L 4 R 16/17
Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 24.10.2016 wird zurückgewiesen.
2. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Altersrente für schwerbehinderte Menschen nach dem Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Rentenversicherung - (SGB VI) bereits ab dem 01.09.2013.
Der am ... geborene Kläger führte am 04.04.2012 in der Auskunfts- und Beratungsstelle ein Gespräch mit der Mitarbeiterin der Beklagten, der Zeugin ... bezüglich der Frage, wann und wie er in Rente gehen könne. Bei diesem Beratungsgespräch war auch seine Ehefrau (die Zeugin ...) anwesend. Zum Zeitpunkt des Beratungsgesprächs war bei dem Kläger nach dem Sozialgesetzbuch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX) ein Grad der Behinderung (GdB) von 30 festgestellt. Die Wartezeit von 35 Jahren nach § 50 Abs. 4 SGB VI hatte er erfüllt. Über das Beratungsgespräch befindet sich in der Akte der Beklagten folgender Vermerk:
„... kein Anspruch ALG II wegen Haus, lfd. nur Minijob, EM-Schutz verloren! Aufbau EM-Schutz mit Minijob mit Aufstockung; RAK und Erläuterung LEAT 62 bei 50 % Schweb und LEAT 63; allg. Info RA-Stellung und Rente + HZV“
Am 27.06.2012 beantragte der Kläger beim Amt für soziale Angelegenheiten … die Feststellung eines höheren GdB. Nach Beiziehung ärztlicher Unterlagen lehnte die Versorgungsverwaltung mit Bescheid vom 22.10.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11.04.2013 die Feststellung eines höheren GdB ab. Im hiergegen durchgeführten Klageverfahren vor dem Sozialgericht Speyer … erklärte sich das Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung mit Anerkenntnis vom 26.05.2014 bereit, den Behinderungszustand des Klägers ab dem 27.06.2012 mit einem GdB von 50 festzustellen. Der Kläger nahm dieses Anerkenntnis an, welches mit Bescheid vom 23.06.2014 ausgeführt wurde.
Am 05.06.2014 stellte der Kläger einen Antrag auf Gewährung einer Altersrente für schwerbehinderte Menschen bei der Beklagten und teilte hierzu am selben Tag mit, dass er einen Rentenbeginn ab dem 01.09.2013 wünsche. Während der Beratung am 04.04.2012 sei er nicht darauf hingewiesen worden, dass er auf alle Fälle seine Altersrente zum 01.09.2013 beantragen müsse, auch wenn er „nicht die 50 % habe“.
Mit Bescheid vom 02.09.2014 bewilligte die Beklagte dem Kläger eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen ab dem 01.04.2014 in Höhe eines monatlichen Zahlbetrags von 759,90 €. Die Anspruchsvoraussetzungen ' seien ab dem 28.08.2013 erfüllt. Die Beklagte berücksichtigte wegen der vorzeitigen Inanspruchnahme der Altersrente einen Zugangsfaktor von 0,913.
Im Widerspruchsverfahren machte der Kläger geltend, er habe Anspruch auf Gewährung einer Rente bereits ab dem 01.09.2013. Dies habe er auch ausdrücklich beantragt.
Mit Widerspruchsbescheid vom 20.10.2014 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Der mit dem angefochtenen Bescheid festgestellte Rentenbeginn der Altersrente für schwerbehinderte Menschen sei nicht zu beanstanden. Ein Rentenbeginn zum 01.09.2013 komme nicht in Betracht, da der Antrag auf Gewährung einer Altersrente für schwerbehinderte Menschen erst am 05.06.2014 gestellt worden sei. Damit sei der Rentenbeginn ab dem 01.09.2013 nach § 99 Abs. 1 SGB VI nicht möglich. Ein früherer Rentenbeginn komme auch nicht im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs in Betracht. Dieser von der Rechtsprechung entwickelte Anspruch sei auf die Vornahme einer Amtshandlung zur Herstellung des Zustandes gerichtet, der bestehen würde, wenn der Versicherungsträger oder ein von ihm beauftragter Dritter die ihm aufgrund Gesetzes oder konkreter Sozialrechtsverhältnisse dem Versicherten gegenüber erwachsenden Haupt- oder Nebenpflichten, insbesondere zur Auskunft und Beratung bei sog. „naheliegenden Gestaltungsmöglichkeiten“, nicht ordnungsgemäß erfüllt hätte. Hinweise auf einen Beratungsmangel dergestalt, dass auf „naheliegende Gestaltungsmöglichkeiten“ nicht hingewiesen worden sei, seien nicht ersichtlich. Naheliegend in diesem Sinne sei es nicht, bei einem vorliegenden GdB von 30 auf die Möglichkeit der Beantragung einer Altersrente für schwerbehinderte Menschen hinzuweisen, die einen GdB von mindestens 50 voraussetze. Im Zeitpunkt der Vorsprache am 04.04.2012 habe der Kläger noch keinen Verschlechterungsantrag gestellt. Abschließend sei noch vorsorglich darauf hinzuweisen, dass eine Inanspruchnahme der Altersrente bereits ab dem 01.09.2013 zu einem Rentenabschlag von 10,8 % führen würde.
Im hiergegen durchgeführten Klageverfahren vor dem Sozialgericht Speyer hat der Kläger u.a. vorgetragen, anlässlich des Beratungsgesprächs habe er explizit mitgeteilt, dass sich sein Gesundheitszustand mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit in naher Zukunft verschlechtern und so zu einem GdB von 50 führen werde. Insofern sei es auch unerheblich, dass er - was zutreffe - im Zeitpunkt seiner Vorsprache noch keinen Verschlechterungsantrag gestellt habe.
Mit Urteil vom 24.10.2016 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger habe keinen Anspruch auf Gewährung einer Altersrente für schwerbehinderte Menschen ab dem 01.09.2013 oder ab einem anderen Zeitpunkt vor dem 01.04.2014. Der Kläger erfülle unabhängig von der Frage der rechtzeitigen Antragstellung die Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung einer Altersrente für schwerbehinderte Menschen erst ab dem Zeitpunkt der Bekanntgabe des Bescheids über die Zuerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft (GdB 50) durch das Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung vom 26.05.2014. Er habe zwar bereits vor dem 01.09.2013 die Wartezeit von 35 Jahren erfüllt und die für ihn maßgebliche Altersgrenze für die vorzeitige Inanspruchnahme für die Altersrente für schwerbehinderte Menschen von 60 Jahren und 7 Monaten erreicht. Er sei jedoch zum Zeitpunkt eines Rentenbeginns ab 01.09.2013 bzw. vor dem 01.04.2014 nicht als schwerbehinderter Mensch anerkannt. Dieser Anerkennung müsse zum Zeitpunkt des (potentiellen) Rentenbeginns vorliegen. Dies ergebe sich aus dem Wortlaut des § 236a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VI. Hiernach setze der Anspruch auf Altersrente für schwerbehinderte Menschen voraus, dass die schwerbehinderten Menschen „bei Beginn der Altersrente als schwerbehinderte Menschen (...) anerkannt sind“. Die Anspruchsvoraussetzung der Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft selbst werde mit dem Zeitpunkt des Beginns der Rente verknüpft, nicht lediglich das (objektive) Vorliegen der Voraussetzungen für eine Anerkennung als schwerbehinderter Mensch in Verbindung mit einer nachträglichen Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft. Die entgegenstehende Rechtsauffassung des Bundessozialgerichts (BSG), nach der es für die Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft nicht auf das Datum des Beginns ankomme, sondern die Rückwirkung einer späteren Anerkennung ausreiche, sei mit dem Gesetzeswortlaut insbesondere des § 99 Abs. 1 S. 1 SGB VI nicht vereinbar. Denn nach § 99 Abs. 1 S. 1 SGB VI werde eine Rente ausdrücklich „von dem Kalendermonat an geleistet, zu dessen Beginn die Anspruchsvoraussetzungen für die Rente erfüllt seien“. Der Wortlaut eines Gesetzes stecke die äußersten Grenzen funktionell vertretbarer und verfassungsrechtlich zulässiger Sinnvarianten ab. Entscheidungen, die den Wortlaut einer Norm offensichtlich überspielten, seien unzulässig. Der Kläger habe daher keinen Anspruch auf Gewährung einer Altersrente für schwerbehinderte Menschen für die Zeit vor dem 01.04.2014. Es könne deshalb dahin gestellt bleiben, ob im Beratungsgespräch vom 04.04.2012 der Beklagten tatsächlich ein Beratungsfehler unterlaufen sei. Nur ergänzend werde darauf hingewiesen, dass die Konstruktion eines richterrechtlichen „sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs“ nach Auffassung der erkennenden Kammer sowohl gegen das Gesetzesbindungsgebot des Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG) als auch gegen den Gesetzesvorbehalt des § 31 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - (SGB I) verstoße.
Am 09.01.2017 hat der Kläger gegen das am 05.01.2017 zugestellte Urteil Berufung eingelegt.
Der Kläger trägt vor, entgegen der rechtsirrigen Auffassung des Sozialgerichts Speyer sei eine rückwirkende Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft durchaus möglich, was einen Anspruch auf Gewährung der Altersrente für schwerbehinderte Menschen gerade ab der Antragstellung nach Maßgabe des § 236a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VI begründen könne. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus dem Wortlaut dieser Vorschrift. Dies entspreche der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts. Im Übrigen sei der sozialrechtlicher Herstellungsanspruch eindeutig anerkannt. Ein solcher sozialrechtlicher Herstellungsanspruch sei auf die Vornahme einer Amtshandlung zur Herstellung des sozialrechtlichen Zustandes gerichtet, der bestehen würde, wenn der Versicherungsträger die ihm aufgrund eines Gesetzes oder konkreter Sozialrechtsverhältnisse dem Versicherten gegenüber erwachsenden Haupt- oder Nebenpflichten verletzt habe. Anlässlich des Beratungsgespräches am 04.04.2012 sei er nicht auf die Notwendigkeit der Antragstellung hingewiesen worden. Er sei deshalb so zu stellen, als habe er den Antrag rechtzeitig gestellt. Eine vollständige Beratung mit Hinweis auf § 99 SGB VI sei bei dem Gespräch am 04.04.2012 nicht erfolgt.
Der Kläger beantragt,
- das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 24.10.2016 aufzuheben, den Bescheid vom 02.09.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.10.2014 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen bereits ab dem 01.09.2013 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
- die Berufung zurückzuweisen.
Sie ist der Ansicht, ein Beratungsfehler habe nicht vorgelegen. Das angefochtene Urteil sei zutreffend.
Der Senat hat die Ehefrau des Klägers ... sowie die Beamtin bei der Deutschen Rentenversicherung Frau … als Zeugen vernommen.
Frau … hat ausgesagt:
„Ich war bei dem Beratungsgespräch zugegen. Wir sind zum Beratungsgespräch gegangen, um einen Rentenantrag zu stellen. Frau … hat meinen Ehemann gefragt, ob er bereits schwerbehindert sei. Diese Frage hat mein Ehemann verneint. Daraufhin hat Frau … erklärt, dann könne er jetzt auch noch keinen Antrag auf die Gewährung einer Rente wegen Schwerbehinderung stellen. Mein Ehemann hatte bereits früher einen Antrag auf Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft bei der Versorgungsverwaltung gestellt, der aber abgelehnt wurde. Mein Ehemann erklärte daraufhin, dass er den Antrag noch einmal stellen würde. Mein Ehemann hat Frau … gefragt, ob er den Antrag rückwirkend stellen könne. Frau … hat die Frage damit beantwortet, dass sie gesagt hat, der Rentenantrag könne erst dann gestellt werden, wenn die Schwerbehinderung festgestellt sei. Bei meinem ein Jahr später erfolgten Beratungsgespräch wurde ich darauf hingewiesen, dass ich den Antrag sofort stellen solle. Ich hatte da auch nur 30 Prozent.“
Frau … hat ausgesagt:
Am 04.04.2012 war ich in der Auskunfts- und Beratungsstelle in … tätig. Dies habe ich den Notizen in den Akten entnommen. Wir machen nämlich über Beratungsgespräche Vermerke. An das konkrete Gespräch kann ich mich allerdings nicht mehr erinnern, es ist ja schon mehr als fünf Jahre her.
Meinen Vermerk erläutere ich wie folgt:
… steht für meinen Namen. Des Weiteren enthält der Vermerk den Hinweis, dass der Kläger wegen Hausbesitzes keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld II hat. Des Weiteren ist vermerkt, dass der Kläger einen Minijob ausübt. Der Hinweis „EM-Schutz verloren“ bedeutet, dass die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsminderung derzeit nicht vorhanden sind. Außerdem wurde der Kläger darauf hingewiesen, dass er die Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung wieder erfüllen könne, wenn er sich selbst an der Beitragsleistung im Rahmen des Minijobs beteilige. Der Vermerk besagt zudem, dass eine Rentenauskunft über die Voraussetzungen der Gewährung einer Rente wegen Schwerbehinderung erteilt wurde. Dem Kläger wurde auch ein ganzer Block (schriftliche Rentenauskunft) übergeben. Hierbei handelt es sich um seine persönliche Rentenauskunft. Die Zahl 62 ist die Abkürzung für die Altersrente für schwerbehinderte Menschen und LEAT 63 steht für die Auskunftserteilung bezüglich einer Rente für langjährige Versicherte. Außerdem wurde mündlich eine allgemeine Information über die Rentenantragstellung, die Rente und die Hinzuverdienstgrenzen erteilt. Ob ich dem Kläger gesagt habe, die Gewährung einer Rente wegen Schwerbehinderung könne erst gestellt werden, wenn ein GdB von 50 festgestellt ist, weiß ich nicht mehr. Allerdings hat das Beratungsgespräch am 04.04.2012 stattgefunden. Frühestens hätten die Voraussetzungen für die Gewährung einer Altersrente wegen Schwerbehinderung erst anderthalb Jahre später erfüllt sein können. Der Kläger war zum Zeitpunkt der Beratung noch nicht einmal 60 Jahre alt. Eine Antragsteifung hätte auch keinen Sinn gemacht. Normalerweise empfehlen wir drei bis vier Monate vor dem gewünschten Rentenbeginn einen Antrag zu stellen. Aus dem Vermerk „Info RA Stellung“ ergibt sich, dass ich die entsprechenden Hinweise über die Frist für die Rentenantragstellung (drei bis vier Monate vor dem gewünschten Rentenbeginn) erteilt habe. Außerdem wurde darauf hingewiesen, wo der Rentenantrag zu stellen ist. Hierbei handelt es sich indessen nur um eine allgemeine Empfehlung. Ob der Kläger mich auf seinen schlechten Gesundheitszustand hingewiesen hat, weiß ich nicht mehr. Möglich ist es, da auch die Frage der Rente wegen Erwerbsminderung erörtert wurde. Ich denke, dass ich den Kläger nicht darüber informiert habe, dass eine Rente wegen Schwerbehinderung gem. § 99 SGB VI erst ab Antragsmonat gewährt wird, auch wenn die Schwerbehinderteneigenschaft rückwirkend festgestellt wird. Derartige „Wäre-Wenn“-Szenarien gehen wir bei Beratungsgesprächen nicht so weit im Voraus durch.“
Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf den Inhalt der Prozessakte, der den Kläger betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Schwerbehindertenakte des Amtes für Soziales, Jugend und Versorgung ... und die Prozessakte des SG … verwiesen. Er war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Altersrente für schwerbehinderte Menschen bereits ab dem 01.09.2013 oder ab einem anderen Zeitpunkt vor dem 01.04.2014.
Nach § 236a Abs. 1 S. 1 SGB VI haben Versicherte, die vor dem 01.01.1964 geboren sind, frühestens Anspruch auf Altersrente für schwerbehinderte Menschen, wenn sie das 63. Lebensjahr vollendet haben, bei Beginn der Altersrente als schwerbehinderte Menschen (§ 2 Abs. 2 SGB IX) anerkannt sind und die Wartezeit von 35 Jahren erfüllt haben. Gemäß § 236 Abs. 1 S. 2 SGB VI ist die vorzeitige Inanspruchnahme dieser Rente frühestens nach Vollendung des 60. Lebensjahres möglich.
Nach § 236a Abs. 2 S. 1 SGB VI haben Versicherte, die vor dem 01.01.1952 geboren sind, Anspruch auf Altersrente für schwerbehinderte Menschen nach Vollendung des 63. Lebensjahres. Die vorzeitige Inanspruchnahme dieser Rente ist für diesen Personenkreis nach Vollendung des 60. Lebensjahres möglich.
Nach § 236a Abs. 2 S. 2 SGB VI wurde für Versicherte, die nach dem 31.12.1951 geboren sind, die Altersgrenze für den Anspruch auf Altersrente für schwerbehinderte Menschen und die Altersgrenze für die vorzeitige Inanspruchnahme dieser Rente angehoben. Für den im Jahre 1953 geborenen Versicherten ergibt sich daraus eine Altersgrenze für den Anspruch auf Altersrente für schwerbehinderte Menschen auf 63 Jahre und 7 Monate. Die vorzeitige Inanspruchnahme - mit Abschlägen - ist frühestens nach Vollendung des 60. Lebensjahres möglich.
Gemäß § 99 Abs. 1 SGB VI wird eine Rente aus eigener Versicherung von dem Kalendermonat an geleistet, zu dessen Beginn die Anspruchsvoraussetzungen für die Rente erfüllt sind, wenn die Rente bis zum Ende des Kalendermonats nach Ablauf des Monats beantragt wird, in dem die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind. Bei späterer Antragstellung - wie im vorliegenden Fall - wird eine Rente aus eigener Versicherung von dem Kalendermonat an geleistet, in dem die Rente beantragt wird.
Unter Berücksichtigung dieser Vorschriften setzt die Gewährung der Altersrente wegen Schwerbehinderung ab dem 01.09.2013 voraus, dass
- die Anspruchsvoraussetzungen ab dem 01.09.2013 erfüllt waren und
- ein Rentenantrag vorlag.
Die Anspruchsvoraussetzungen lagen - was zwischen den Beteiligten unstreitig ist - am 01.09.2013 vor. Der Kläger hatte zu diesem Zeitpunkt die Wartezeit von 35 Jahren nach § 50 Abs. 4 SGB VI erfüllt, das 60. Lebensjahr vollendet und mit Ausführungsbescheid vom 23.06.2014 hat das Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung … rückwirkend ab dem 27.06.2012 ein GdB von 50 festgestellt. Der Kläger gehörte deshalb am 01.09.2013 zum Personenkreis der schwerbehinderten Menschen gemäß § 2 Abs. 2 SGB IX.
Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts ist es unerheblich, dass die Schwerbehinderteneigenschaft rückwirkend festgestellt wurde. Für die Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft kommt es nicht auf das Datum des Bescheides an; es reicht die Rückwirkung einer späteren Anerkennung (vgl. BSG, Urteil vom 29.11.2007 - B 13 R 44/07 R). Eine derartige Auslegung der Norm ergibt sich auch aus § 2 Abs. 2 SGB I. Entsprechend dem Grundsatz dieser Vorschrift sind die Vorschriften und Rechtsgrundsätze so auszulegen, dass den Schwierigkeiten des Bürgers im Umgang mit dem Recht und der Verwaltung Rechnung getragen wird. Vorschriften des Sozialgesetzbuchs sind so auszulegen, dass die sozialen Rechte des Bürgers möglichst weitgehend verwirklicht werden (sog. Günstigkeitsprinzip). Das Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung hat die Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers ab dem 27.06.2012 anerkannt. Somit lag bei ihm am 01.09.2013 ein GdB von 50 vor. Das eine derartige Auslegung mit dem Wortlaut des § 236a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VI nicht zu vereinbaren ist, ist für den Senat nicht ersichtlich. Die Vorschrift stellt gerade nicht auf den Zeitpunkt der Rentenantragstellung ab. Gemäß § 99 Abs. 1 SGB VI wird eine Rente aus eigener Versicherung jedoch erst von dem Kalendermonat an geleistet, zu dessen Beginn die Anspruchsvoraussetzungen für die Rente erfüllt sind, wenn die Rente bis zum 3. Kalendermonat nach Ablauf des Monats beantragt wird, in dem die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind. Bei späterer Antragstellung wird eine Rente aus eigener Versicherung von dem Kalendermonat an geleistet, in dem die Rente beantragt wird. Der Kläger hat jedoch erst am 05.06.2014 einen Antrag auf Gewährung einer Altersrente für schwerbehinderte Menschen gestellt. Für eine Rentengewährung bereits ab dem 01.09.2013 fehlte es deshalb an einer wirksamen Antragstellung.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht unter Beachtung der Grundsätze des sog. sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs. Der Herstellungsanspruch ist auf die Herstellung der Situation gerichtet, die bei einer fehlerfreien Betreuung und Beratung des Betroffen eingetreten wäre. Insbesondere kann - wenn die Voraussetzungen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs vorliegen - eine rechtsgestaltende Handlung (etwa eine Antragstellung) fingiert werden (vgl. Mönch-Kalina, Voelcke in: Schlegel/Voelcke, juris PK-SGB I 2. Auflage, § 14 SGB I, Rn. 42 ff. mit zahlreichen Hinweisen auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts).
Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs hat der Senat nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 29.12.2015 (1 BvL4/11) an der Verfassungsmäßigkeit des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs keinerlei Zweifel erhoben. Vielmehr hat es ausgeführt, dass das Sozialgericht es versäumt hat, die Grundsätze des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs zu prüfen. Hieraus ergibt sich eindeutig, dass irgendwelche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit dieses Rechtsinstituts nicht bestehen (vgl. Bundesverfassungsgericht, aaO, Rn. 17). Nach Überzeugung des Senats gebietet die Gesetzesbindung von Art. 20 Abs. 3 GG dem Verwaltungsträger grundsätzlich, eine gesetzwidrige Beeinträchtigung eines gesetzlichen subjektiv-öffentlichen sozialen Rechts rückgängig zu machen, soweit dies zur Wiederherstellung der vom Gesetz eingeräumten Rechtsmacht notwendig sowie rechtlich und tatsächlich noch möglich ist (vgl. Lilge, Sozialgesetzbuch Allgemeiner Teil Kommentar 3. Auflage, vor § 13 bis 15 SGB I, Rn. 14).
Die Voraussetzungen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs sind indessen nur dann erfüllt, wenn der Leistungsträger eine zu Gunsten des Bürgers bestehende individuelle Pflicht objektiv verletzt hat (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. etwa Urteil vom 04.09.1979 - 7 Rar 115/78 BSGE 49, 30, 33). Zu diesen Pflichten gehören insbesondere die Beratungspflichten des § 14 SGB I. Auf ein persönliches Verschulden der Beratungsperson kommt es nicht an (vgl. BSG, Urteil vom 05.04.2000 - B 5 RJ 50/78 R). Eine Verletzung der Hinweis- und Beratungspflicht liegt dann vor, wenn es sich der Mitarbeiterin der Beklagten bei einer überschlägigen Prüfung hätte aufdrängen müssen, dass der Kläger möglicherweise zunächst eine rechtswidrige Ablehnung der Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft erhalten könnte, so dass diese Eigenschaft noch etwa 1,5 Jahre nach dem Beratungsgespräch ungeklärt wäre und er deshalb Mitte 2013 vorsorglich dennoch einen Rentenantrag stellen müsste, um frühzeitig ab dem 01.09.2013 eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen zu beziehen.
Eine Beratung in dieser Richtung hat sich zum Zeitpunkt des Beratungsgesprächs am 04.04.2012 nicht aufgedrängt. Die Beratung erfolgte ca. eineinhalb Jahre vor einem möglichen Rentenbeginn. Ein GdB von 50 war zu diesem Zeitpunkt nicht festgestellt. Der Kläger war nicht schwerbehindert. Einen Verschlimmerungsantrag hatte er bei der Versorgungsverwaltung nicht gestellt. Hätte der Kläger nach dem Beratungsgespräch einen Antrag auf Gewährung einer Altersrente wegen Schwerbehinderung gestellt, wäre dieser Antrag sofort abgelehnt worden. Er war weder schwerbehindert, noch hatte er die erforderliche Altersgrenze erreicht. Dem Kläger wurde schließlich empfohlen, einen Rentenantrag ca. drei bis vier Monate vor dem gewünschten Rentenbeginn zu stellen. Für die Zeugin … war nicht voraussehbar, dass dem Kläger erst nachträglich - nach Durchführung eines Klageverfahrens - mehr als zwei Jahre nach dem Beratungsgespräch mit Bescheid vom 23.06.2014 rückwirkend ein GdB von 50 anerkannt wurde. Die Zeugin … hat darauf hingewiesen, dass derartige „Was-wäre-wenn“-Szenarien im Rahmen von Beratungsgesprächen nicht erörtert werden. Die Aussage, dass der Rentenantrag erst dann gestellt werden könne, wenn die Schwerbehinderung festgestellt sei, ist für den Regenfall zutreffend und in Anbetracht des langen Verlaufs bis zum frühestmöglichen Rentenbeginn nicht zu beanstanden. Auch der Senat hält es nicht für eine Verletzung der Beratungspflicht, wenn nicht alle denkbaren - in der Zukunft möglicherweise eintretenden - Umstände im Rahmen einer Beratung erörtert werden. Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch ist nur dann erfüllt, wenn ein rechtswidriges Verhalten der Beratungsperson vorliegt (vgl. Lilge, aaO, Rn. 19 ff.) Der Anspruchsteller muss in den sozialen Rechten dadurch beeinträchtigt worden sein, dass der verpflichtete Leistungsträger durch ein ihm sozialrechtlich zuzurechnendes rechtswidriges, nicht notwendig auch schuldhaftes Verhalten ein Haupt- oder Nebenpflicht aus dem jeweiligen Sozialrechtsverhältnis verletzt hat. Ein rechtswidriges Verhalten der Zeugin … anlässlich der Beratung am 04.04.2012 ist für den Senat nicht erkennbar.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision wird nicht zugelassen, da Revisionszulassungsgründe (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 SGG) nicht vorliegen.