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L 13 RA 738/96

Aus den Gründen

I. Im Berufungsverfahren begehrt der Kläger unbefristete Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU), hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit (BU) über den 30.06.1993 hinaus. Nach erfolglosem Antrags-, Widerspruchs- und Klageverfahren vor dem SG, in dem der Kläger Rente wegen BU ab 01.07.1993, hilfsweise auf Zeit vom 01.07.1993 bis 31.12.1994 begehrt hat (klageabweisendes Urt. des SG v. 21.12.1995), hat der Kläger mit der am 05.03./06.03.1996 gegen das Urteil des SG eingelegten Berufung u.a. geltend gemacht, inzwischen sei bei ihm als Linkshänder der linke Arm eine „Extremitätenruine“.

Auf Antrag des Klägers nach § 109 SGG hat am 19.05.1998 Privatdozent Dr. B. ein Gutachten erstattet und dazu am 17.06.1998 eine ergänzende Stellungnahme abgegeben. Der gerichtliche Sachverständige ist zu dem Ergebnis gelangt, beim Kläger, der Linkshänder sei, bestehe eine sympathische Reflexdystrophie des linken Arms im Sinne einer chronifizierten Form; die dazu gehörenden entscheidenden Symptome (Muskelatrophie, Schwellung, Minderdurchblutung) seien als objektive Befunde zu werten; eine Besserung der Symptomatik aus eigener Kraft erscheine undenkbar. Der Kläger sei wegen des chronischen Schmerzsyndroms nur noch in der Lage, unter vier Stunden täglich einhändige leichte Arbeiten, vorwiegend im Sitzen, zu verrichten.

Daraufhin hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 09.10.1998 den Anspruch auf Rente wegen EU über den Wegfallzeitpunkt Juni 1993 hinaus nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen auf Zeit bis zum 30.06.1999 anerkannt und darauf hingewiesen, die zeitliche Begrenzung des Anspruchs sei wegen beabsichtigter berufsfördernder Leistungen (Rechtsschreibtraining) erforderlich. Dieses Anerkenntnis hat der Kläger wegen der zeitlichen Begrenzung nicht angenommen. Mit Schriftsatz vom 03.11.1998 hat die Beklagte das Anerkenntnis insgesamt zurückgenommen und erklärt, aufgrund ihr zugegangener Unterlagen sei sie nicht mehr der Ansicht, dass der Kläger Linkshänder sei und wegen einer Beeinträchtigung des linken Arms keine vollschichtigen Tätigkeiten verrichten könne. Dazu hat sie folgende Unterlagen vorgelegt: Der Kläger, der u.a. den Schwerbehindertenausweis vorgelegt hat, ist der Einschätzung der Beklagten entgegengetreten.

II. Der Streitfall ist im Hinblick auf die nach der Abgabe des Anerkenntnisses der Beklagten vom 09.10.1998 (Eingang hier am 15.10.1998) bekannt gewordenen Vorgänge (Schriftsatz der Beklagten vom 11.11.1998 mit den mit weiterem Schreiben vom 12.11.1998 nachgereichten Unterlagen) noch nicht entscheidungsreif. Das Berufungsverfahren ist nach § 114 SGG auszusetzen. Nach § 114 Abs. 2 SGG gilt: Hängt die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses ab, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsstelle festzustellen ist, so kann das Gericht anordnen, dass die Verhandlung bis zur Entscheidung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsstelle auszusetzen sei. Nach Abs. 3 der Vorschrift, die der Norm des § 149 ZPO entspricht, kann das Gericht, wenn sich im Laufe eines Rechtsstreits der Verdacht einer Straftat ergibt, deren Ermittlung auf die Entscheidung von Einfluss ist, die Aussetzung der Verhandlung bis zur Erledigung des Strafverfahrens anordnen. Ob bei dem, wie darzulegen sein wird, hier wegen des Widerrufs des Anerkenntnisses zu prüfenden Tatbestand des § 581 ZPO die Aussetzung auf eine analoge Anwendung des § 114 Abs. 2 SGG (so Meyer-Ladewig, SGG, 6. Aufl., § 114 RdNr. 4) oder auf dessen Abs. 3 zu stützen ist (so Peters / Sautter / Wolff, SGG, 4. Aufl., § 114 RdNr. 4; auch BGHZ 33, 73/76), kann hier offen bleiben.

Umstritten ist im Berufungsverfahren, ob dem Kläger unbefristete Rente über den 30.06.1993 hinaus zu gewähren ist; als Rente hat er im Klage- und zunächst auch im Berufungsverfahren eine solche wegen BU, später aber eine solche wegen EU begehrt. Mit dem sich auf eine bis 30.06.1999 befristete Rente wegen EU beziehenden Anerkenntnis hat die Beklagte in diesen prozessualen Wechsel der Rentenart, sofern es sich dabei um eine Klageänderung handeln sollte, eingewilligt (vgl. § 99 Abs. 1 SGG). Für den damit streitbefangenen Anspruch auf Rente wegen EU, hilfsweise wegen BU ist erheblich, ob die Beklagte das Anerkenntnis wirksam widerrufen konnte und ob das Gutachten des Sachverständigen Privatdozent Dr. B. eine Grundlage für die Entscheidung über den weitergehenden Anspruch bilden kann.

Der Widerruf des Anerkenntnisses als einer Prozesshandlung war hier nicht gleichzeitig mit dessen Eingang erklärt worden. Die Erklärung der Beklagten vom 08.10.1998 ist als Teilanerkenntnis anzusehen, dies deswegen, weil der Kläger eine Dauerrente begehrt, von der Beklagten jedoch nur eine Zeitrente zuerkannt worden ist. Insoweit ist das Anerkenntnis nicht als bloßes Vergleichsangebot zu werten. Zwar erledigt das nicht angenommene Anerkenntnis den Rechtsstreit in der Hauptsache nicht nach § 101 Abs. 2 SGG; es ist aber, sofern nicht gleichzeitig der Widerruf zugeht, nicht frei widerruflich (vgl. Meyer-Ladewig, a.a.O., § 101 RdNr. 24; Zeihe, SGG, § 101 Rdnr. 7 b; LSG Saarbrücken Breith. 1997, 84/85; das BSG [SozR Nr. 3 zu § 101 SGG] hat nur über den Fall des Widerrufs nach Annahme entschieden, hat aber formuliert: „Selbst wenn das Anerkenntnis vom Gegner nicht angenommen wird, bleibt es eine Prozesserklärung mit der materiellen Wirkung, dass der Beteiligte, der die Erklärung abgegeben hat, hieran gebunden ist, soweit er sich binden konnte“; ähnlich Urt. v. 19.04.1969 - 10 RV 12/68 - Umdruck S. 7/8; a.A. Bley in Gesamtkomm., § 101 SGG RdNr. 7a). Wie beim Anerkenntnis im zivilprozessualen Verfahren ist das Anerkenntnis im sozialgerichtlichen Verfahren jedoch dann widerruflich, wenn ein Restitutionsgrund nach § 580 ZPO, der über § 179 Abs. 1 SGG entsprechend gilt, vorliegt (Meyer-Ladewig, a.a.O.). Insoweit besteht in der zivilgerichtlichen Rechtsprechung die gefestigte Rechtsauffassung, dass eine Prozesshandlung, auch ein Anerkenntnis, im anhängigen Rechtsstreit widerrufen werden kann, wenn die Prozesshandlung von einem Restitutionsgrund i.S. des § 580 ZPO betroffen ist, aufgrund dessen das Urteil, das auf der Prozesshandlung beruht, mit der Wiederaufnahme beseitigt werden könnte (vgl. BGHZ 80, 389, 394; BGH NJW 1993, 1717/1718; auch BGH FamRZ 1993, 300, 301 f. [zum Widerruf eines Rechtsmittelverzichts]; OLG Frankfurt NJW-RR 1988, 574; OLG Karlsruhe NJW-RR 1989, 1468; OLG München FamRZ 1992, 598, 599; OLG Schleswig NJW-RR 1993, 1416; KG NJW-RR 1995, 558; OLG Saarbrücken NJW-RR 1997, 252; ferner BVerwG NJW 1997, 2897/2898 [zum Widerruf einer Berufungsrücknahme]). Insoweit kann im zivilgerichtlichen Verfahren dann, wenn ein Anerkenntnis betroffen ist, der auf einen Wiederaufnahmegrund gestützte Widerruf mit der Berufung gegen das ergangene Anerkenntnisurteil (§ 307 ZPO) geltend gemacht werden (vgl. BGHZ 80, 389, 394). Mithin wird zwar zur Geltendmachung des Widerrufs kein besonderes Wiederaufnahmeverfahren verlangt (vgl. KG NJW-RR 1995, 958). Es müssen aber bei § 580 Nr. 1 bis 5 ZPO im Rahmen der Prüfung, ob der Widerruf des Anerkenntnisses wirksam ist, auch die Voraussetzungen des § 581 Abs. 1 ZPO erfüllt sein; eine Restitutionsklage findet danach nur statt, wenn wegen der Straftat eine rechtskräftige Verurteilung ergangen ist oder wenn die Einleitung oder Durchführung eines Strafverfahrens aus anderen Gründen als wegen Mangels an Beweis nicht erfolgen kann (vgl. OLG Karlsruhe NJW-RR 1989, 1468; OLG Saarbrücken NJW-RR 1997, 252/253; vgl. auch zum Widerruf einer Rechtsmittelrücknahme, die nur bei Vorliegen eines Wiederaufnahmegrundes in Betracht kommt, BGHZ 12, 284; BGHZ 33, 72/75; zustimmend zitiert in BVerwGE 57, 342/346; lediglich in BGH NJW 1993, 300, 302 wird ein Prozessbetrug verneint, ohne § 581 ZPO zu erwähnen). Im Übrigen wird auch die Beachtung des § 582 ZPO verlangt (vgl. BGH NJW 1993, 1717/1718; a.A. KG NJW-RR 1995, 558 f.). Diese Rechtsprechung der Zivilgerichte zum Widerruf des Anerkenntnisses bei Vorliegen eines Wiederaufnahmegrundes ist auf das Anerkenntnis im sozialgerichtlichen Verfahren zu übertragen, unabhängig davon, dass es dort im Regelfall nicht zu einem Anerkenntnisurteil kommt. Der Widerruf muss also im anhängigen (oder fortzusetzenden) Verfahren geltend gemacht werden, und zwar unter Beachtung der §§ 581, 582 und 586 ZPO. Der Meinung des LSG Saarbrücken (Breith. 1997, 84/87), wonach ein Anerkenntnis nur unter den Voraussetzungen der §§ 47, 45 SGB X wegen sachlicher Unrichtigkeit widerrufen werden könne, weil in dem Anerkenntnis gleichzeitig der Erlass eines Bescheids gesehen wird, ist nicht zu folgen.

Mit dem von der Beklagten erklärten Widerruf des Anerkenntnisses macht diese als Wiederaufnahmegrund nach § 580 Nr. 4 ZPO einen versuchten Prozessbetrug seitens des Klägers - hinsichtlich der Eigenschaft als Linkshänder und der Gebrauchsunfähigkeit des linken Arms - geltend. Die von der Beklagten vorgelegten Unterlagen ergeben den Verdacht einer strafbaren Handlung. Dann müssen aber die Voraussetzungen des § 581 ZPO erfüllt sein. Dies ist bisher nicht der Fall. Unter diesem Blickwinkel ist die Aussetzung des Verfahrens nach § 114 Abs. 2 oder Abs. 3 SGG anzuordnen, um der Beklagten, die den Widerruf geltend macht, Gelegenheit zu geben, alsbald ein entsprechendes Strafverfahren durchführen zu lassen (vgl. BGHZ 33, 73/76). Auch der Wiederaufnahmegrund des § 179 Abs. 2 SGG, wonach die Wideraufnahme zulässig ist, wenn ein Beteiligter strafgerichtlich verurteilt worden ist, weil er Tatsachen, die für die Entscheidung der Streitsache von wesentlicher Bedeutung waren, wissentlich falsch behauptet oder vorsätzlich verschwiegen hat, setzt eine strafgerichtliche Verurteilung voraus. Weiter ist zwar noch das Vorliegen eines nicht auf öffentliche Urkunden beschränkten (vgl. BGH NJW 1993, 1717/1718) Wiederaufnahmegrundes nach § 580 Nr. 7 Buchst. b ZPO („wenn die Partei eine andere Urkunde auffindet oder zu benutzen in den Stand gesetzt wird, die eine ihr günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würde“) zu prüfen. Insoweit hat die Beklagte verschiedene Schriftstücke vorgelegt. Das von ihr überlassene Protokoll vom 12.10.1998 ist erst nach dem 09.10.1998 (Abgabe des Anerkenntnisses) errichtet worden. Schon deswegen kommt es nicht als Urkunde i.S. des § 580 Nr. 7 Buchst. b ZPO in Betracht. Gleiches gilt im Übrigen für das die Eigenschaft als Privatgutachten aufweisende orthopädische Gutachten des Prof. Dr. E. vom 23.11.1998. Abgesehen davon ist eine Urkunde im Sinne der genannten Norm nur eine solche, die Tatsachen beurkundet. Eine derartige Beurkundung nimmt jedoch das genannte ärztliche Gutachten nicht vor, denn es vermittelt vielmehr Ansichten und Bekundungen des Arztes, die sich erst auf Umwegen über in § 580 ZPO nicht zugelassene Beweismittel zu Tatsachen verdichten können (vgl. BVerwGE 11, 124/127). Bei dem kopierten Schriftsatz vom 20.10.1998, der gleichfalls erst aus der Zeit nach der Abgabe des Anerkenntnisses datiert, handelt es sich im Übrigen deswegen nicht um eine Urkunde, weil der Aussteller nicht erkennbar ist. Die vorgelegten Bilder selbst stellen keine Urkunden dar. Bei den Berichten der ... vom 19.03.1998, 02.04.1998 und 22.06.1998, bei den Schriftsätzen vom 12.06.1998, 10.07.1998 sowie bei dem Protokoll vom 17.08.1998 handelt es sich zwar um vor dem 09.10.1998 erstellte Unterlagen. Die Schriftsätze vom 12.06.1998 und 10.07.1998, die gleichfalls in Kopie vorgelegt worden sind, lassen einen Aussteller nicht erkennen. Die Schreiben der ... vom 19.03.1998, 02.04.1998 und 22.06.1998 sowie das Protokoll vom 17.08.1998, in denen Bekundungen von Zeugen wiedergegeben sind, sind keine Urkunden im Sinne der genannten Norm. Denn da die Restitutionsklage nicht auf eine neue Zeugenaussage gestützt werden darf, kann hierzu auch eine schriftliche Beantwortung von Beweisfragen durch Zeugen, der ein geringerer Beweiswert als der Aussage des Zeugen zukommt, nicht ausreichen; die Zulassung derartiger Urkunden mit Zeugenaussagen als Wiederaufnahmegrund würde beinhalten, dass auch die Vernehmung des Zeugen zugelassen werden müsste; damit würde die Restitutionsklage unter Umgehung des § 580 ZPO auf eine neue Zeugenaussage gestützt, was nach § 580 Nr. 7 Buchst. b ZPO gerade nicht zulässig ist (vgl. BGHZ 80, 389/395f.; BSGE 29, 10 ff.; ebenso BVerwG, Beschluss v. 15.06.1995 - 11 PKH 9/95 - zitiert bei Kopp/Schenke, VwGO, 11. Aufl., § 153 RdNr. 8). Mithin kommt hier ein Wiederaufnahmegrund nach § 580 Nr. 7 Buchst. b ZPO nicht in Betracht.

Von der Rechtsprechung wird im Übrigen zugelassen, dass unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben dem Anerkenntnis entgegengehalten werden kann, dass es der wahren materiellen Rechtslage nicht entspricht und dies dem Kläger bekannt ist (vgl. BGHZ 80, 389/399; BGH NJW 1993, 1717/1719; auch OLG Frankfurt NJW-RR 1988, 574/575; OLG Saarbrücken NJW-RR 1997, 252/253). Auch diese Voraussetzungen können gegenwärtig nicht bejaht werden.

Diese Entscheidung kann nicht mit der Beschwerde angefochten werden (§ 177 SGG). (Rechtskräftig)

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