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C-297/92, Baglieri

Gründe

Die Corte Suprema di Cassazione hat mit Beschluß vom 12. Juli 1991, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Juli 1992, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung von Artikel 9 Absatz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Corradina Bagheri (im folgenden: Klägerin) und dem Istituto nazionale della previdenza sociale (im folgenden: INPS).

Die Klägerin, eine italienische Staatsbürgerin, arbeitete vom 23. August 1965 bis zum 4. April 1975 in der Bundesrepublik Deutschland. Danach kehrte sie nach Italien zurück. Am 17. Dezember 1979 beantragte sie beim INPS, ihr zu gestatten, Versicherungsbeiträge zur Weiterversicherung im Anschluß an die in Deutschland gezahlten Pflichtbeiträge zu zahlen. Dieser Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, sie sei zu keiner Zeit dem italienischen System der sozialen Sicherheit angeschlossen gewesen.

Auf die Klage der Kägerin gegen das INPS erklärte der Pretore Syrakus das INPS für verpflichtet, die Zahlung von Beiträgen zur freiwilligen Versicherung durch die Klägerin entgegenzunehmen, und erkannte der Klägerin den Anspruch auf Invaliditätsrente zu. Nachdem diese Entscheidung vom Tribunale Syrakus bestätigt worden war, erhob das INPS Kassationsbeschwerde, auf die hin die Corte Suprema di Cassazione beschlossen hat, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage vorzulegen:

Ist Artikel 9 Absatz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971, wonach „die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats zurückgelegten Versicherungs- oder Wohnzeiten, soweit erforderlich, wie Versicherungszeiten berücksichtigt [werden], die nach den Rechtsvorschriften des ersten Staates zurückgelegt worden sind", dahin auszulegen, daß die freiwillige Weiterversicherung auch dann zulässig ist, wenn der Arbeitnehmer •— ohne sich auf verschiedene miteinander kumulierbare, in mehreren Mitgliedstaaten, darunter demjenigen, in dem der Antrag gestellt wird, zurückgelegte Beschäftigungszeiten berufen zu können — eine einzige vorhergehende Beschäftigungszeit als Wanderarbeitnehmer in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegt und in diesem Staat die entsprechenden Pflichtbeiträge entrichtet hat, die für die Zulassung zur freiwilligen Versicherung in dem Staat, in dem der Antrag auf Weiterversicherung gestellt wurde, dienen?

Das vorlegende Gericht stellt fest, daß der Gerichtshof im Urteil vom 27. Januar 1981 in der Rechtssache 70/80 (Vigier, Slg. 1981, 229) bereits entschieden habe, daß Artikel 9 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 einen Sozialversicherungsträger eines Mitgliedstaats nicht verpflichte, nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats zurückgelegte Versicherungszeiten zu berücksichtigen, wenn der betroffene Arbeitnehmer im ersteren Mitgliedstaat niemals den Beitrag entrichtet habe, der zur Begründung der Versicherteneigenschaft im Sinne der Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats gesetzlich vorgeschrieben sei.

Die Corte Suprema di Cassazione meint jedoch, daß zwei Gründe den Gerichtshof veranlassen könnten, diese Auslegung zu überdenken.

Erstens müsse der Gerichtshof den „demnächst von der Gemeinschaft zu erfüllenden Verpflichtungen, vor allem der bevorstehenden Abschaffung aller Beschränkungen der Freizügigkeit der Arbeitnehmer", Rechnung tragen. Angesichts dieser Verpflichtungen könnte eine enge Auslegung dieser Bestimmung im Widerspruch zu den Grundsätzen des Vertrages betreffend die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und deren soziale Sicherheit stehen, die zur Gewährleistung der schon im Gebiet der Gemeinschaft erworbenen Positionen erforderlich seien.

Zweitens sehe das italienische Recht für italienische Arbeitnehmer, die in einem Drittland beschäftigt gewesen seien und nach Italien zurückkehrten, ein besonderes System der sozialen Sicherheit mit Anschlußpflicht vor, das die Kriterien für die Festsetzung und die Zahlung der Beiträge definiere. Unter diesen Umständen hätte eine enge Auslegung von Artikel 9 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 zur Folge, daß für diese Arbeitnehmer eine günstigere Regelung als für die Arbeitnehmer gelten würde, die in einem anderen Mitgliedstaat beschäftigt gewesen seien.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des rechtlichen Rahmens des Ausgangsverfahrens, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Bericht des Berichterstatters verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur wiedergegeben, soweit es die Begründung des Urteils erfordert.

Die Vorlagefrage ist demnach dahin zu verstehen, daß das vorlegende Gericht wissen möchte, ob

  • Artikel 9 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 einem Mitgliedstaat die Verpflichtung auferlegt, Personen den Beitritt zu einem System der sozialen Sicherheit zu gestatten, die in einem anderen Mitgliedstaat der Pflichtversicherung unterlagen und die nicht die Voraussetzungen für den Beitritt zum System der sozialen Sicherheit im erstgenannten Mitgliedstaat erfüllen;
  • das Gemeinschaftsrecht einen Mitgliedstaat, der eigenen Staatsangehörigen, die in einem Drittstaat gearbeitet haben, einen solchen Beitritt gestattet, verpflichtet, eigene Staatsangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat gearbeitet haben, ebenso zu behandeln.

Nach gefestigter Rechtsprechung (vgl. Urteil vom 18. Mai 1989 in der Rechtssache 368/87, Hartmann Troiani, Sig. 1989, 1333, Randnr. 15) soll Artikel 9 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 die Gleichstellung der in verschiedenen Mitgliedstaaten zurückgelegten Versicherungszeiten gewährleisten, damit die Betroffenen die Voraussetzung einer Mindestversicherungszeit erfüllen können, wenn eine nationale Regelung den Zugang zur freiwilligen Versicherung oder freiwilligen Weiterversicherung davon abhängig macht.

Dagegen ergibt sich aus dem Wortlaut dieser Bestimmung, daß sie nicht die sonstigen Voraussetzungen regelt, von deren Erfüllung die Rechtsvorschriften eines jeden Mitgliedstaats die Begründung eines Rechts wie z. B. der Befugnis, Beiträge zu einem nationalen System der freiwilligen Versicherung oder freiwilligen Weiterversicherung zu entrichten, abhängig machen können (vgl. Urteil Hartmann Troiani, a. a. O., Randnr. 16).

Unter diesen Umständen ist es Sache eines jeden Mitgliedstaats, durch den Erlaß von Rechtsvorschriften die Voraussetzungen festzulegen, unter denen eine Person einem System der sozialen Sicherheit oder einem bestimmten Zweig eines solchen Systems beitreten kann oder muß, solange es dabei nicht zu einer Diskriminierung zwischen Inländern und Angehörigen der übrigen Mitgliedstaaten kommt (vgl. insbesondere Urteil Hartmann Troiani, a. a. O., Randnr. 21).

Die von der Corte Suprema di Cassazione angeführten Gründe geben dem Gerichtshof keinen Anlaß, diese Rechtsprechung zu überdenken.

Bei dem Hinweis auf die „demnächst von der Gemeinschaft zu erfüllenden Verpflichtungen" hatte das vorlegende Gericht zweifellos Artikel 8a EWG-Vertrag im Auge, der den Erlaß der erforderlichen Maßnahmen vorsieht, um bis zum 31. Dezember 1992 den Binnenmarkt schrittweise zu verwirklichen. Nach Absatz 2 dieses Artikels umfaßt der Binnenmarkt einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen des EWG-Vertrags gewährleistet ist.

Dieser Artikel kann nicht so ausgelegt werden, daß sich, falls der Rat bis zum 31. Dezember 1992 keine Maßnahmen erläßt, mit denen die Mitgliedstaaten verpflichtet werden, den freiwilligen Beitritt von Personen zu ihrem System der sozialen Sicherheit zuzulassen, die der Pflichtversicherung in einem anderen Mitgliedstaat unterlagen, diese Verpflichtung automatisch aus dem Ablauf dieses Zeitraums ergibt.

Wie der Generalanwalt in Nummer 14 seiner Schlußanträge ausgeführt hat, setzt eine solche Verpflichtung nämlich die Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit voraus, an der es beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts fehlt.

Das Argument schließlich, daß italienische Arbeitnehmer, die in einem Drittstaat beschäftigt gewesen seien, nach den italienischen Rechtsvorschriften günstiger behandelt würden, kann keinen Einfluß auf die Auslegung von Artikel 9 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 haben; jedenfalls gibt es beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts keine Vorschrift, die es einem Mitgliedstaat verbietet, seine Staatsangehörigen, die in einem Drittstaat beschäftigt waren und in ihr Heimatland zurückgekehrt sind, wo sie nicht mehr arbeiten, günstiger zu behandeln als seine Staatsangehörigen, die in einem anderen Mitgliedstaat beschäftigt waren und sich danach in der gleichen Situation befinden.

Dem vorlegenden Gericht ist daher wie folgt zu antworten:

  • Artikel 9 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 erlegt einem Mitgliedstaat nicht die Verpflichtung auf, Personen den Beitritt zu seinem System der sozialen Sicherheit zu gestatten, die in einem anderen Mitgliedstaat der Pflichtversicherung unterlagen und die nicht die Voraussetzungen für den Beitritt zum System der sozialen Sicherheit im erstgenannten Mitgliedstaat erfüllen.
  • Das Gemeinschaftsrecht verpflichtet einen Mitgliedstaat, der eigenen Staatsangehörigen, die in einem Drittstaat gearbeitet haben, einen solchen Beitritt gestattet, nicht, eigene Staatsangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat gearbeitet haben, ebenso zu behandeln.

Kosten

Die Auslagen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben hat, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor

Aus diesen Gründen hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm von der Corte Suprema di Cassazione mit Beschluß vom 12. Juli 1991 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

- Artikel 9 Absatz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 erlegt einem Mitgliedstaat nicht die Verpflichtung auf, Personen den Beitritt zu seinem System der sozialen Sicherheit zu gestatten, die in einem anderen Mitgliedstaat der Pflichtversicherung unterlagen und die nicht die Voraussetzungen für den Beitritt zum System der sozialen Sicherheit im erstgenannten Mitgliedstaat erfüllen.

- Das Gemeinschaftsrecht verpflichtet einen Mitgliedstaat, der eigenen Staatsangehörigen, die in einem Drittstaat gearbeitet haben, einen solchen Beitritt gestattet, nicht, eigene Staatsangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat gearbeitet haben, ebenso zu behandeln.

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