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L 4 R 46/08

Tenor

1.Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 15.01.2008 aufgehoben, der Bescheid der Beklagten vom 06.01.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.05.2006 und des Bescheides vom 14.03.2008 abgeändert und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Regelaltersrente unter Berücksichtigung einer Zeit vom 01.04.1995 bis 13.08.1998 als Rentenversicherungspflichtzeit nach § 3 Satz 1 Nr. 1a SGB VI zu gewähren.
2.Die außergerichtlichen Kosten der Klägerin beider Rechtszüge trägt die Beklagte.
Im Übrigen sind außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.
3.Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Feststellung der Rentenversicherungspflicht der Klägerin in der Zeit der Pflege für ihren Vater nach dem Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Rentenversicherung - (SGB VI).

Die 1943 geborene Klägerin ist die Tochter des 1911 geborenen und ... 1998 verstorbenen O-J M (Pflegebedürftiger).

Ab 01.04.1995 gewährte die Pflegekasse (Beigeladene) dem Pflegebedürftigen Pflegegeld nach Pflegestufe I in Höhe von damals monatlich 400,00 DM. Der Bewilligung lag ein Gutachten der Internistin MD Dr. M-W vom 24.08.1995 zu Grunde, wonach der Pflegebedürftige Pflegeleistungen rund um die Uhr durch seine Angehörigen erfahre. Er lebe in ehelicher Gemeinschaft mit seiner Ehefrau, die ihn pflege und hierbei von ihrer Tochter, der Klägerin, unterstützt werde, die im Nachbarhaus lebe.

Im Mai 1998 beantragte die Klägerin für ihren Vater die Pflegestufe II, woraufhin der Facharzt für Innere Medizin Dr. W vom MDK (Medizinischer Dienst der Krankenversicherung) ein Gutachten erstellte. Dieser führte nach einer Untersuchung des Pflegebedürftigen im Juli 1998 aus, der Pflegebedürftige werde rund um die Uhr durch Verwandte gepflegt, zusätzlich sei ein ambulanter Pflegedienst zweimal täglich im Einsatz. Der Pflegebedürftige sei zeitweise verwirrt und halte sich nur noch im Bett auf, wo auch sämtliche Pflege durchgeführt werde. Entsprechend dem Vorschlag des Dr. W bewilligte die Beigeladene Pflegeleistungen der Stufe II ab 01.05.1998.

Im Juni 2004 beantragte die Klägerin die Feststellung der Rentenversicherungspflicht als Pflegeperson auf Grund der Pflegetätigkeit für dem Pflegebedürftigen ab November 2002 im Umfang von 35 Wochenstunden. Zur Begründung legte die Klägerin eine Erklärung ihrer Mutter, I M, vor (Bl. 46 VA), wonach die Klägerin den Pflegebedürftigen von April 1995 bis August 1998 mindestens zwanzig Stunden die Woche gepflegt habe und zudem sie, die Mutter, zusätzlich ab dem Jahr 2002 im Umfang von ca. 30 bis 35 Stunden wöchentlich pflege.

Mit Bescheid vom 23.09.2004 führte die Beklagte aus, die Klägerin sei während der Pflege ihres Vaters (und anschließend der Mutter) nicht versicherungspflichtig nach § 3 S. 1 Nr. 1a SGB VI gewesen, da der von ihr ausgeübte Umfang der Pflegetätigkeit unter vierzehn Stunden in der Woche gelegen habe.

Nach Vorlage eines Pflegegutachtens des MDK über die Pflegedürftigkeit der Mutter der Klägerin vom 11.11.1984 erklärte sich die Beigeladene bereit, rückwirkend ab 01.09.2004 Rentenversicherungsbeiträge für die Klägerin wegen der Pflege der am 16.01.2005 verstorbenen Mutter zu entrichten.

Daraufhin nahm die Beklagte mit Bescheid vom 11.08.2005 ihren Bescheid vom 23.09.2004 zurück und stellte eine Rentenversicherungspflicht der Klägerin während der Zeit der Pflege für die Mutter vom 01.11.2002 bis 16.01.2005 fest.

Mit weiterem Bescheid vom 06.01.2006 (Bl. 112 VA) lehnte die Beklagte die Feststellung der Rentenversicherungspflicht der Klägerin für die Zeit der Pflege des pflegebedürftigen Vaters vom 01.04.1995 bis 13.08.1998 ab, da nach den Feststellungen der Pflegekasse der Pflegeaufwand der Klägerin unter vierzehn Stunden in der Woche gelegen habe. Nach Anhörung der Beigeladenen wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 10.05.2006 zurück.

Die hiergegen vor dem Sozialgericht Koblenz erhobene Klage hat das Sozialgericht mit Urteil vom 15.01.2008 abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Beklagte habe es zu Recht abgelehnt, die Zeit vom 01.04.1995 bis 13.08.1998 als Rentenversicherungszeit der Klägerin festzustellen. Nach den vorliegenden Unterlagen könne nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin den Pflegebedürftigen mindestens vierzehn Stunden wöchentlich gepflegt habe. In beiden MDK-Gutachten sei seinerzeit die Ehefrau des Pflegebedürftigen als Pflegeperson angegeben worden. Es sei unter Berücksichtigung aller vorliegenden Unterlagen nicht überwiegend wahrscheinlich, dass die Klägerin den Pflegebedürftigen im streitigen Zeitraum mindestens vierzehn Stunden wöchentlich gepflegt habe. Die Angaben der Klägerin diesbezüglich seien sehr widersprüchlich. Von einer Hilfeleistung der Klägerin im Bereich der Grundpflege für den Pflegebedürftigen könne nicht im Umfang von mindestens vierzehn Wochenstunden ausgegangen werden, da nach dem MDK-Gutachten vom August 1998 die Ehefrau des Pflegebedürftigen diesen gepflegt und ein ambulanter Pflegedienst zweimal täglich die Grundpflege und seine Abendtoilette übernommen habe.

Am 28.01.2008 hat die Klägerin gegen das ihr am 23.01.2008 zugestellte Urteil Berufung eingelegt.

Die Klägerin trägt vor,

es sei nicht zutreffend, dass ihre Mutter die Pflegeleistungen für den Pflegebedürftigen erbracht habe. Wie aus der vorgelegten Bescheinigung der Ambulanten Krankenpflege R R vom 18.01.2008 hervorgehe, sei ihre Mutter in der Zeit vom 19.06.1998 bis zum Tode des Pflegebedürftigen bereits selbst sehr gebrechlich gewesen, so dass sie die hauswirtschaftliche Versorgung komplett übernommen habe.

Die Klägerin beantragt,

  • das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 15.01.2008 aufzuheben, den Bescheid der Beklagten vom 06.01.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.05.2006 sowie des Rentenbescheides vom 14.03.2008 abzuändern und ihr Rente unter Berücksichtigung einer Rentenversicherungszeit vom 01.04.1995 bis 13.08.1998 für die Pflege des C-J M zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

  • die Berufung zurückzuweisen,

und nimmt zur Begründung Bezug auf das angefochtene Urteil.

Die Beigeladene trägt vor,

unter Berücksichtigung und Abzug der Zeiten, die auf den Pflegedienst entfielen, könnten für die Zeit vom 19.06.1998 bis zum 13.08.1998 Beiträge für die Klägerin entsprechend eines wöchentlichen Pflegeaufwandes von vierzehn Stunden abgeführt werden. Für die Zeit von 1995 bis 1998 lägen darüber hinaus keine weiteren Daten vor, zumal nach dem MDK-Gutachten als Hauptpflegeperson die Mutter der Klägerin aufgeführt sei.

Mit Bescheid vom 14.03.2008 hat die Beklagte der Klägerin Regelaltersrente ab dem 01.04.2008 gewährt.

Im Übrigen wird zur Ergänzung Bezug genommen auf den Inhalt der beigezogenen und die Klägerin betreffende Verwaltungsakte der Beklagten (Az.: ...) sowie der Beigeladenen und der Prozessakte, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet, da ihr ein Anspruch auf Feststellung zusätzlicher Versicherungszeiten während der Pflege des verstorbenen C-J M zusteht.

Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig; im hier streitigen Zeitraum war die Klägerin versicherungspflichtig in der gesetzlichen Rentenversicherung als nicht erwerbsmäßig tätige Pflegeperson. Gemäß § 199 S. 2 SGB VI können die Versicherten von den Trägern der Rentenversicherung die Feststellung verlangen, dass während einer ordnungsgemäß gemeldeten Beschäftigungszeit ein gültiges Beschäftigungsverhältnis bestanden hat. Nach Satz 3 dieser Vorschrift gilt Satz 2 auch für Zeiten einer nicht erwerbsmäßigen häuslichen Pflege, wie im vorliegenden Fall.

Gemäß § 3 S. 1 Nr. 1a SGB VI sind Personen in der Rentenversicherung in der Zeit versicherungspflichtig, in der sie einen Pflegebedürftigen i. S. v. § 14 SGB XI nicht erwerbsmäßig wenigstens 14 Stunden wöchentlich in seiner häuslichen Umgebung pflegen (nicht erwerbsmäßig tätige Pflegepersonen), wenn der Pflegebedürftige Anspruch auf Leistungen aus der sozialen oder einer privaten Pflegeversicherung hat. Die Versicherungspflicht der Pflegepersonen in der Rentenversicherung konkretisiert die leistungsrechtliche Vorschrift des § 44 Abs. 1 SGB XI, wonach u. a. die Pflegekassen zur Verbesserung der sozialen Sicherung einer Pflegeperson i. S. v. § 19 SGB XI Beiträge an den zuständigen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung entrichten, wenn die Pflegeperson regelmäßig nicht mehr als 30 Stunden wöchentlich erwerbstätig ist. Der Begriff der Pflegeperson i. S. v. § 19 SGB XI ist identisch mit demjenigen in § 3 S. 1 Nr. 1a SGB VI. Maßgeblich für die Versicherungs- und Beitragspflicht der Pflegeperson in der Rentenversicherung ist damit, ob die pflegebedürftige Person wenigstens 14 Stunden wöchentlich gepflegt wird (Mindestpflegezeit).

1. Für die Zeit vom 01.05.1998 (Bewilligung der Pflegestufe II) bis zum Todestag des Pflegebedürftigen (13.08.1998) ist auch nach der Stellungnahme der Beigeladenen vom 10.07.2008 unter Abzug der Zeit, welche an Pflegeleistungen durch den Pflegedienst Riehl erbracht worden ist, ein wöchentlicher Pflegeaufwand von mindestens vierzehn Stunden - nur unterbrochen durch den stationären Krankenhausaufenthalt des Vaters vom 05.06.1998 - 18.06.1998 - durch die Klägerin angefallen, was von der Beklagten nicht substantiiert bestritten wird.

2. Auch für die Zeit vom 01.04.1995 bis 30.04.1998 hat die Klägerin in einem rentenversicherungsrechtlich erheblichen Umfang von mindestens vierzehn Stunden in der Woche ihren Vater gepflegt. Dies steht zur Überzeugung des Senats fest aus den detaillierten Angaben der Klägerin, der Bescheinigung der Mutter der Klägerin und den Angaben im MDK-Gutachten.

Zu Unrecht berufen sich die Beklagte und die Beigeladene insoweit allein auf die in den MDK-Gutachten über die Pflegestufenfeststellung des Pflegebedürftigen.

Der im MDK-Gutachten vom 24.08.1995 angegebene wöchentliche Pflegeaufwand von ca. 1 Stunde täglich für die Grundpflege lässt sich nicht auf § 19 SGB XI übertragen, weil das Gutachten in erster Linie der Feststellung der Pflegebedürftigkeit der Versicherten zwecks Zuordnung zu einer Pflegestufe zum Inhalt hatte. Aus der in § 19 S. 1 SGB XI erfolgten Bezugnahme auf § 14 SGB XI ist nicht abzuleiten, dass die Mindestpflegezeit nur mit Hilfeleistungen bei den in § 14 SGB XI aufgeführten Verrichtungen erfüllt werden kann. Vielmehr ist § 19 SGB XI im Zusammenhang mit § 4 Abs. 2 S. 1 SGB XI zu sehen, wonach die Leistungen der Pflegeversicherung bei häuslicher und teilstationärer Pflege die familiäre, nachbarschaftliche und ehrenamtliche Hilfe ergänzen. Einzubeziehen ist bei der Bemessung der Mindestpflegezeit damit auch die Zeit, die für ergänzende Pflege, Betreuung sowie zur Hilfe bei der Erfüllung kommunikativer Bedürfnisse des Pflegebedürftigen benötigt wird. Erfasst wird damit auch der zeitliche Aufwand der Pflegeleistungen, die nicht aus Mitteln der Pflegeversicherung finanziert werden (herrschende Meinung: LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 03.06.2005, L 4 RJ 58/04; LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 20.09.2006, L 4 P 17/03; Urteil des erkennenden Senats vom 21.05.2008, L 4 R 27/08 mwN), worauf der Senat die Beteiligten mit Schreiben vom 16.09.2008 hingewiesen hat. Diese entspricht dem auch der in der Gesetzesbegründung zum Ausdruck gekommenen Zweck, der mit der Einführung der Versicherungspflicht für Pflegepersonen verfolgt worden ist. Es sollten die Pflegebereitschaft im häuslichen Bereich gefördert, der hohe Einsatz der Pflegepersonen anerkannt und der Tatsache Rechnung getragen werden, dass die vom Gesetzgeber als vorrangig erachtete häusliche Pflege meist nicht im Rahmen von sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen, sondern im häuslichen Umfeld von Angehörigen und Nachbarn geleistet wird und häufig mit dem Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit und eine hieran anknüpfende eigene Alterssicherung verbunden ist (vgl. LSG NRW Nordrhein-Westfalen, a. a. O. mit zahlreichen Nachweisen). Weder § 19 SGB XI noch § 3 S. 1 Nr. 1a SGB VI begrenzen den Begriff der Pflege durch eine ausdrückliche Bezugnahme auf die in § 14 Abs. 4 SGB XI abschließend genannten Verrichtungen des täglichen Lebens. Anders als in der gesetzlichen Unfallversicherung (vgl. § 2 Abs. 1 Nr. 17 SGB VII) ist dieser Regelung keine Einschränkung auf Pflegetätigkeiten im Bereich der Körperpflege, der Ernährung, der Mobilität sowie der hauswirtschaftlichen Versorgung zu entnehmen. Hätte der Gesetzgeber im Rahmen der Versicherungspflicht wegen Pflegetätigkeiten i. S. v. § 3 S. 1 Nr. 1a SGB VI eine Einschränkung auf Tätigkeiten im Bereich der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung gewollt, hätte es nahe gelegen, diese gesetzliche Regelung ähnlich wie in § 2 Abs. 1 Nr. 17 SGB VII zu formulieren. Dies ist nicht erfolgt. Der Pflegeaufwand i. S. v. § 19 SGB XI und somit auch i. S. v. § 3 Satz 1 Nr. 1a SGB VI kann daher sehr viel weiter gehen als der für die Feststellung der Pflegebedürftigkeit und ihrer Stufe maßgebliche Bedarf.

Vorliegend ist ein Pflegeaufwand gegeben, wie ihn die Klägerin in ihrer Aufstellung vom 21.09.2008 detailliert geschildert hat. Nach diesen Angaben, denen die Beklagte und die Beigeladene nicht widersprochen haben, sind durchschnittlich für die Pflege des Pflegebedürftigen 275 Minuten angefallen, also 4,58 Stunden täglich und 32,06 Stunden wöchentlich. Diese Angaben scheinen dem Senat auch nicht widersprüchlich. Sie widersprechen insbesondere nicht den Angaben in den MdK-Gutachten. Zwar ist richtig, dass im Gutachten vom 24.08.1995 die Mutter der Klägerin als Pflegeperson genannt ist, die den Pflegebedürftigen mehr als 14 Stunden in der Woche rund um die Uhr betreut habe. Allerdings findet sich auch der Hinweis auf eine Mithilfe der Klägerin. Nicht unbeachtet bleiben kann auch die von der Mutter der Klägerin ausgestellte Bescheinigung vom 27.06.2004, wonach die Klägerin den Pflegebedürftigen ab April 1995 gepflegt habe, weil ihr das nicht möglich gewesen sei. Dies stimmt überein mit den Angaben in der Bescheinigung der ambulanten Krankenpflege R R vom 18.01.2008. Schließlich ergibt sich aber auch aus dem Kurzbericht der Krankenpflege R vom 10.04.1996, dass offenbar die Klägerin und nicht deren Mutter damals schon Ansprechpartnerin für den Pflegedienst war.

Der Berufung ist daher stattzugeben.

Die Entscheidung über die Kosten stützt sich auf § 193 Abs. 1 und 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) zugelassen.

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