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C-336/94, Dafeki

Tenor

Aus diesen Gründen hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Sozialgericht Hamburg mit Beschluß vom 12. September 1994 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

In Verfahren über sozialrechtliche Leistungsansprüche eines Wanderarbeitnehmers aus der Gemeinschaft sind die nationalen Sozialversicherungsträger und Gerichte eines Mitgliedstaats verpflichtet, von den zuständigen Behörden der anderen Mitgliedstaaten ausgestellte Urkunden und ähnliche Schriftstücke über den Personenstand zu beachten, sofern deren Richtigkeit nicht durch konkrete, auf den jeweiligen Einzelfall bezogene Anhaltspunkte ernstlich in Frage gestellt ist.

Gründe

Das Sozialgericht Hamburg hat mit Beschluß vom 12. September 1994, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Dezember 1994, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Artikel 48 und 51 EG-Vertrag im Hinblick auf deutsche Vorschriften, durch die Personenstandsurkunden unterschiedliche Beweiskraft beigemessen wird, je nachdem ob es sich um deutsche oder ausländische Urkunden handelt, zur Vorabentscheidung vorgelegt.

Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Frau Dafeki (im folgenden: Klägerin) und der Landesversicherungsanstalt Württemberg, einem deutschen Rentenversicherungsträger (im folgenden: LVA).

Die Klägerin wurde in Griechenland geboren und besitzt die griechische Staatsangehörigkeit. Sie arbeitet seit Mai 1966 in Deutschland. In ihren Personenstandsurkunden war als Geburtsdatum der 3. Dezember 1933 angegeben. Mit Urteil des Monomeles Protodikeio Trikala, einem erstinstanzlichen, mit einem Einzelrichter besetzten Gericht, vom 4. April 1986 wurde dieses Datum gemäß dem Verfahren berichtigt, das bei Verlust der Archive und der Personenstandsbücher anzuwenden ist. Als Geburtsdatum der Klägerin ist nunmehr im Personenstandsbuch und in ihren Personenstandsurkunden der 20. Februar 1929 angegeben. Ihr wurde daher eine neue Geburtsurkunde ausgestellt.

Am 19. Dezember 1988 beantragte die Klägerin bei der LVA das für Frauen ab Vollendung des 60. Lebensjahres vorgesehene vorgezogene Altersruhegeld. Zu diesem Zweck legte sie zunächst die von den zuständigen griechischen Behörden ausgestellte neue Geburtsurkunde und sodann auf Verlangen der LVA das Berichtigungsurteil vor. Obwohl sie die übrigen Anspruchsvoraussetzungen erfüllte, lehnte die LVA den Antrag ab, wobei sie sich auf das Geburtsdatum vor der Berichtigung stützte. Nach erfolglosem Widerspruch erhob die Klägerin Klage beim Sozialgericht Hamburg.

Im deutschen Recht bestimmt § 66 des Personenstandsgesetzes (PStG), daß die Personenstandsurkunden dieselbe Beweiskraft wie die Personenstandsbücher haben; diese beweisen nach § 60 Absatz 1 PStG bei ordnungsgemässer Führung grundsätzlich Eheschließung, Geburt und die darüber gemachten näheren Angaben. Der Nachweis ihrer Unrichtigkeit ist jedoch zulässig. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts und nach Ansicht der Lehre gilt § 66 PStG nur für deutsche, nicht aber für ausländische Urkunden, auch soweit sie nachträgliche Berichtigungen betreffen. Für in einem anderen Land ausgestellte Urkunden gelte folglich nicht die Vermutung der Richtigkeit; das angerufene Gericht prüfe dann die ihm vorgelegten Dokumente nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung. Im Rahmen dieser Prüfung habe das Gericht insbesondere die von der Rechtsprechung aufgestellte Beweisregel zu berücksichtigen, nach der im Fall eines Widerspruchs zwischen mehreren nacheinander ausgestellten Dokumenten im allgemeinen, wenn keine anderen ausreichenden Beweise vorhanden seien, das dem Ereignis zeitlich am nächsten liegende vorgehe, somit im vorliegenden Fall die erste Geburtsurkunde.

Das Sozialgericht Hamburg wirft die Frage auf, ob die Anwendung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung in bezug auf die Beweiskraft von Personenstandsurkunden dem Gemeinschaftsrecht, insbesondere den Artikeln 48 und 51 des Vertrages, widerspricht, weil sie eine mittelbare Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit darstellt. Hätte die Klägerin nämlich deutsche Personenstandsurkunden vorgelegt, so wäre ihr berichtigtes Geburtsdatum ohne weitere Prüfung anerkannt worden.

Das Sozialgericht Hamburg hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob und inwieweit das Gemeinschaftsrecht die deutschen Sozialversicherungsträger und Gerichte dahin gehend bindet, daß ausländische Personenstandsurkunden sowie ausländische Gerichtsurteile, die Personenstandsdaten feststellen oder berichtigen, im Verfahren über sozialrechtliche Leistungsansprüche verbindlich sind.

Die Frage des vorlegenden Gerichts geht im wesentlichen dahin, ob in Verfahren über sozialrechtliche Leistungsansprüche eines Wanderarbeitnehmers aus der Gemeinschaft die nationalen Sozialversicherungsträger und Gerichte eines Mitgliedstaats aufgrund von Artikel 48 des Vertrages verpflichtet sind, von den zuständigen Behörden der anderen Mitgliedstaaten ausgestellte Urkunden und ähnliche Schriftstücke über den Personenstand zu beachten.

Nach Artikel 48 Absatz 2 des Vertrages umfasst die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen.

Der Fall der Klägerin, die Staatsangehörige eines Mitgliedstaats ist und eine unselbständige Erwerbstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausgeuebt hat, in dem sie aufgrund dieser Tätigkeit die Gewährung einer Altersrente begehrt, fällt in den Anwendungsbereich dieser Vorschrift.

Zur Geltendmachung des Anspruchs auf eine Leistung der sozialen Sicherheit, der sich aus der Ausübung der ihnen durch den Vertrag gewährleisteten Freizuegigkeit ergibt, müssen die Arbeitnehmer zwangsläufig bestimmte in den Personenstandsbüchern enthaltene Angaben belegen.

Nach den vom vorlegenden Gericht dargestellten deutschen Vorschriften wird den von den zuständigen Behörden eines anderen Mitgliedstaats ausgestellten Personenstandsurkunden eine geringere Beweiskraft beigemessen als den von deutschen Behörden ausgestellten Urkunden.

Diese Regelung wirkt sich somit in der Praxis, obwohl sie unabhängig von der Staatsangehörigkeit des Arbeitnehmers gilt, zum Nachteil der Arbeitnehmer aus, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind.

Die deutsche Regierung trägt jedoch vor, bei den Bestimmungen über die Führung der Personenstandsbücher und deren Berichtigung bestünden beträchtliche Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten, da die den gesetzgeberischen Entscheidungen zugrunde liegenden tatsächlichen Gegebenheiten und rechtlichen Erwägungen überall verschieden seien. Insbesondere stimmten die Beurkundungsvorschriften in der Griechischen Republik und in der Bundesrepublik Deutschland nicht überein. So sei in Griechenland die Berichtigung des Geburtsdatums durch Einzelrichterurteil aufgrund einer Bestätigung durch nur zwei Zeugen nicht ungewöhnlich. Von dieser Möglichkeit hätten viele Wanderarbeitnehmer griechischer Staatsangehörigkeit Gebrauch gemacht. Der zuständige deutsche Versicherungsträger habe in Hunderten von Fällen festgestellt, daß das bei der Arbeitsaufnahme angegebene Geburtsdatum erheblich von dem Datum abweiche, das bei der Stellung eines Rentenantrags genannt werde. In der Regel erfolge die Berichtigung zugunsten des Arbeitnehmers.

Die Kommission weist ebenfalls darauf hin, daß sich das Personenstandswesen von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat stark unterscheide, da die verschiedensten kulturellen Verhältnisse sowie äussere Ereignisse wie Kriege und Gebietsabtretungen die jeweiligen Systeme sehr beeinflusst hätten. Es sei deshalb schwierig, von gleichartigen oder gleichwertigen Sach- und Rechtslagen auszugehen. Es gebe keine gemeinsame Maßnahme auf Gemeinschaftsebene. Im übrigen verfüge die Gemeinschaft nicht über eine allgemeine Zuständigkeit zur Regelung des Personenstandsrechts oder für Fragen der Beweiskraft von Personenstandsurkunden. Unter diesen Umständen stehe das Gemeinschaftsrecht beim gegenwärtigen Stand der deutschen Praxis nicht entgegen.

Insoweit sind zum einen die beträchtlichen Unterschiede zu berücksichtigen, die zwischen den nationalen Rechtsordnungen hinsichtlich der Voraussetzungen und Verfahren für eine Entscheidung über die Berichtigung des Geburtsdatums bestehen, und zum anderen die Tatsache, daß die Mitgliedstaaten bisher weder diesen Bereich harmonisiert noch ein System zur gegenseitigen Anerkennung solcher Entscheidungen geschaffen haben, wie es das Übereinkommen vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1972, L 299, S. 32) für die in seinen Anwendungsbereich fallenden Entscheidungen vorsieht.

Ob eine Personenstandsurkunde der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Art als unrichtig angesehen werden kann, hängt nämlich in hohem Masse davon ab, in welchem Verfahren und unter welchen Voraussetzungen eine solche Geburtsurkunde geändert werden kann; hier können zwischen den Mitgliedstaaten erhebliche Unterschiede bestehen.

Die Behörden und Gerichte eines Mitgliedstaats sind somit nach Gemeinschaftsrecht nicht verpflichtet, nachträgliche Berichtigungen von Personenstandsurkunden durch die zuständigen Behörden eines anderen Mitgliedstaats genauso zu behandeln wie derartige Berichtigungen durch die zuständigen Behörden des erstgenannten Mitgliedstaats.

Allerdings ist festzustellen, daß die Geltendmachung der Ansprüche, die sich aus der Freizuegigkeit der Arbeitnehmer ergeben, ohne die Vorlage von Personenstandsurkunden, die im allgemeinen vom Heimatstaat des Arbeitnehmers ausgestellt werden, nicht möglich ist. Folglich sind die Behörden und Gerichte eines Mitgliedstaats verpflichtet, von den zuständigen Behörden der anderen Mitgliedstaaten ausgestellte Urkunden und ähnliche Schriftstücke über den Personenstand zu beachten, sofern deren Richtigkeit nicht durch konkrete, auf den jeweiligen Einzelfall bezogene Anhaltspunkte ernstlich in Frage gestellt ist.

Demgemäß kann eine im nationalen Recht geltende generelle und abstrakte Beweisregel, nach der im Fall eines Widerspruchs zwischen mehreren nacheinander ausgestellten Urkunden die dem zu beweisenden Ereignis zeitlich am nächsten liegende vorgeht, wenn keine anderen ausreichenden Beweise vorhanden sind, die Weigerung, eine von einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats vorgenommene Berichtigung zu berücksichtigen, nicht rechtfertigen.

Somit ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, daß in Verfahren über sozialrechtliche Leistungsansprüche eines Wanderarbeitnehmers aus der Gemeinschaft die nationalen Sozialversicherungsträger und Gerichte eines Mitgliedstaats verpflichtet sind, von den zuständigen Behörden der anderen Mitgliedstaaten ausgestellte Urkunden und ähnliche Schriftstücke über den Personenstand zu beachten, sofern deren Richtigkeit nicht durch konkrete, auf den jeweiligen Einzelfall bezogene Anhaltspunkte ernstlich in Frage gestellt ist.

Kosten

Die Auslagen der deutschen und der griechischen Regierung sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

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