Navigation und Service

Logo der Deutschen Rentenversicherung (Link zur Startseite rvRecht)

rvRecht® - Rechtsportal der Deutschen Rentenversicherung

L 2 J 47/92

Tenor

I. Auf die Berufung der Klägerinnen wird das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 8. Oktober 1991 aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt,

1) der Klägerin zu 1) unter Aufhebung des Bescheides vom 17. November 1989 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. März 1990 Witwenrente aus der Versicherung des E. zu gewähren,

2) unter Aufhebung der Bescheide vom 17. November 1989 und 21. November 1989, beide in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. März 1990, den Klägerinnen zu 2) und 3) Halbwaisenrente aus der Versicherung des E. in gesetzlichem Umfang zu gewähren.

II. Die Beklagte hat den Klägerinnen die entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Instanzen in gesetzlichem Umfang zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerinnen beanspruchen Hinterbliebenenrente aus der Versicherung des seit 30. September 1988 vermißten E. geb. … 1936.

Die Klägerin zu 1) ist die Ehefrau, die Klägerinnen zu 2) und 3) sind die Kinder des Versicherten. Die Eheleute lebten getrennt und hatten in diesem Zusammenhang eine gemeinsame Abmachung, insbesondere hinsichtlich der Unterhaltszahlungen des Versicherten an seine Frau beziehungsweise seine Kinder, vom 2. November 1984 getroffen. Der Versicherte war seit 1961 bei der Maschinenfabrik F. als Auslandsmonteur beschäftigt. Er galt als zuverlässiger und sehr erfahrener Mitarbeiter mit weltweiten Einsätzen zum Beispiel in Lybien, China und der UdSSR; er verfügte auch über gewisse Sprachkenntnisse der englischen, französischen und spanischen Sprache. Am 30. Juli 1988 wurde der Versicherte nach Caracas, Venezuela, entsandt, um dort für eine Firma B., eine venezolanische Stoffabrik, eine Maschine einzurichten und in Betrieb zu nehmen; die Rückkehr sollte Ende Oktober 1988 erfolgen. Anfang September 1988 machte der Versicherte einige Tage Urlaub in Trinidad, von wo er am 6. September 1988 nach Caracas zurückkehrte. Am 28. August 1988 aus Caracas und am 4. September 1988 aus Trinidad übersandte er Ansichtskarten an seine aus D. zu Besuch weilende Mutter, die sein Haus in E. hütete; eine weitere Karte vom 4. September 1988 aus Trinidad ging an die Töchter. Der Mutter schrieb er unter dem 4. September 1988, er sei hier (Trinidad) nur für 5 Tage, dann müsse er wieder nach Caracas; er denke, er müsse dort noch bis Ende des Monats (September) bleiben; die letzten 2 Wochen komme noch ein Deutscher.

Nach der Zeugenaussage des Auslandsreisemonteurs D. vom 6. Januar 1989, der im September 1988 ebenfalls bei der Firma B. für seinen Arbeitgeber Maschinen aufstellte und den Kläger kennenlernte, sei in den ersten Wochen alles normal verlaufen. Als er - der Zeuge - nach einem Brasilienaufenthalt den Versicherten in Caracas wiedergesehen habe, sei ihm dieser verändert vorgekommen. Er habe den Eindruck gehabt, der Versicherte habe nicht mehr gewußt, wo er sei. Für ihn sei er „geisteskrank und weggetreten” gewesen. Er habe weder eine Tageszeit gewußt noch sich selbst irgendwie orientieren können. Als er - der Zeuge - am 28. September 1988 nach Hause geflogen sei, sei der Versicherte in Caracas zurückgeblieben, weil er habe sehen wollen, wie seine Anlage laufen würde. In Venezuela habe der Versicherte ihm - dem Zeugen - erklärt, daß er nach Beendigung seiner sonstigen Arbeit in Tobago Urlaub machen werde. Nach den Feststellungen der Deutschen Botschaft in … (Anlage zum Schreiben vom 15. November 1988) hat sich der Versicherte in der letzten Woche seines Aufenthalts in Venezuela auffällig benommen, wirr geredet und ständig Alkohol getrunken. Auf die Aufforderung des Geschäftsführers der Firma B., P. sich zu einer gründlichen ärztlichen Untersuchung nach Deutschland zu begeben, habe der Versicherte erklärt, daß er nicht zurückkehren wolle und vielmehr zurückkäme „um ihn umzubringen”.

Am 30. September 1988 wurde der Versicherte von einem Fahrer der Firma B. zum Flughafen nach Caracas gefahren, von wo er mit einem Flugzeug der Fluggesellschaft A. über Madrid nach … fliegen sollte. Das Gepäck wurde aufgegeben, der Versicherte passierte die Passkontrolle im Flughafengebäude und ist seitdem verschwunden. Das Gepäck ist in … angekommen. Nach Mitteilung der A. ist der Versicherte nicht an Bord der Maschine gegangen. In einem Telex der Firma B. an die Firma F. vom 3. Oktober 1988 heißt es: „P. ist erkrankt, es begann mit mentalen Koordinationsproblemen. Diese Situation hat sich im Laufe der Zeit zugespitzt und wir sahen uns gezwungen, ihn nach Deutschland zurückzusenden. Er ist am 30. September 1988 abends mit A. zurückgeflogen.”

Am 10. Oktober 1988 gab die Firma F. bei der Polizei in O. eine Vermißtenanzeige auf. Es wurde festgestellt, daß einen Tag nach dem Verschwinden des Versicherten, am 1. Oktober 1988, mit der American-Express-Karte des Versicherten ein Geldbetrag in Höhe von 400,- DM abgehoben worden war.

Als Passnummer waren Zahlen angegeben, die nicht mit denen des Vermißten identisch waren. Nach dem Ergebnis des anschließend veranlaßten ersten Schriftgutachtens des Hessischen Landeskriminalamtes vom 28. Dezember 1988 konnte nur vermutet werden, daß die Unterschrift auf der American-Express-Karte eine Nachahmungsfälschung ist; es sei aber auch die Möglichkeit gegeben, daß der Versicherte selbst infolge äußerer und/oder innerer Einflußgrößen wie zum Beispiel Krankheit, körperlicher Behinderung usw. an diesem Tag in langsamer und mehr schulmäßiger Handschrift die Unterschrift geleistet habe. Nach den Feststellungen der Security Abteilung von American-Express war vom Versicherten letztmals vor dem 30. September 1988 ein Betrag in Trinidad abgebucht worden. Für den Versicherten ist ein Abwesenheitspfleger bestellt. Wegen Einzelheiten der wirtschaftlichen Verhältnisse wird auf die Pflegschaftsakte des Amtsgerichts L. (Az.: 4 VIII 384/88) Bezug genommen. Die beiden Reisepässe des Versicherten, ausgestellt vom Bürgermeister von E. (Nr. … gültig bis 7. Mai 1990 und … gültig bis 1. Juni 1991) sind abgelaufen.

Am 6. September 1989 beantragten die Klägerinnen Hinterbliebenenrente aus der Versicherung des verschollenen Versicherten. Die Klägerin zu 1) gab unter dem 6. September 1989 eine eidesstattliche Erklärung ab, daß sie seit September 1988 keine anderen als die angezeigten Nachrichten erhalten habe. Die Beklagte wertete den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakte der Süddeutschen Eisen- und Stahlberufsgenossenschaft (BG) sowie die polizeilichen Ermittlungsunterlagen aus. Bei der BG haben die Klägerinnen ebenfalls Leistungen aus der Versicherung des Verschollenen beantragt. Der Witwenrentenantrag der Klägerin wurde von der Beklagten mit Bescheid vom 17. November 1989 und Widerspruchsbescheid vom 30. November 1989 abgelehnt. Auch die Anträge auf Halbwaisenrente der Klägerinnen 2) und 3) blieben erfolglos (Bescheide vom 21. November 1989 und 17. November 1989 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 30. September 1990). Unter Berücksichtigung der Gesamtumstände und Auswertung sämtlicher Unterlagen könne derzeit nicht mit Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daß der Versicherte nicht mehr am Leben sei.

Die Klägerinnen erhoben dagegen vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main am 30. April 1990 Klage. Durch Beschluß vom 7. Februar 1991 wurden die Verfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung unter dem Aktenzeichen S-10/16/J-1478/90 verbunden. Die Klägerinnen hielten es im Gegensatz zur Beklagten nach den Gesamtumständen für wahrscheinlich, daß der Vermißte einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen sei. Nach den Ermittlungen der Deutschen Botschaft habe er auch einige Barmittel bei sich gehabt, und es habe kein Grund bestanden, nicht nach Deutschland zurückzukehren. Die gesamten Ersparnisse von 250.000,- DM hätten sich noch in der Bundesrepublik Deutschland befunden. Es sei auch unwahrscheinlich, daß jemand, der einen festen Arbeitsplatz innehabe, sich mit einer geringen Bargeldmenge unbekannterweise an einen unbekannten Ort absetze, obwohl er zu Hause erhebliche Vermögenswerte besitze. Die gefälschte Unterschrift bei der Vorlage der Kreditkarte am 1. Oktober 1988 spreche im übrigen für ein Verbrechen. Ein Antrag auf Verschollenheitserklärung des Vermißten sei bisher nicht gestellt worden, da hier die 10-Jahresfrist des § 3 des Verschollenheitsgesetzes abzuwarten sei. Die Beklagte verteidigte demgegenüber ihre Verwaltungsentscheidungen. Sie vertrat die Auffassung, daß für die Bestimmung der „Wahrscheinlichkeit” im Sinne des § 1271 RVO die Grundsätze der im Sozialrecht geltenden objektiven Beweislast, insbesondere der Feststellungslast, analog heranzuziehen seien. Dies bedeute, daß die Klägerinnen Fakten vorzutragen hätten, die mehr für als gegen die Wahrscheinlichkeit des Todes des Versicherten sprächen. Daran fehle es vorliegend.

Das Sozialgericht zog das Gutachten des Hessischen Landeskriminalamtes vom 28. Dezember 1988 bei, ferner den bei der Deutschen Botschaft in … entstandenen Aktenvorgang, Ermittlungsunterlagen von dem Polizeipräsidenten in Offenbach, die Pflegschaftsakte E. vom Amtsgericht L. (Az.: 4 VIII 384/88), die beim Auswärtigen Amt in B. entstandenen Aktenvorgänge um das Verschwinden des Versicherten, die Akten von der Süddeutschen Eisen- und Stahl-BG, ferner u.a. eine Auskunft von der Firma F. vom 23. Juli 1990 mit Fotokopien des Schriftverkehrs, den die Firma mit verschiedenen Stellen in Venezuela geführt hat, außerdem weitere Auskünfte vom Bundesverwaltungsamt vom 24. Juli 1990, dem Bundeskriminalamt vom 25. Juli 1990, dem Rat der Stadt D., Geburtsort des Versicherten, vom 27. Juli 1990, dem Verband Deutscher Rentenversicherungsträger vom 20. August 1990, der Deutschen Botschaft in Trinidad vom 10. August 1990 und 7. September 1990 sowie dem Institut für Auslandsbeziehungen vom 8. Oktober 1990. Die Botschaft teilte u.a. mit, die Einwanderungsbehörde könne eine Einreise des Versicherten nach Trinidad oder Tobago im Jahr 1988 nicht feststellen. Das Institut für Auslandsbeziehungen vermochte keine konkreten Hinweise auf Möglichkeiten zur Ermittlung eines Verschwundenen in Venezuela zu geben. Erfahrungsgemäß sei es in nahezu allen Lateinamerika-Ländern unmöglich, eine Person, die nicht gefunden werden wolle, aufzuspüren. Das gelte vor allem dann, wenn sie die Haupt- oder größeren Städte verlasse. Sollte sich der Versicherte noch in Caracas aufhalten, sei eine Anfrage bei der Konsularabteilung der Deutschen Botschaft empfehlenswert, da er sich, falls deutscher Staatsbürger, irgendwann mit dieser in Verbindung setzen müßte.

In der mündlichen Verhandlung vom 8. Oktober 1991 gab die Klägerin zu Protokoll, sie habe bis heute keinerlei Nachricht von dem Vermißten erhalten. Dies gelte auch für dessen Mutter, mit der sie in ständigem Kontakt stehe. Durch Urteil vom gleichen Tage wies das Sozialgericht die Klagen ab. Zur Begründung führte es im wesentlichen aus, die Voraussetzungen für Hinterbliebenenrentenansprüche der Klägerinnen seien nicht erfüllt. Zwar sei nach den glaubhaften Angaben der Klägerin zu 1) seit mehr als 3 Jahren keine Nachricht von dem Versicherten mehr eingegangen. Gleichwohl habe es die Kammer nicht als überwiegend wahrscheinlich ansehen können, daß der Versicherte gestorben sei. Es sprächen mehr Umstände gegen als für den Tod des Versicherten. Von erheblicher Bedeutung sei in diesem Zusammenhang dessen geistiger Zustand vor der Abreise gewesen, wie er von Zeugen geschildert worden sei. Selbst wenn er sich normalerweise zumindestens bei seiner Mutter gemeldet hätte, so sei dies angesichts seines Geisteszustandes nicht - mehr - unbedingt zu erwarten gewesen. Das gesamte Verhalten vor der Abreise aus Venezuela spreche nach Auffassung der Kammer eher für ein willentliches Verbleiben in Venezuela. Für ein Gewaltverbrechen oder gar für den Tod seien keine hinreichenden Anhaltspunkte gegeben. Bei dem Schriftbild auf der Kreditkarte vom 1. Oktober 1988 könne es sich auch um einen Einfluß handeln, der zum Beispiel durch den veränderten Geisteszustand verursacht worden sein könnte. Auch das Vorbringen, daß der Versicherte in Deutschland erhebliche Vermögenswerte besitze und sich schon deshalb nicht ohne Barmittel längere Zeit unbekannterweise in einem fremden Land aufhalte, könne nicht überzeugen. Zwar möge dieses Argument für einen vernünftigen normalen Menschen zutreffen, dies gelte jedoch nicht für den Geisteszustand des Versicherten im Zeitpunkt der Abreise. Es könne nicht ausgeschlossen werden, daß sich der Versicherte in einem kleinen venezolanischen Ort auf dem Land aufhalte und sich dort angesichts seiner nahezu 30-jährigen Auslandserfahrung trotz Sprachschwierigkeiten und geistiger Verwirrnis, die evtl. inzwischen wieder abgeklungen sein könne, zurechtfinde. Daß ein unerkanntes Fortleben in einem Land wie Venezuela durchaus möglich sei, sei von der Deutschen Botschaft und dem Auswärtigen Amt übereinstimmend bestätigt worden. Selbst die Erfolglosigkeit sämtlicher Suchbemühungen durch die dort ansässigen Institutionen spreche nach Auffassung der Kammer nicht für den Tod des Versicherten, denn selbst bei Radiomeldungen sei ein umfassendes Erreichen sämtlicher kleiner Orte im Lande nicht gewährleistet.

Gegen das ihnen am 4. Januar 1992 zugestellte Urteil haben die Klägerinnen am 6. Januar 1992 Berufung eingelegt. Die Umstände des Verschwindens und die Tatsache, daß es seit Jahren keinerlei Lebenszeichen von dem Versicherten gebe, deute mit größter Wahrscheinlichkeit darauf hin, daß der Versicherte nicht mehr am Leben sei. Das Sozialgericht habe auf den geistigen Zustand vor der Abreise hingewiesen, der gerade belege, daß von einem willentlichen Absetzen des Versicherten oder einer geplanten Ferienreise nicht ausgegangen werden könne. Es sei auch zu berücksichtigen, daß der Versicherte seine Papiere und einige Barmittel sowie das Ticket bei sich gehabt habe, die gerade an einem Ort wie Caracas begehrte Objekte für Gewalttäter seien. Für Gewalttaten biete der weitläufige Flughafen auch genügend Örtlichkeiten. Für den Antritt einer Urlaubsreise fehle jeder Anhaltspunkt. Nach der Auskunft der Einreisebehörden für Tobago und Trinidad ist er dort nicht eingereist. Für die Reise hätte er mit größter Wahrscheinlichkeit auch seine American-Express-Karte benutzt. Gegen einen Verbleib in Venezuela spreche die Tatsache, daß er weder über örtliche Kenntnisse verfügt habe noch irgendwelche Bekannte oder Freunde oder sonstige Bezugspersonen vorhanden gewesen seien. Hinzu komme, daß er auch nicht die spanische Sprache beherrscht habe, sondern nur ein äußerst mangelhaftes Englisch. Schließlich sei auch darauf zu verweisen, daß der Versicherte weder seine Kreditkarte eingesetzt noch irgendwelche Versuche unternommen habe, auf sein erhebliches Vermögen in Deutschland zurückzugreifen. Für eine Hypothese, der Versicherte halte sich möglicherweise noch in Venezuela auf dem Lande auf, fehle jeglicher konkreter Anhalt. Vielmehr begründe der zeitliche Zusammenhang der Fälschung der Unterschrift vom 1. Oktober 1988 mit dem Zeitpunkt des Verschwindens die sichere Wahrscheinlichkeit, daß der Versicherte nicht mehr am Leben sei. Beide von der Bürgermeisterei in E. ausgestellten Pässe des Versicherten seien abgelaufen.

Die Klägerinnen beantragen (sinngemäß),

  • das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 8. Oktober 1991 aufzuheben und
  • 1) den Bescheid vom 17. November 1989 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. März 1990 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin zu 1) Witwenrente aus der Versicherung des E. zu gewähren,
  • 2) die Bescheide vom 17. November 1989 und 21. November 1989, beide in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. März 1990 aufzuheben und den Klägerinnen zu 2) und 3) Halbwaisenrente aus der Versicherung des E. in gesetzlichem Umfang zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

  • die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil.

Die Gesamtumstände ließen den Tod des Versicherten als möglich erscheinen, machten ihn aber nicht wahrscheinlich im Sinne der §§ 1271 Reichsversicherungsordnung (RVO) beziehungsweise 49 Sozialgesetzbuch (SGB) VI, so daß der Versicherte nicht als verstorben gelte.

Der Senat hat Auskünfte eingeholt von der Deutschen Botschaft in Venezuela vom 25. März 1992 und dem Polizeipräsidenten Offenbach am Main vom 8. Juli 1992. Danach liegen keine neuen Erkenntnisse vor. Außerdem hat der Senat die Streitakten der Klägerinnen des Verfahrens gegen die Süddeutsche-Eisen- und Stahl-BG (Hessisches LSG Az.: L-3/U-48/92 nebst BG-Verwaltungsakten) beigezogen; auch die Abwesenheitspflegschaftsakte des Amtsgerichts L. (Az.: 4 VIII 384/88) lag vor. Schließlich wurde der Rechtsstreit am 3. November 1992 mit der Klägerin zu 1) erörtert, weswegen auf das Sitzungsprotokoll verwiesen wird. In diesem Termin hat die Klägerin zu 1) die vom Versicherten zuletzt vor seinem Verschwinden an seine Mutter und die Töchter übersandten Ansichtskarten vom 25. August 1988 und 4. September 1988 zu den Akten gereicht, ferner ein Schreiben der Deutschen Botschaft, Caracas, vom 21. September 1992, daß dort keine Vorsprache wegen einer evtl. Paßverlängerung erfolgt sei. Anschließend wurde noch die in D. wohnende Mutter des Vermißten schriftlich zu ihren Kontakten zum Sohn befragt (Auskunft vom 11. Januar 1993). Das Hessische Landeskriminalamt hat auf Veranlassung des Senats weitere schriftvergleichende Untersuchungen durchgeführt (Gutachten vom 15. Januar 1993), die sich auf die im Termin am 3. November 1992 nachgereichten Ansichtskarten und die Unterschrift auf der am 1. Oktober 1988 ausgestellten American-Expresskarte bezogen hat. Im Gutachten wird u.a. ausgeführt, es könne davon ausgegangen werden, daß ein Nachahmungsfälscher anhand einer echten Unterschrift versucht habe, eine Nachahmungsfälschung zu fertigen. Die fragliche Unterschrift sei mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Nachahmungsfälschung.

Letztlich hat der Senat noch von der Sicherheitsabteilung der American-Express International erfahren (schriftlich Auskunft vom 6. April 1993), daß nach Oktober 1988 mit der Express-Karte des Versicherten keine weiteren Umsätze getätigt wurden; im Zeitraum Mai 1988 bis Oktober 1988 sei die Karte regelmäßig eingesetzt worden.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Zur Ergänzung des Tatbestandes und des Vorbringens der Beteiligten im übrigen wird auf den Inhalt der Gerichts- und Beklagtenakten, der Pflegschaftsakte des Amtsgerichts Langen, Kopien aus der Gerichtsakte L-3/U-48/92 sowie der vom Sozialgericht gefertigten auszugsweisen Kopien (Akten der Deutschen Botschaft, des Auswärtigen Amtes, des Polizeipräsidenten Offenbach), Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Der Senat konnte den Rechtsstreit mit Einverständnis aller Beteiligten ohne mündliche Verhandlungen entscheiden.

Die Berufung ist zulässig; die Berufung der Klägerinnen zu 2) und 3) betrifft nicht nur Rente für abgelaufene Zeiträume im Sinne von § 146 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die Berufung ist auch sachlich begründet. Das angefochtene Urteil des Sozialgerichts kann nicht aufrechterhalten bleiben. Die Klägerinnen haben Anspruch auf Hinterbliebenenrente aus der Versicherung des E..

Nach § 1271 RVO wird Hinterbliebenenrente auch gewährt, wenn der Versicherte verschollen ist; er gilt als verschollen, wenn während eines Jahres keine glaubhaften Nachrichten von ihm eingegangen sind und die Umstände seinen Tod wahrscheinlich machen; der Träger der Rentenversicherung stellt den Todestag Verschollener nach billigem Ermessen fest. Die Vorschrift ist gemäß § 300 Abs. 2 Sozialgesetzbuch (SGG) VI hier weiterhin anzuwenden. Im übrigen entspricht die am 1. Januar 1992 in Kraft getretene Vorschrift des § 49 SGB VI im wesentlichen der des § 1271 RVO. Bei dieser handelt es sich um eine Sondervorschrift, die auf dem Gebiet der gesetzlichen Rentenversicherung den allgemeinen Verschollenheitszeitraum von 10 Jahren ersetzt. In den Gesetzesmaterialien zur Einführung dieser Vorschrift in die RVO heißt es: Da die Todeserklärung nach dem BGB im allgemeinen erst nach 10 Jahren zulässig sei, könne die Gewährung von Hinterbliebenenbezügen nicht von der Todeserklärung abhängig gemacht werden; die Voraussetzungen müßten leichter erfüllbar sein, wenn die Hinterbliebenen rechtzeitig in den Besitz ihrer Bezüge kommen sollten; auf der anderen Seite müsse tunlichst verhütet werden, daß eine Bewilligung geschehe, ehe der Versicherte wirklich gestorben sei; beiden Erfordernissen wolle der Entwurf genügen (siehe dazu BSG, Urteil vom 29. Juli 1976, Az.: 4 RJ 5/76).

Die Voraussetzungen der Vorschrift des § 1271 RVO sind nach Auffassung des Senats zugunsten der Klägerinnen erfüllt. Von dem Versicherten liegen seit seinem Verschwinden am 30. September 1988 keine Nachrichten mehr vor; es handelt sich mittlerweile um einen Zeitraum von fast 5 Jahren. In dieser Zeit war auch durchaus mit. Nachrichten zu rechnen, so wie der Versicherte noch am 25. August 1988 und 4. September 1988, also kurz vor seinem Verschwinden, an seine Mutter beziehungsweise seine beiden Töchter Postkarten geschrieben hat.

Der Tod des Versicherten ist auch nach den Gesamtumständen nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich. Der Senat ist nach seiner weiteren Sachaufklärung der Überzeugung, daß der Versicherte im Ausland umgekommen ist. Ob und inwieweit Umstände den Tod eines Vermißten wahrscheinlich machen, kann nur unter Auswertung aller Gegebenheiten und Besonderheiten im Einzelfall beurteilt werden. Dabei sprechen solche Umstände gegen die Wahrscheinlichkeit des Todes, die bei Würdigung aller Tatsachen den Verdacht bestehen lassen, ein Vermißter sei zum Beispiel aus familiären, wirtschaftlichen Gründen untergetaucht, beziehungsweise habe sich abgesetzt oder wolle der Strafverfolgung entgehen. Solche Verdachtsmomente sind hier nicht gegeben.

Anknüpfungstatbestand ist zunächst der berufsbedingte Aufenthalt des Versicherten im Juli/August/September 1988 in Venezuela; es handelt sich hier zwar um kein ausgesprochenes Krisengebiet (wie z. Zt. Bosnien), aber der Ordnungs- und Sicherheitsstandard ist als sehr niedrig zu veranschlagen, wie auch aus der Auskunft des Instituts für Auslandsbeziehungen vom 8. Oktober 1990 deutlich wird. Wichtiges Indiz für den Tod des Versicherten ist die Nachahmungsfälschung auf der Kreditkarte des seit 30. September 1988 Vermißten. Die Kreditkarte wurde am Tag nach dem Verschwinden des Versicherten am 1. Oktober 1988 eingesetzt. Bei der Unterschrift handelt es sich nach dem vom Senat eingeholten Schriftgutachten des Hess. Landeskriminalamts vom 15. Januar 1993 um eine Nachahmungsfälschung; krankheitsbedingte Einflüsse auf diese Unterschrift, die noch im ersten Gutachten vom 28. Dezember 1988 für möglich gehalten wurden, werden ausgeschlossen. Auch die bei Einlösung des Schecks auf dem Formular seinerzeit angegebene Passnummer war mit keiner Nummer der beiden Reisepässe identisch, über die der Versicherte verfügen konnte. Zwar läßt bei isolierter Betrachtung das Auftauchen eines gefälschten Schecks sicherlich nicht den (weitgehenden) Schluß zu, der Tod des Versicherten sei allein deshalb wahrscheinlich. Eine solche isolierte Betrachtung würde aber die weiteren Gesamtumstände der Angelegenheit außer Betracht lassen. So waren die Reisepässe am 7. Mai 1990 beziehungsweise 1. Juni 1991 abgelaufen, ohne daß ein Versuch einer Paßverlängerung irgendwo bekannt geworden ist. Die mäßigen Fremdsprachenkenntnisse deuten auch nicht darauf hin, daß sich der Versicherte ins Landesinnere abgesetzt hat, um dort als „Aussteiger” zu leben. Auch wenn er von seiner Familie getrennt lebte, hatte er vor seinem Verschwinden doch ständigen Kontakt zu seiner Mutter und seinen Kindern, wie die übersandten Postkarten und die Mitteilung der Mutter vom 11. Januar 1993 belegen. In der Postkarte vom 4. September 1988 hatte er auch seinen Aufenthalt in Caracas selbst bis Ende September 1988 befristet. Die vorliegenden Postkarten bestätigen auch nicht, daß der Versicherte bereits Anfang September krank gewesen ist.

Zwar kann anhand der Aussage des Zeugen M., dem Telefax der Firma B. vom 3. Oktober 1988 und deren Mitarbeiter P. davon ausgegangen werden, daß der Versicherte Ende September 1988 krank und in einem Zustand geistiger Verwirrung gewesen ist. Überlegungen, welche Konsequenzen aus diesem Eindruck für die unterbliebene Abreise aus Caracas abzuleiten sind, können nur spekulativer Art sein. Fest steht jedenfalls, daß der Versicherte nicht mit der gebuchten Maschine der A. geflogen ist, obwohl er bereits die Passkontrolle passiert haben soll und sein Gepäck aufgegeben war. Da der Versicherte nach Auskunft der Einreisebehörden von Tobago und Trinidad dort nicht eingereist ist, kann nicht festgestellt werden, daß er statt des gebuchten Fluges nach F. eine Urlaubsreise ohne Wiederkehr nach Tobago und Trinidad unternommen hat; da der Versicherte auch kein Gepäck mehr hatte - dies ist in F. angekommen - und auch bei seinem 5-tägigen Urlaub in Trinidad Anfang September 1988 die American-Express Karte eingesetzt hatte, wäre bei seinem Fortleben auch ein weiterer regelmäßiger Einsatz dieser Karte - wie zuvor - zu erwarten gewesen. Denn es kann davon ausgegangen werden, daß die Barmittel des Versicherten zur Zeit seines Verschwindens begrenzt waren. Andererseits hatte er in Deutschland erhebliches Vermögen auf das er hätte zurückgreifen können. Aus Sicht des Senats ist für ein freiwilliges Verschwinden des Versicherten kein Motiv und auch kein überzeugender Grund vorhanden. Immerhin hat es sich um einen erfahrenen Auslandsmonteur gehandelt. Die familiären Schwierigkeiten, die durch die Trennungsvereinbarung vom 2. November 1984 dokumentiert werden, haben dem Kontakt zwischen dem Versicherten und seinen Kindern beziehungsweise seiner Mutter niemals entgegengestanden. Versuche zur Kontaktaufnahme sind aber zwischenzeitlich nicht erfolgt. Selbst wenn es entsprechend der Auskunft des Instituts für Auslandsbeziehungen vom 8. Oktober 1990 erfahrungsgemäß in nahezu allen Lateinamerika-Ländern unmöglich ist, eine Person aufzuspüren, die nicht gefunden werden will, hätte bei Fortleben des Versicherten der Versuch einer Kontaktaufnahme mit Familienangehörigen erwartet werden können. Die Gesamtumstände, u.a. der letzte bekannte Aufenthaltsort, die Nachahmungsfälschung, die familiäre Bindung, der Ablauf der Reisepässe, die eingeschränkten Sprachkenntnisse und die seit September 1988 beschriebene gesundheitliche Situation begründen die Überzeugungen des Senats, daß der Versicherte mit Wahrscheinlichkeit nicht mehr am Leben ist. Ohnehin hat auch die zunehmende zeitliche Distanz zum Zeitpunkt des Verschwindens am 30. September 1988 die Überzeugung des Senats gestärkt. Damit sind die Voraussetzungen der Sondervorschrift des § 1271 RVO zugunsten der Klägerinnen erfüllt; insbesondere ist auch dem Zweck der Vorschrift Rechnung getragen, daß die Hinterbliebenen unabhängig von einer Todeserklärung gemäß § 3 Verschollenheitsgesetz rechtzeitig - das heißt vor Ablauf einer 10-jährigen Wartefrist - in den Besitz ihrer Bezüge kommen sollen. Allerdings hat nach § 1271 Abs. 3 (vgl. auch § 49 Satz 3 SGB VI) die Beklagte noch eine Verwaltungsentscheidung hinsichtlich des Todestages des verschollenen Versicherten zu treffen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, da es an den Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG fehlt.

Zusatzinformationen