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L 3 R 32/11

Tatbestand

Die Beteiligten streiten (noch) über die Versicherungs- und Beitragspflicht der Klägerin als selbständige Physiotherapeutin in der Zeit vom 1. Januar 2002 bis 31. Juli 2006.

Die Klägerin betrieb in der Zeit vom 1. Februar 2001 bis zum 31. August 2009 eine Physiotherapiepraxis in H., in der sie ab dem 1. August 2006 zwei Mitarbeiter beschäftigte.

Die Beklagte erließ gegenüber der Klägerin folgende Bescheide:

  • Bescheid vom 14. Dezember 2004 - Feststellung der Versicherungspflicht und Be-rechnung der Beitragsforderung für die Zeit vom 1. Januar 2001 bis 31. Dezember 2004,
  • Bescheid vom 1. Februar 2005 - Berechnung rückständiger Beiträge und Säumniszuschläge,
  • Bescheid vom 28. Februar 2005 - Berechnung rückständiger Beiträge und Säumniszuschläge,
  • Bescheid vom 11. Januar 2006 - Berechnung der Beitragsforderung für die Zeit vom 1. Januar 2005 bis 31. Dezember 2005 und ab 1. Januar 2006 (dabei ab 1. Dezember 2005 Geltendmachung des Regelbeitrags),
  • Bescheid vom 15. August 2006 - Abhilfeentscheidung hinsichtlich des Jahres 2001 (selbständige Tätigkeit lediglich in geringfügigem Umfang),
  • Bescheid vom 27. Februar 2009 - Änderung der Beitragshöhe ab 1. Januar 2006,
  • Weiterer Bescheid vom 27. Februar 2009 - Aufhebung der Beitragsforderung ab 1. August 2006 wegen der Beschäftigung von Arbeitnehmern,
  • Bescheid vom 2. Juni 2010 - Feststellung des Endes der Versicherungspflicht mit dem 31. August 2009 wegen Tätigkeitsaufgabe.

Gegen die Bescheide aus den Jahren 2004, 2005 und 2006 - mit Ausnahme des Bescheides vom 15. August 2006 - legte die Klägerin Widerspruch ein, der mit Widerspruchsbescheid vom 4. Januar 2007 zurückgewiesen wurde.

Hiergegen hat die Klägerin am 14. Februar 2007 Klage erhoben, die sie später auch gegen die Bescheide vom 27. Februar 2009 und 2. Juni 2010 gerichtet hat. Mit Urteil vom 6. Dezember 2010 hat das Sozialgericht der Klage stattgegeben und sämtliche angegriffenen Bescheide aufgehoben. Die Klägerin sei während ihrer selbstständigen Tätigkeit als Physiotherapeutin nicht gemäß § 2 Satz 1 Nr. 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Rentenversicherung - (SGB VI) versicherungspflichtig gewesen. Entgegen der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts handele es sich bei Physiotherapeuten nicht um versicherungspflichtige Pflegepersonen in der Krankenpflege. Wenn nämlich Logopäden vom Bundesozialgericht als versicherungsfrei beurteilt würden, dann seien bei einem Vergleich von Ausbildung und Tätigkeit selbstständiger Physiotherapeuten und Logopäden keine Unterschiede erkennbar, die es rechtfertigen könnten, Physiotherapeuten hinsichtlich der Frage der Versicherungspflicht anders als Logopäden zu behandeln. Wie diese müssten die Physiotherapeuten daher als nicht versicherungspflichtig gelten.

Gegen die ihr am 8. Februar 2011 zugestellte Entscheidung, auf die Bezug genommen wird, hat die Beklagte am 4. März 2011 Berufung eingelegt. Das Urteil sei unzutreffend. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. Urteile vom 11. November 2003, B 12 RA 2/03; 12. Januar 2007, B 12 R 14/06 B; 22. Juni 2005, B 12 RA 6/04 R und 10. Mai 2006, B 12 RA 2/05 R; bestätigt vom Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung vom 25. Mai 2007, 1 BvR 1045/07) unterlägen selbstständig tätige Physiotherapeuten der Versicherungspflicht in der Rentenversicherung. Obwohl die Frage einer möglichen Unzulässigkeit der Andersbehandlung von Physiotherapeuten und Logopäden bei der Versicherungspflicht im Falle einer selbstständigen Tätigkeit gesehen worden sei, hätten die Gerichte - so auch das Landessozialgericht Hamburg im Urteil vom 18. September 2007 (L 3 R 129/05) unter Auswertung des Urteils des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 21. November 2006 (6 A 10271/06) - an der Versicherungspflicht festgehalten. Inzwischen habe das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich das Urteil des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 9. Juli 2008 (VG AN 9 K 07.03319), auf welches das Sozialgericht seine Argumentation in der angegriffenen Entscheidung gestützt habe, aufgehoben und entschieden, dass Physiotherapeuten nicht unabhängig von einer ärztlichen Verordnung tätig werden könnten und damit nicht zur Ausübung der Heilkunde berechtigt seien (Urteil vom 26. August 2009, 3 C 19.08).

Die Beklagte beantragt,

  • das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 6. Dezember 2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

  • die Berufung zurückzuweisen.

Dem erstinstanzlichen Urteil sei zuzustimmen. Es sei bundesweit das erste Urteil, welches diese (zutreffende) Auffassung vertrete. Bei richtiger Ansicht handele es sich bei einem Physiotherapeuten nicht um eine selbständig tätige Pflegeperson in der Kranken-, Wochen-, Säuglings- und Kinderpflege im Sinne des § 2 Satz 1 Nr. 2 SGB VI, weil er eher therapiere als pflege. Im Gegensatz zu Pflegepersonen arbeite er nicht auf Anweisung oder unter Aufsicht eines Arztes. Die einzige Abhängigkeit bestehe beim Tätigwerden im Rahmen der Therapie, wo anders als bei Präventionsaufgaben eine ärztliche Verordnung vorliege. Das Vorliegen einer ärztlichen Verordnung könne trotzdem kein geeigneter Anknüpfungspunkt sein, denn sie komme auch in anderen Arbeitsbereichen - wie bei Logopäden - vor. Ein Logopäde sei dabei nicht versicherungspflichtig. Es müsse sich die Frage der Versicherungspflicht von Physiotherapeuten hieran orientieren.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die ausweislich der Niederschrift über die öffentliche Senatssitzung zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Akten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige Berufung der Beklagten (vgl. §§ 143, 144, 151 SGG) ist auch begründet. Die angegriffenen Bescheide der Beklagten sind formell wie materiell nicht zu beanstanden.

Die Berufung der Beklagten ist (insgesamt) zulässig. Insbesondere richtet sie sich zu Recht auch gegen die Aufhebung des für die Klägerin günstigen zweiten Bescheides vom 27. Februar 2009 und des Bescheides vom 2. Juni 2010. Die Beklagte ist insofern beschwert, weil das Sozialgericht diese von ihr erlassenen Bescheide beseitigt hat, deren Bestand es aber bedarf, um insgesamt eine sachgerechte Regelung der Versicherungspflicht und der aus ihr folgenden Beitragspflicht vorzunehmen.

Die Berufung ist auch begründet. Zu Recht hat die Beklagte für den streitigen Zeitraum Versicherungspflicht der Klägerin nach § 2 Satz 1 Nr. 2 SGB VI als Pflegeperson in der Krankenpflege festgestellt und Beiträge zur Gesetzlichen Rentenversicherung in zutreffender Höhe erhoben. Wie das Sozialgericht und auch die Beteiligten selbst unter Nennung einer Vielzahl von Nachweisen darlegen, nimmt das Bundessozialgericht in ständiger Rechtsprechung - gefolgt von fast allen Instanzgerichten - eine Versicherungspflicht für Physiotherapeuten an, weil sie ihre selbständige Tätigkeit in grundsätzlicher Abhängigkeit von Heilkundigen ausüben. Auch das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 26. August 2009 (3 C 29.08) bestätigt, dass es einem Physiotherapeuten nur gestattet ist, auf ärztliche Verordnung hin eine Krankenbehandlung durchzuführen; im Gegensatz zum Heilpraktiker oder einem Psychotherapeuten darf er nicht eigenständig handeln. Danach ist der Physiotherapeut Angehöriger eines Heilhilfsberufs und unterliegt auch nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats unter den weiteren Voraussetzungen des § 2 Satz 1 Nr. 2 SGB VI der Versicherungspflicht in der Gesetzlichen Rentenversicherung.

Gegen die hier vorgenommene - weite - Auslegung der Vorschrift spricht nicht, dass das Bundessozialgericht Logopäden als nicht versicherungspflichtig einstuft. Da § 2 Satz 1 Nr. 2 SGB VI keine Regelung mit ausschließlich freiheitsrechtseinschränkendem Charakter enthält, eine Versicherungspflicht für den Einzelnen vielmehr sowohl Nach- als auch (in Gestalt des Erwerbs von Ansprüchen) Vorteile hat, kann schon nicht der Grundsatz aufgestellt werden, die Vorschrift müsse - wie alle freiheitseinschränkenden Maßnahmen - eng ausgelegt werden. Für die von der herrschenden Meinung in der Rechtsprechung angenommene weite Auslegung des § 2 Nr. 2 SGB VI spricht überdies der erklärte Wunsch des Gesetzgebers, arbeitnehmerähnliche Selbständige in die Versicherungspflicht einzubeziehen. Dieser gesetzgeberische Ansatz ist mit Blick auf den Schutzzweck der Norm, möglichst vielen Erwerbstätigen den Schutz der gesetzlichen Rentenversicherung zu bieten, nicht zu beanstanden.

Auch unter Berufung auf einen Verstoß gegen das allgemeine Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz lässt sich die Versicherungspflicht selbständiger Physiotherapeuten nicht verneinen. Denn - eine sachlich nicht gerechtfertigte und damit unzulässige Ungleichbehandlung von Physiotherapeuten und Logopäden bei der Feststellung der Versicherungspflicht, wovon das Sozialgericht ausgeht und welche der Senat hier offen lässt, unterstellt - wäre damit die Frage noch nicht beantwortet, ob mit Blick auf die aus der Versicherungspflicht ebenfalls folgenden Vorteile eine erforderliche Gleichbehandlung im Bejahen oder Verneinen einer Versicherungspflicht bestehen müsste (so auch Bundessozialgericht im Beschluss vom 12. Januar 2007, B 12 R 14/06 B). Viel spricht dafür, Logopäden ebenfalls in die Versicherungspflicht einzubeziehen. Bei einer derartigen Sachlage aber lässt sich auf einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG die Aufhebung der Bescheide nicht gründen, weil jene mit Blick auf die der Klägerin zuteilwerdenden Vorteile diese nicht in ihren Rechten verletzen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechts-streits in der Hauptsache.

Ein Grund für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 SGG ist nicht gegeben.

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