 66 Abs. 2 SGB I ist die Verletzung von Mitwirkungspflichten bei Maßnahmen zur Erhaltung oder Verbesserung der Fähigkeit zur selbständigen Lebensführung beziehungsweise der Arbeits-, Erwerbs- oder Vermittlungsfähigkeit.

Als Folge fehlender Mitwirkung kann in allen Fällen die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung nach pflichtgemäßem Ermessen ganz oder teilweise versagt oder entzogen werden.

Nach § 66 Abs. 3 SGB I dürfen Leistungen wegen fehlender Mitwirkung nur versagt oder entzogen werden, nachdem der Berechtigte auf diese Folgen schriftlich hingewiesen worden und er nicht innerhalb einer bestimmten Frist seiner Mitwirkungspflicht nachgekommen ist.

Zur „Nachholung der Mitwirkung“ vergleiche GRA zu § 67 SGB I.

Ergänzende Regelungen

§ 39 SGB I bestimmt die Ermessensleistung.

§ 60 SGB I Angabe von Tatsachen.

§ 61 SGB I Persönliches Erscheinen.

§ 62 SGB I Untersuchungen.

§ 63 SGB I Heilbehandlung.

§ 64 SGB I Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben.

§ 65 SGB I Grenzen der Mitwirkung.

§ 67 SGB I Nachholung der Mitwirkung.

§ 86a Abs. 1 SGG Aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage.

§ 67a Abs. 3 SGB X Folgen der Verweigerung von Angaben.

Begriffsbestimmung

§ 66 SGB I nennt die Begriffe „Versagung“ und „Entziehung“. Unter den Begriff „Versagung“ ist die Nichtleistung einer beantragten oder von Amts wegen zu erbringenden, bislang unbewilligten Sozialleistung zu verstehen. Der Begriff „Entziehung“ bedeutet die volle oder teilweise Einstellung einer bewilligten, regelmäßig wiederkehrenden Leistung.

Mit der Versagung wird über den begehrten Leistungsanspruch keine Entscheidung getroffen.

Die Entziehung beinhaltet keine Entscheidung über den Rentenanspruch selbst. Es wird lediglich die Auszahlung der monatlichen Rentenansprüche in voller oder teilweiser Höhe verweigert.

Wirkt der Betroffene mit, entfallen die Folgen aus dem Versagungs- und Entziehungsbescheid mit sofortiger Wirkung, Für die Vergangenheit ist eine Ermessensentscheidung nach § 67 SGB I zu treffen.

Folgen fehlender Mitwirkung

Eine Versagung oder Entziehung nach § 66 SGB I ist nur bis zur Nachholung der Mitwirkung zulässig. Die Vorschrift vollzieht sich in einem formalisierten Verfahren, das unbedingt eingehalten werden muss (BSG vom 10.03.1993, AZ: 14b/4 REg 1/91).

Dazu gehört, dass

  • derjenige, der eine Sozialleistung beantragt hat oder bereits erhält, seinen gesetzlichen Mitwirkungspflichten nicht nachkommt und
  • der Rentenversicherungsträger, der deswegen die beantragte oder bezogene Leistung versagen oder entziehen will, den Berechtigten zuvor schriftlich auf die konkreten Folgen seiner fehlenden Mitwirkung hinweist und ihn gleichzeitig unter angemessener Fristsetzung zur Erfüllung seiner Mitwirkungspflichten auffordert.

Außerdem muss der Rentenversicherungsträger abschließend - nach tatsächlicher Weigerung der Mitwirkung -

  • eine Ermessensentscheidung über sein konkretes Vorgehen im Einzelfall treffen. Das Ermessen ist nach § 39 Abs. 1 SGB I „entsprechend dem Zweck der Ermächtigung“ auszuüben. Zweck der Ermächtigung in § 66 SGB I ist es in erster Linie, dem Berechtigten durch die Versagung oder Entziehung der Leistung die nachteiligen Folgen seines pflichtwidrigen Verhaltens aufzubürden und nicht der Versichertengemeinschaft.

Auch wenn der Wortlaut des § 66 SGB I eine teilweise Versagung vorsieht, so ist dennoch in der Praxis stets die Rente ganz (also in voller Höhe) zu versagen. Wenn nämlich weder Anspruch noch Höhe der beantragten Rente durch die fehlende Mitwirkung des Versicherten festgestellt werden kann, besteht letztlich nur die Möglichkeit der vollständigen Versagung der Rente.

Die Versagung und Entziehung der Rente darf grundsätzlich nur für die Zukunft ausgesprochen werden (entsprechend BSG vom 26.05.1983, AZ: 10 RKg 13/82, SozR 1200 § 66 Nr. 10), und zwar vom Ablauf des Monats, in dem der Versagungs- oder Entziehungsbescheid wirksam geworden ist, also vom Ablauf des Monats der Zustellung des Versagungs- oder Entziehungsbescheides. Eine zu entziehende Rente ist bis dahin zu zahlen

Siehe Beispiele 1 und 2

Bei Renten wegen Todes ist die Versagung von dem Zeitpunkt an vorzunehmen, von dem an sich die Einkommensanrechnung auswirken könnte. Für die Zeit, in der die Rente trotz des Zusammentreffens mit Einkommen „voll“ zu zahlen ist (Rente für das Sterbevierteljahr - § 97 Abs. 1 S. 2 SGB VI) ist die Leistung zu erbringen (vergleiche auch GRA zu § 18c SGB IV).

Seinen Mitwirkungspflichten kommt beispielshalber derjenige nicht nach, der erforderliche Urkunden nicht vorlegt oder einer Vorladung nach § 61 SGB I nicht folgt.

Siehe Beispiel 3

Hinweis:

Eine fehlende Mitwirkung des Berechtigten liegt dagegen nicht vor, wenn

  • er unmissverständlich erklärt, sein Einkommen sei so hoch, dass es zum vollständigen Ruhen der Rente wegen Todes komme - er deshalb keinen Einkommensnachweis beibringt - oder
  • das Erwerbseinkommen, kurzfristige Erwerbsersatzeinkommen beziehungsweise das „laufende Vermögenseinkommen“ des letzten Kalenderjahres nachgewiesen ist, der Berechtigte jedoch trotz Bemühungen des Rentenversicherungsträgers sein laufendes (aktuell bezogenes) Einkommen nicht nachweist.
    (Siehe GRA zu § 18c SGB IV, Abschnitt 8.)

Ermessensausübung

Bei Verletzung der Mitwirkungspflichten durch einen Antragsteller beziehungsweise Leistungsempfänger muss der Rentenversicherungsträger nach dem Wortlaut des Gesetzes eine Ermessensentscheidung über sein konkretes Vorgehen treffen.

Bei der Ermessensausübung können Gesichtspunkte berücksichtigt werden, die im Rahmen der Tatbestandsprüfung unbeachtlich sind, so etwa die Schuldhaftigkeit der Pflichtverletzung durch den Antragsteller oder Leistungsberechtigten (BSG, Urteil vom 22.02.1995, AZ: 4 RA 44/94). Insoweit bleibt unabhängig vom Verschulden des Mitwirkungspflichtigen Raum für die Berücksichtigung individueller Gesichtpunkte, die bei der Ermessensentscheidung Berücksichtigung finden können. Zum Beispiel die Ablehnung einer Heilbehandlung durch einen alkoholkranken Mitwirkungspflichtigen oder andere im persönlichen Bereich des Mitwirkungspflichtigen liegende Umstände, die nicht bereits zum Entfallen der Mitwirkungsobliegenheiten des § 65 SGB I führen.

Ein Ermessen ist demnach nur dann auszuüben, wenn unstreitig eine zur Rentengewährung führende Tatsache (zum Beispiel Erwerbsminderung) vorliegt und weitere Feststellungen (zum Beispiel Rehabilitation ist angezeigt, teilweise oder volle Erwerbsminderung, Erwerbsminderung auf Zeit oder dauerhaft) wegen mangelnder Mitwirkung nicht möglich sind.

Soweit leistungsbegründende Tatsachen (zum Beispiel: Erfüllung der Wartezeit) nicht oder nur teilweise bewiesen werden, ist die Leistung mangels Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen ganz oder teilweise zurückzubehalten (vergleiche Abschnitte 4.1, 4.2). Gleiches gilt für einen Antrag auf eine Erwerbsminderungsrente, wenn medizinische Unterlagen über eine Erwerbsminderung nicht vorgelegt werden und/oder durch fehlendes Mitwirken nicht zu beschaffen sind. In diesen Fällen besteht ein diesbezüglicher Ermessensspielraum nicht. Mit dem verbleibenden Ermessensspielraum kann der Rentenversicherungsträger allenfalls besonderen und nicht vorhersehbaren Umständen des Einzelfalles gerecht werden, zum Beispiel durch Gewährung einer Nachfrist.

Das Ermessen kann auf Null reduziert sein. Das ist immer dann der Fall, wenn es nach dem festgestellten Sachverhalt ausgeschlossen ist, dass Umstände vorliegen, die eine andere Ausübung des Ermessens fehlerfrei zuließen (Urteil des BSG vom 04.02.1988, AZ: 11 RAr 27/87). Welche Umstände insoweit in Betracht zu ziehen sind, richtet sich nach dem Sinn und Zweck der Ermessenseinräumung.

Verweigert der Rentenbewerber eine für die Feststellung der Erwerbsminderung erforderliche Begutachtung durch den vom Rentenversicherungsträger vorgeschlagenen Gutachter, ist das Ermessen auf Null reduziert. In diesem Fall ist eine Ermessensentscheidung des Rentenversicherungsträgers ausgeschlossen, da die Anspruchsvoraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsminderung nicht nachgewiesen sind und weitere Ermittlungen ohne die Mitwirkung des Rentenantragstellers nicht vorgenommen werden können. Ermessensfehler des Rentenversicherungsträgers liegen nicht vor, da das Ermessen auf Null reduziert war (Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 09.02.2011, AZ: L 4 R 219/10).

Fehlende Mitwirkung bei der Sachaufklärung (§ 66 Abs. 1 SGB I)

Die Versagung oder Entziehung nach § 66 Abs. 1 S. 1 SGB I ist nur zulässig, wenn der Berechtigte seinen Mitwirkungspflichten nach §§ 60 bis 62 SGB I nicht nachkommt, obwohl er von ihnen nicht nach § 65 SGB I freigestellt ist und die Aufklärung des Sachverhalts hierdurch erheblich erschwert wird.

Erschwert der Antragsteller oder Leistungsberechtigte die Sachverhaltsaufklärung in anderer Weise als durch unterlassene oder mangelhafte Mitwirkung erheblich, gelten die Rechtsfolgen aus § 66 Abs. 1 S. 1 SGB I.

Für Fälle nach § 66 Abs. 1 SGB I ist es erforderlich, dass die fehlende Mitwirkung in ursächlichem Zusammenhang mit den in der Sachaufklärung auftretenden Schwierigkeiten steht. Sanktionen nach § 66 SGB I sind daher auch nur zulässig, soweit die Voraussetzungen der Leistungen nicht nachgewiesen sind.

Sind die Voraussetzungen nachgewiesen, muss der Leistungsträger auch bei fehlender Mitwirkung des Antragstellers oder Leistungsberechtigen die Leistung erbringen. Sind die Voraussetzungen nur für einen Teil der Leistung nachgewiesen, kann die Sozialleistung nicht ganz, sondern nur hinsichtlich des nicht geklärten Teils versagt oder entzogen werden.

  • Tatsachen werden nicht angegeben beziehungsweise Beweismittel werden nicht vorgelegt
    Werden die für den Rentenanspruch erheblichen Tatsachen nicht angegeben (zum Beispiel der ausgefüllte und unterschriebene Formblattantrag wird nicht eingesandt) oder werden die für den Leistungsanspruch erheblichen Beweismittel nicht vorgelegt, so ist der Anspruch zu versagen, wenn ohne Kenntnis dieser Tatsachen beziehungsweise ohne Vorlage dieser Beweismittel der Leistungsanspruch dem Grunde nach nicht anerkannt werden kann.
    § 66 Abs. 1 SGB I gilt jedoch dann nicht, wenn ein Berechtigter (weitere) rechtserhebliche Zeiten oder Tatsachen angibt, diese aber nicht nachweisen oder glaubhaft machen kann oder eingereichte Unterlagen für einen Nachweis oder eine Glaubhaftmachung nicht ausreichen. In diesen Fällen ist nur eine Anerkennung dieser Zeiten wegen fehlenden Nachweises oder fehlender Glaubhaftmachung abzulehnen, die Rente aber ohne diese Zeiten zu gewähren.
    Siehe Beispiele 4 und 5
  • Antragsteller verweigert Untersuchungen zur Feststellung von teilweiser oder voller Erwerbsminderung
    Lehnt es der Antragsteller ab, sich einer vom Rentenversicherungsträger für erforderlich gehaltenen Untersuchung zu unterziehen, ist der Antrag zu versagen. Geht es nur noch um die Frage, ob der Versicherte bei festgestellter teilweiser Erwerbsminderung auch noch voll erwerbsgemindert ist, so ist die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung festzusetzen. Der Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung ist zu versagen.
  • Rentenbezieher verweigert Nachuntersuchungen
    Lehnt es der Bezieher einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung ab, sich einer vom Rentenversicherungsträger für erforderlich gehaltenen Nachuntersuchung zu unterziehen, ist die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung für die Zukunft bis zur Nachholung der Mitwirkung zu entziehen.
    Lehnt es der Bezieher einer Rente wegen voller Erwerbsminderung ab, sich einer vom Rentenversicherungsträger für erforderlich gehaltenen Nachuntersuchung zu unterziehen, ist die Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zukunft bis zur Nachholung der Mitwirkung zu entziehen.
    Kann nach Anhörung des zuständigen beratenden Arztes davon ausgegangen werden, dass teilweise Erwerbsminderung weiter vorliegt, ist für die Dauer der Entziehung der Rente wegen voller Erwerbsminderung die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung zu zahlen.

Wird die Feststellung leistungserheblicher Tatsachen erheblich erschwert, ist der Untersuchungsgrundsatz (§§ 20, 21 SGB X) für den Leistungsträger nicht mehr bindend („ohne weitere Ermittlungen“).

Das bedeutet, dass der Leistungsträger zunächst den eigenen erforderlichen Verwaltungsaufwand abschätzen muss. Kommt er nach pflichtgemäßer Prüfung zu dem Ergebnis, dass das Mitwirkungsdefizit nur durch einen beträchtlichen zusätzlichen Einsatz von Verwaltungsmitteln (Kosten, Zeitaufwand) kompensiert werden kann, kann er von der Durchführung weiterer Ermittlungen absehen.

Eine Beeinträchtigung der Sachaufklärung kann auch in der zeitlichen Verzögerung der Ermittlungen liegen, so dass es nicht generell darauf ankommt, ob der Leistungsträger möglicherweise selbst in der Lage gewesen wäre, die rechtserhebliche Tatsache festzustellen. Die Amtsermittlungspflicht des Leistungsträgers schließt nicht aus, dass er sich dabei primär des Antragstellers oder Leistungsberechtigten bedient, solange nicht der Tatbestand des § 65 Abs. 1 Nr. 3 SGB I erfüllt ist - BSG vom 26.05.1983, AZ: 10 RKg 13/82.

Soweit Ermittlungen ohne größeren Zeit- und Mittelaufwand (zum Beispiel einige Telefonate) zur Aufklärung des Sachverhaltes führen können, also nicht erheblich erschwert sind, muss der Leistungsträger trotz mangelnder Kooperation des Mitwirkungspflichtigen tätig werden.

„Erschwerung“ ist wiederum weniger als Vereitelung. Wird die Aufklärung infolge der Verletzung von Mitwirkungspflichten unmöglich, darf das Merkmal der “erheblichen Erschwerung“ ohne weiteres als erfüllt angesehen werden.

Fehlende Mitwirkung bei Maßnahmen für die Gesundheit (§ 66 Abs. 2 SGB I)

Die Versagung oder Entziehung der Erwerbsminderungsrente beziehungsweise der der Maßnahme zur Rehabilitation ist nur zulässig, wenn sich die oder der Berechtigte einer vom Rentenversicherungsträger für erforderlich gehaltenen Maßnahme für die Gesundheit nicht unterzieht und unter Würdigung aller Umstände mit Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass deshalb die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt oder nicht verbessert wird.

Für die Androhung der Leistungsversagung oder Leistungsentziehung kommt es nicht auf die Identität des Leistungsträgers an, der die Teilnahme an einer Untersuchung oder Rehabilitationsmaßnahme angeordnet hat. Versagung und Entziehung kommen auch dann in Betracht, wenn die Maßnahme, an welcher der Versicherte nicht ordnungsgemäß mitwirkt, durch einen anderen Leistungsträger (Berufsgenossenschaft, Krankenkasse, Versorgungsamt, Agentur für Arbeit) durchgeführt werden soll.

Im Bereich der Rentenversicherung betrifft § 66 Abs. 2 SGB I in erster Linie die Fälle, in denen wegen fehlender Mitwirkung des Antragstellers oder Leistungsberechtigten an Maßnahmen zur medizinischen Rehabilitation oder an Maßnahmen zur Erhaltung, Verbesserung oder (Wieder-)Herstellung der Teilhabe am Arbeitsleben die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt oder deren Verbesserung untergraben wird.

Der Berechtigte entzieht sich einer Maßnahme unter anderem dann, wenn er

  • die für ihre Durchführung erforderliche Zustimmung verweigert oder
  • zwar die Zustimmung erteilt, aber zu der Maßnahme nicht erscheint oder
  • zwar zu der Maßnahme erscheint, jedoch die Maßnahme ohne Genehmigung des Rentenversicherungsträgers oder des Kur- oder Badearztes abbricht oder
  • aufgrund mangelnder Mitwirkung den Erfolg der Maßnahme beeinträchtigt oder verhindert.

Mitwirkungspflichten im Sinne der §§ 60 bis 65 SGB I, die den Versicherten im unmittelbaren Zusammenhang mit Rehabilitationsleistungen treffen, werden begrifflich näher durch die „Auslegungsgrundsätze der Rentenversicherungsträger zu den persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der Leistungen zur Teilhabe und zur Mitwirkung des Versicherten vom 08.02.1995 in der Fassung vom 18.07.2002“ umschrieben.

Eine rentenrechtlich relevante Beeinträchtigung oder Nichtverbesserung der beruflichen Leistungsfähigkeit im Sinne des § 66 Abs. 2 SGB I ist anzunehmen, wenn der Leistungsfall einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit eintritt oder bestehen bleibt und bei ordnungsgemäßer Mitwirkung des Betroffenen der Leistungsfall verhindert oder aufgehoben worden wäre.

Danach muss vom Standpunkt eines objektiven Betrachters aus zu erwarten gewesen sein (Prognose), dass die Arbeits-, Erwerbs- oder Vermittlungsfähigkeit des Antragstellers oder des Leistungsberechtigten verbessert oder deren Verschlechterung verhütet worden wäre, wenn den Mitwirkungspflichten ordnungsgemäß Folge geleistet worden wäre.

Maßgeblicher Zeitpunkt für dieses Wahrscheinlichkeitsurteil ist die Zeit, zu der die Mitwirkungsbehandlung hätte erbracht werden sollen.

Einzelfälle:

  • Antragsteller verweigert Maßnahmen für die Gesundheit
    • Das Vorliegen von teilweiser oder voller Erwerbsminderung ist zweifelhaft und kann daher nicht festgestellt werden.
      Verweigert der Rentenbewerber eine vom Rentenversicherungsträger für erforderlich gehaltene Maßnahme und kann daher teilweise oder volle Erwerbsminderung nicht festgestellt werden, so ist der Rentenantrag wegen fehlender Mitwirkung zu versagen.
    • Volle Erwerbsminderung liegt vor.
      Verweigert der Rentenbewerber eine für die Beseitigung sowohl der vollen als auch der teilweisen Erwerbsminderung erforderlich gehaltene Maßnahme, ist der Rentenanspruch anzuerkennen, aber für die Zukunft bis zur Nachholung der Mitwirkung zu versagen.
    • Teilweise Erwerbsminderung liegt vor; volle Erwerbsminderung soll abgewendet werden.
      Verweigert der Rentenbewerber eine für die Abwendung der vollen Erwerbsminderung erforderlich gehaltene Maßnahme, ist der Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung wegen fehlender Mitwirkung zu versagen. Der Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung ist anzuerkennen.
  • Rentenbezieher verweigert Maßnahmen für die Gesundheit
    Lehnt es der Bezieher einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung ab, sich einer vom Rentenversicherungsträger für erforderlich gehaltenen Maßnahme zu unterziehen, ist die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung für die Zukunft bis zur Nachholung der Mitwirkung zu entziehen.
    Lehnt es der Bezieher einer Rente wegen voller Erwerbsminderung ab, sich einer vom Rentenversicherungsträger für erforderlich gehaltenen Maßnahme zu unterziehen, ist die Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zukunft bis zur Nachholung der Mitwirkung zu entziehen. Kann nach Anhörung des zuständigen beratenden Arztes davon ausgegangen werden, dass teilweise Erwerbsminderung weiter vorliegt, ist für die Dauer der Entziehung der Rente wegen voller Erwerbsminderung die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung zu zahlen.

Schriftlicher Hinweis

Bevor die Versagung oder Entziehung wegen fehlender Mitwirkung ausgesprochen wird, ist der Berechtigte auf die sich hieraus ergebenden Folgen schriftlich hinzuweisen (§ 66 Abs. 3 SGB I). Der Inhalt des Hinweises muss der Bedeutung entsprechen, welche die Versagung oder Entziehung der Sozialleistung als entscheidende Maßnahme für den Betroffenen darstellt. Dem genügt nur ein konkreter unmissverständlicher auf den Einzelfall bezogener Hinweis, der die Folgen benennt und begründet. Nicht ausreichend ist es zu sagen, dass „der Vorgang dann nach Aktenlage abgeschlossen wird“. Ebenso reicht es nicht aus, lediglich auf den wesentlichen Inhalt des Gesetzestextes hinzuweisen. Der Berechtigte muss aufgrund des Hinweises in der Lage sein, die Konsequenzen seiner bisherigen Weigerung zu überdenken, er darf nicht von der Versagung oder Entziehung überrascht werden. Um dem Berechtigten genügend Zeit für seine Überlegungen zu lassen, muss der Hinweis mit der Festsetzung einer angemessenen Frist verbunden sein (siehe Abschnitt 3).

Die Angemessenheit der Frist richtet sich nach Art der Mitwirkung und den Umständen des Einzelfalles. Sie ist so zu kalkulieren, dass dem Mitwirkungspflichtigen ausreichend Zeit gelassen wird, eine durchdachte Entscheidung hinsichtlich seiner Kooperationsbereitschaft treffen zu können und die von ihm geforderten Mitwirkungshandlungen zügig vornehmen zu können.

Die Vorlage von Beweisurkunden nach § 60 Abs. 1 Nr. 3 SGB I beispielsweise kann im Extremfall sogar Monate in Anspruch nehmen. Im Allgemeinen wird jedoch als - wiederum von den jeweiligen Gegebenheiten abhängige - Orientierungsgröße eine Frist von zwei bis sechs Wochen angesetzt werden können.

Fehlerhafte Versagung der Rentenzahlung

Eine fehlerhafte Versagung der Rentenzahlung liegt vor, wenn das Rentenverfahren wegen fehlender Mitwirkung abgeschlossen wurde, obwohl nach Aktenlage über den Rentenanspruch dem Grunde nach hätte entschieden werden müssen (weil zum Beispiel nur einzelne Nachweise für die Anerkennung von Zeiten fehlten, die erforderliche Wartezeit aber bereits erfüllt war) oder wenn das Rentenverfahren mit einem Bescheid wegen mangelnder Mitwirkung abgeschlossen wurde, ohne dass der Berechtigte vorher schriftlich auf die Folgen der mangelnden Mitwirkung hingewiesen wurde (§ 66 Abs. 3 SGB I).

Hat die rentenberechtigte Person auf die Anforderung der Einkommensnachweise nicht reagiert oder wurde - trotz Erinnerung - keine der erforderlichen Einkommensnachweise eingereicht, ist die Witwenrente/Witwerrente dennoch für die Zeit des Sterbevierteljahres zu bewilligen. Eine Versagung der Witwenrente/Witwerrente wegen mangelnder Mitwirkung kann frühestens nach Ablauf des Sterbevierteljahres erfolgen.

Ungeachtet des fehlerhaften Versagungsbescheides ist nunmehr eine Erstentscheidung über den ursprünglichen Rentenantrag nachzuholen.

Denn auch die Rechtswidrigkeit des ergangenen Versagungsbescheides ändert nichts daran, dass der rechtswidrige Bescheid nach § 39 Abs. 1 SGB X mit dem Inhalt wirksam geworden ist, mit dem er bekannt gegeben wurde und solange wirksam bleibt, soweit er nicht korrigiert wird oder sich auf andere Weise erledigt (§ 39 Abs. 2 SGB X). Durch eine Erstentscheidung wird der fehlerhafte Versagungsbescheid insoweit beseitigt.

Dabei ist entsprechend dem Rechtsgedanken des § 44 Abs. 4 SGB X bei der rückwirkenden Leistungserbringung die vierjährige Ausschlussfrist zu beachten.

Beispiel 1: Antragsteller

(Beispiel zu Abschnitt 3)
Antrag auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit gestellt am04.09.2014
Volle Erwerbsminderung liegt vor seit29.08.2013
Rentenbeginn01.09.2014
Antragsteller verweigert ohne wichtigen Grund die zur Beseitigung der Erwerbsminderung angezeigten Reha-Maßnahmen
Versagungsbescheid wird erteilt am10.02.2015
Zustellung erfolgt am13.02.2015
Lösung:
Die Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit ist zu versagen ab01.03.2015
Für die Zeit vom 01.09.2014 bis 28.02.2015 ist die Rente zu zahlen.

Beispiel 2: Bezieher von Rente

(Beispiel zu Abschnitt 3)
Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit wird gezahlt seit01.07.2012
Rentenbezieher verweigert ohne wichtigen Grund die zur Beseitigung der Erwerbsminderung vorgesehenen Reha-Maßnahmen
Entziehungsbescheid wird erteilt am29.07.2014
Zustellung erfolgt am01.08.2014
Lösung:
Die Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit ist zu entziehen ab01.09.2014
Die Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit ist weiterzuzahlen für die Zeit bis31.08.2014

Beispiel 3: Antragsteller

(Beispiel zu Abschnitt 3)

Der Antragsteller begehrt die Leistung einer Witwen-/Witwerrente, legt jedoch die für die Prüfung einer etwaigen Einkommensanrechnung erforderlichen Einkommensnachweise nicht vor.

Lösung:

Der Rentenversicherungsträger kann nach Ablauf des sogenannten „Sterbevierteljahres“ die Rentenzahlung unter Hinweis auf den Mitwirkungsmangel bis zur Nachholung der Mitwirkung einstellen.

Beispiel 4: Antragsteller

(Beispiel zu Abschnitt 4.1)

Der Versicherte beantragt eine Altersrente. Die für den Leistungsanspruch erforderliche Wartezeit wird durch die nachgewiesenen Versicherungszeiten nicht erfüllt. Die Feststellung der vom Antragsteller behaupteten zusätzlichen Versicherungszeiten scheitert daran, dass er die Anfragen seines Rentenversicherungsträgers nach den seinerzeitigen Arbeitgebern unbeantwortet lässt.

Lösung:

Der Rentenantrag ist abzulehnen, weil die erforderliche Wartezeit nicht erfüllt ist.

Beispiel 5: Antragsteller

(Beispiel zu Abschnitt 4.1)

Der Antragsteller beantragt eine Altersrente, deren Voraussetzungen erfüllt sind. Er begehrt im Zuge des Antragsverfahrens die Anrechnung weiterer rentenrechtlicher Zeiten, trägt aber nicht in der gebotenen Weise zur Klärung dieser Versicherungszeiten bei.

Lösung:

Der Rentenversicherungsträger ist in diesem Fall nicht befugt, die Festsetzung der beantragten Rente mit der Begründung zurückzustellen, dass der Versicherte seinen Mitwirkungspflichten nicht genügt, sondern hat einen Bescheid über die Bewilligung der beantragten Rente zu erlassen, deren Höhe jedoch entsprechend niedriger ausfällt.

Gesetz zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts vom 13.12.2007 (BGBl. I S. 2904)

Inkrafttreten: 21.12.2007

Quelle zum Entwurf: BT-Drucksache 16/6541

Durch Artikel 20 Absatz 4 des Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts wurde in Absatz 2 eine Folgeänderung einer begrifflichen Änderung im sozialen Entschädigungsrecht vorgenommen. Auswirkungen auf den Bereich der Rentenversicherung haben sich dadurch nicht ergeben.

PflegeVG vom 26.05.1994 (BGBl. I S. 1014)

Inkrafttreten: 01.01.1995

Quelle zum Entwurf: BT-Drucksache 12/5262

In Absatz 2 wurden nach dem Wort „Sozialleistung“ die Wörter „wegen Pflegebedürftigkeit“ und nach dem Wort „deshalb“ die Wörter „die Fähigkeit zur selbständigen Lebensführung“ eingefügt.

SGB I vom 11.12.1975 (BGBl. I S. 3015)

Inkrafttreten: 01.01.1976

Quelle zum Entwurf: BR-Drucksache 305/72

Die Vorschrift ist in den alten Bundesländern am 01.01.1976 in Kraft getreten (Artikel 2 § 23 Absatz 1). Im Beitrittsgebiet gilt die Vorschrift seit dem 01.01.1991 (Anlage I zum Einigungsvertrag, Kapitel VIII Sachgebiet D Abschnitt III Ziffer I).

Zusatzinformationen

Rechtsgrundlage

§ 66 SGB I