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§ 65 SGB I: Grenzen der Mitwirkung

Änderungsdienst
veröffentlicht am

12.11.2019

Änderung

Dokumentdaten
Stand22.07.2015
Erstellungsgrundlage in der Fassung des SGB I vom 11.12.1975 in Kraft getreten am 01.01.1976
Rechtsgrundlage

§ 65 SGB I

Version001.01

Inhalt der Regelung

Zum Schutz der Antragsteller oder Leistungsbezieher werden die sich aus den §§ 60 bis 64 SGB I ergebenden Mitwirkungspflichten im Leistungsverfahren beschränkt.

Da die geforderten Mitwirkungshandlungen der Leistungsberechtigten oder Antragsteller die ideelle und körperliche Persönlichkeitssphäre unzumutbar beeinträchtigen können, enthält § 65 SGB I aus rechtsstaatlichen Gründen Beschränkungen der Mitwirkungspflichten, die sich an Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit, Geeignetheit und Erforderlichkeit orientieren. Absatz 2 konkretisiert diese Grundsätze für Behandlungen und Untersuchungen. Absatz 3 enthält ein umfassendes Weigerungsrecht.

Somit greifen die Regelungen der §§ 60 bis 64 SGB I immer dann nicht, soweit die Voraussetzungen des § 65 SGB I vorliegen.

Ergänzende/korrespondierende Regelungen

Die Mitwirkungspflichten aus §§ 60 bis 64 SGB I.

§ 67a SGB X regelt die Datenerhebung bei anderen Personen oder Stellen.

Grenzen der Mitwirkung (Absatz 1)

Eine Mitwirkungspflicht besteht nicht, soweit ihre Erfüllung nicht in einem angemessenen Verhältnis zu der in Anspruch genommenen Sozialleistung oder ihrer Erstattung steht (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit).

Der Betroffene wird von der Mitwirkung entbunden, wenn in seinem persönlichen Bereich Umstände und Verhältnisse die Mitwirkung unbillig erscheinen lassen (Grundsatz der Zumutbarkeit).

Kann der Rentenversicherungsträger sich durch einen geringeren Aufwand als der Berechtigte die erforderlichen Kenntnisse selbst beschaffen, besteht keine Mitwirkungspflicht (Grundsatz des geringeren Aufwandes).

Angemessenes Verhältnis zur Sozialleistung

Absatz 1 Nummer 1 enthält ein Übermaßverbot, das sich an den Leistungsträger richtet und verhindern soll, dass der Einzelne bei der Wahrnehmung seiner sozialen Rechte nicht unangemessen in seiner Persönlichkeitssphäre eingeschränkt wird.

Dabei ist abzuwägen zwischen den mit der Mitwirkung verbundenen Nachteilen und den mit der Sozialleistung verbundenen Vorteilen unter Berücksichtigung objektiver Kriterien des finanziellen, zeitlichen und körperlichen Aufwandes. Die Mitwirkung ist nicht sogleich ausgeschlossen, sondern besteht ggf. weiterhin, in geringerem Umfang, in anderer Form oder an einem anderen Ort (zur Vermeidung von Reiseaufwand).

Nicht in einem derartigen angemessenen Verhältnis steht, wenn die Mitwirkungspflicht - etwa die Beschaffung einer Urkunde - nur mit hohem persönlichem Einsatz erfüllt werden kann, während die in Frage stehende Sozialleistung nur gering ist.

Hinsichtlich der Mitwirkungspflicht bei Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (§ 64 SGB I) entfällt eine solche Pflicht zum Beispiel dann, wenn zwar nach Abschluss der Maßnahme ein Anspruch auf die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung wegen Berufsunfähigkeit nicht mehr besteht, inzwischen aber die Voraussetzungen für eine Altersrente eingetreten sind.

Aus wichtigem Grund unzumutbar

Die Zumutbarkeit bezieht sich auf die schützenswerten Interessen in der persönlichen Sphäre des Antragstellers oder Leistungsberechtigten und nicht nur auf die infrage stehende Sozialleistung.

Ob eine Mitwirkung dem Antragsteller oder Leistungsberechtigten zuzumuten ist, ist unter Berücksichtigung aller Umstände und Besonderheiten des Einzelfalles zu entscheiden.

Ein Maßstab für die Beurteilung der Zumutbarkeit ist insofern festgelegt, als diese nur beachtlich ist, wenn ein wichtiger Grund gegen eine Mitwirkungshandlung spricht. Unter einem wichtigen Grund sind die die Willensbildung bestimmenden Umstände zu verstehen, die die Weigerung entschuldigen und sie als berechtigt erscheinen lassen. Dabei sind auch Umstände seelischer, familiärer und sozialer Art zu berücksichtigen, etwa eine Unabkömmlichkeit im Beruf oder zu Hause. Als wichtige Gründe kommen insbesondere solche in Betracht, die in der Person des Betroffenen liegen, wie beispielsweise Bettlägerigkeit, Versorgung schulpflichtiger Kinder oder pflegebedürftiger Angehöriger. Ein geplanter Urlaub zählt nicht zu den wichtigen Gründen.

Geringer Aufwand

Die Mitwirkungspflichten bestehen nicht, soweit der Versicherungsträger sich durch einen geringeren Aufwand als der Antragsteller oder Leistungsbezieher die erforderlichen Kenntnisse selbst beschaffen kann.

Der vergleichende „Aufwand“ bezieht sich dabei auf den individuell benötigten Aufwand für die Erlangung der Kenntnisse und bemisst sich dabei nach Zeit, Geld und Komplexität. Demgegenüber kann der Leistungsträger oftmals mit geringerem Aufwand von anderen Behörden oder Dienststellen oder von Dritten Auskünfte einholen oder Unterlagen beiziehen. Die Daten dürfen auch bei anderen Personen oder Stellen erhoben werden, wenn die Erhebung beim Betroffenen einen unverhältnismäßigen Aufwand erfordern würde und keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass überwiegende schutzwürdige Interessen des Betroffenen beeinträchtigt werden (§ 67a Abs. 2 SGB X).

Ablehnung von Behandlungen und Untersuchungen (Absatz 2)

Behandlungen und Untersuchungen stellen einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit dar. Deshalb kann ein Antragsteller und Leistungsbezieher diese ablehnen, wenn einer der in Absatz 2 genannten Voraussetzungen vorliegt.

Im Einzelfall liegt ein Ablehnungsgrund vor, wenn ein Schaden für Leben oder Gesundheit nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann. Die danach vorzunehmende Prognose muss sich unter Berücksichtigung aktueller medizinischer, psychologisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse an einer Schadensgefahr orientieren.

Bei der geforderten Maßnahme muss es sich um eine duldungspflichtige Maßnahme handeln. Nicht duldungspflichtige Maßnahmen sind grundsätzlich ausgeschlossen. Danach können Untersuchungen und Heilbehandlungen abgelehnt werden, wenn sie mit erheblichen Schmerzen verbunden sind.

Schmerzen sind subjektive Empfindungen mit einer hohen emotionalen Bewertung. Demzufolge ist die Erheblichkeit auch nicht nach objektiven Maßstäben (Ausmaß und Dauer der Schmerzzufügung), sondern ausschließlich anhand der subjektiven Schmerzempfindlichkeit zu beurteilen. Aufgrund der Subjektivität der Schmerzwahrnehmung muss daher den Angaben des Betreffenden gefolgt werden. Geringfügige Schmerzen, wie sie etwa bei der Blutentnahme entstehen, werden eher akzeptiert werden als erwartbare post-operative Schmerzen.

Abgelehnt werden können auch erhebliche Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit. Ein solcher Eingriff liegt vor, wenn der durch Anlage und natürliche Entwicklung bedingte Zustand des Körpers willentlich verändert wird. Dies ist dann der Fall, wenn die Substanz des Körpers verändert wird (etwa durch Operationen), aber auch bei Veränderungen, die die Funktionsfähigkeit des Körpers beeinträchtigen, zum Beispiel Unfruchtbarkeit, dauernde Schmerzen oder bei Veränderungen des äußeren Erscheinungsbildes.

Eine Operation stellt immer einen so erheblichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit dar, dass eine Duldungspflicht für die Versicherten daraus nicht abgeleitet werden kann. Das gilt auch dann, wenn die Erwerbsfähigkeit durch einen solchen Eingriff wesentlich verbessert werden könnte.

An diagnostischen Maßnahmen braucht der Berechtigte zum Beispiel nicht zu dulden: Hirn- und Rückenmarkspunktionen (BVerfG NJW 63, 1597); Hirnkammerluftfüllungen = Luftenzephalographie (BVerfG NJW 63, 2368). Zumutbar ist dagegen eine Magenspülung (RVA AN 1898, 392). Nicht abgelehnt werden können einfache ärztliche Maßnahmen wie zum Beispiel Blutentnahme aus Ohrläppchen oder Blutader oder die Benutzung eines Magenschlauchs.

Der individuelle Zustand und die persönlichen Verhältnisse des Betroffenen sind zu berücksichtigen. Im Zweifelsfall ist zugunsten des Berechtigten zu entscheiden und seine Weigerung als berechtigt anzusehen.

Verweigerung von Angaben (Absatz 3)

Absatz 3 beinhaltet das Recht des Antragstellers oder Leistungsbeziehers, die Mitwirkung zu verweigern, wenn er sich selbst oder eine ihm nahestehende Person damit der Gefahr aussetzen würde, wegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden. Die Vorschrift erstreckt sich auf jegliche Form von Tatsachenangaben im Sinne des § 60 SGB I, also auch auf das persönliche Erscheinen und auf Untersuchungen, da auch hier Fakten zu Tage treten können, die eine Strafverfolgung auslösen. Letztlich sind sämtliche Mitwirkungspflichten nach §§ 60 bis 64 SGB I betroffen.

Das Recht auf Verweigerung muss vom Betroffenen geltend gemacht werden. Dabei genügt nicht nur die bloße Behauptung, vielmehr ist eine substantiierte Darlegung der Gründe, die die Gefahr einer Verfolgung auslösen könnte, erforderlich.

Die Vorschrift des Absatzes 3 entspricht der Regelung des § 383 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 ZPO. Nahestehende Personen in diesem Sinne sind:

1.der Verlobte,
2.der Ehegatte oder Lebenspartner, auch wenn die Ehe oder Lebenspartnerschaft nicht mehr besteht,
3.diejenigen, die mit dem Antragsteller oder Leistungsberechtigten in gerader Linie verwandt oder verschwägert, in der Seitenlinie bis zum dritten Grade verwandt oder bis zum zweiten Grade verschwägert sind oder waren.

Ob und inwieweit Antragsteller, Leistungsberechtigte oder Erstattungspflichtige über ihre Ablehnungs- und Verweigerungsrechte zu belehren sind, ist im Einzelfall zu entscheiden. § 65 SGB I enthält hierzu - anders als § 383 Abs. 2 ZPO - keine Belehrungsvorschrift. Ergeben sich jedoch aus dem Vortrag des Berechtigten Hinweise für einen Anwendungsbereich der Mitwirkungsverweigerung im Sinne des Absatzes 3, ist der Berechtigte auf sein Ablehnungs- und Verweigerungsrecht von Angaben über Tatsachen und Verhältnisse hinzuweisen.

§ 28 Nr. 3 BErzGG vom 06.12.1985 (BGBl. I S. 2154)

Inkrafttreten: 01.01.1986

Quelle zum Entwurf: BT-Drucksache 10/4148, 10/4212

Mit Wirkung vom 01.01.1986 werden durch § 28 Nr. 3 des BErzGG vom 06.12.1985 in Absatz 1 Nummer 1 die Worte „oder ihrer Erstattung“ eingefügt.

Art. 2 § 15 des SGB X vom 04.11.1982 (BGBl. I S. 1450)

Inkrafttreten: 01.07.1983

Quelle zum Entwurf: BT-Drucksache 9/95

Durch Artikel 2 § 15 Nr. 1 Buchst. r SGB X, Zusammenarbeit der Leistungsträger und ihre Beziehungen zu Dritten wird Absatz 3 neu gefasst.

SGB I vom 11.12.1975 (BGBl. I S. 3015)

Inkrafttreten: 01.01.1976

Quelle zum Entwurf: BT-Drucksache 7/868

§ 64 SGB I wurde mit dem SGB I vom 11.12.1975 (BGBl. I S. 3015) eingeführt und ist ab 01.01.1976 in Kraft (Art. 2 § 23 Abs. 1 SGB I).

Zusatzinformationen

Rechtsgrundlage

§ 65 SGB I