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368/87, Hartmann-Troiani

Gründe

Das Bundessozialgericht hat mit Beschluss vom 10. September 1987, beim Gerichtshof eingegangen am 7. Dezember 1987, gemaess Artikel 177 EWG-Vertrag Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt, die in erster Linie die Auslegung von Artikel 9 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstaendige sowie deren Familienangehoerige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. L 149, S. 2, kodifizierte Fassung in ABl. 1983, L 230, S. 8), und in zweiter Linie die Auslegung der Artikel 48 und 51 EWG-Vertrag zum Gegenstand haben.

Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen Frau Hartmann Troiani (Klaegerin des Ausgangsverfahrens) und einem deutschen Sozialversicherungstraeger, der Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz (Beklagte des Ausgangsverfahrens), in dem es um die Nachentrichtung freiwilliger Rentenversicherungsbeitraege geht.

Die Klaegerin des Ausgangsverfahrens war vom 1. Maerz 1952 an in der Bundesrepublik Deutschland als Arbeitnehmerin taetig. 1963 heiratete sie. Bei dieser Gelegenheit wurden ihr auf ihren Antrag gemaess § 1304 der deutschen Reichsversicherungsordnung die von ihr bis zu ihrer Heirat entrichteten Rentenversicherungsbeitraege erstattet. Nach ihrer Heirat war sie noch elf Monate in der Bundesrepublik Deutschland taetig und entrichtete waehrend dieser Zeit Pflichtbeitraege zur Rentenversicherung.

1964 verlegte die Klaegerin des Ausgangsverfahrens ihren Wohnsitz nach Italien, wo sie eine Taetigkeit als Arbeitnehmerin aufnahm. 1981 stellte sie einen Antrag nach Artikel 2 § 28 des deutschen Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG). Nach dieser Bestimmung duerfen Frauen diejenigen Rentenversicherungsbeitraege freiwillig nachentrichten, die anlaesslich ihrer Heirat erstattet worden waren. Sie lautet wie folgt:

„Weibliche Versicherte, die eine rentenversicherungspflichtige Beschaeftigung oder Taetigkeit ausueben und denen auf Grund des § 1304 der Reichsversicherungsordnung... Beitraege erstattet worden sind, koennen auf Antrag... fuer die Zeiten, fuer die Beitraege auf Grund der genannten Vorschriften erstattet worden sind, bis zum 1. Januar 1924 zurueck Beitraege nachentrichten, soweit die Zeiten nicht bereits mit Beitraegen belegt sind. Das Recht auf Nachentrichtung von Beitraegen besteht nur, wenn nach der Beitragserstattung waehrend mindestens 24 Kalendermonaten Beitraege fuer eine rentenversicherungspflichtige Beschaeftigung oder Taetigkeit entrichtet sind.“

Die Beklagte des Ausgangsverfahrens lehnte diesen Antrag mit der Begruendung ab, dass die Klaegerin des Ausgangsverfahrens die beiden Voraussetzungen dieser deutschen Bestimmung nicht erfuelle. Erstens habe sie im Antragszeitpunkt keine in Deutschland rentenversicherungspflichtige Beschaeftigung oder Taetigkeit ausgeuebt. Zweitens habe sie nach der wegen ihrer Heirat erfolgten Beitragserstattung nicht fuer mindestens 24 Monate Pflichtbeitraege zur deutschen Rentenversicherung entrichtet.

Die Klaegerin des Ausgangsverfahrens focht diesen Bescheid vor dem Sozialgericht D. an. Dieses bestaetigte den Bescheid der Beklagten des Ausgangsverfahrens. Auf die Berufung der Klaegerin des Ausgangsverfahrens gab das Landessozialgericht fuer das Land Nordrhein-Westfalen jedoch der Klage statt.

Die Beklagte des Ausgangsverfahrens legte Revision zum Bundessozialgericht ein. Dieses ist der Ansicht, die Klaegerin des Ausgangsverfahrens habe nach der Beitragserstattung wegen ihrer Heirat tatsaechlich waehrend mindestens 24 Monaten Beitraege fuer eine in Deutschland rentenversicherungspflichtige Beschaeftigung oder Taetigkeit entrichtet. Die in Italien rentenversicherungspflichtigen Beschaeftigungszeiten seien naemlich nach Artikel 9 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 in Deutschland rentenversicherungspflichtigen Beschaeftigungszeiten gleichzustellen.

In bezug auf das Erfordernis der Versicherungszugehoerigkeit, wonach im Antragszeitpunkt eine in der Bundesrepublik Deutschland rentenversicherungspflichtige Beschaeftigung oder Taetigkeit ausgeuebt worden sein muss, stellt das Bundessozialgericht fest, die Klaegerin des Ausgangsverfahrens habe im Zeitpunkt ihrer Antragstellung in Italien gearbeitet. Es frage sich daher, ob Artikel 9 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 moeglicherweise Auswirkungen auf das Begehren der Klaegerin des Ausgangsverfahrens habe und - verneinendenfalls - ob Artikel 48 EWG-Vertrag dahin auszulegen sei, dass er dem in Artikel 2 § 28 ArVNG enthaltenen Erfordernis der Versicherungszugehoerigkeit entgegenstehe .

Artikel 9 der Verordnung Nr. 1408/71 lautet:

„1. Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, durch welche die freiwillige Versicherung oder freiwillige Weiterversicherung davon abhaengig gemacht wird, dass der Berechtigte im Gebiet dieses Staates wohnt, gelten nicht fuer Arbeitnehmer, auf welche diese Verordnung Anwendung findet und die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen, wenn fuer diese Personen zu irgendeiner Zeit ihrer frueheren Laufbahn die Rechtsvorschriften des ersten Staates gegolten haben.

2. Ist nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats die freiwillige Versicherung oder freiwillige Weiterversicherung von der Zuruecklegung von Versicherungszeiten abhaengig, so werden die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats zurueckgelegten Versicherungs- oder Wohnzeiten, soweit erforderlich, wie Versicherungszeiten beruecksichtigt, die nach den Rechtsvorschriften des ersten Staates zurueckgelegt worden sind.“

Das Bundessozialgericht ist der Auffassung, der Rechtsstreit werfe ein Problem der Auslegung des Gemeinschaftsrechts auf. Es hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

„1) Ist Artikel 9 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstaendige sowie deren Familienangehoerige, die innerhalb der Gemeinschaft zu - und abwandern, dahin auszulegen, dass er auch Faelle umfasst, in denen eine Nachentrichtung freiwilliger Rentenversicherungsbeitraege davon abhaengig gemacht wird, dass im Antragszeitpunkt eine nach nationalem Recht rentenversicherungspflichtige Beschaeftigung ausgeuebt wird?

2) Bei Verneinung dieser Frage: Verstoesst eine nationale Regelung, wie in der ersten Frage beschrieben, gegen die Artikel 48 ff. EWG-Vertrag oder sonstige Vorschriften des Gemeinschaftsrechts?“

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des rechtlichen Rahmens des Ausgangsrechtsstreits sowie der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklaerungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begruendung des Urteils dies erfordert.

Zunaechst ist darauf hinzuweisen, dass eine nationale Regelung, die die Befugnis zur freiwilligen Nachentrichtung von Rentenversicherungsbeitraegen an bestimmte Voraussetzungen knuepft, unter den Begriff der Weiterversicherung im Sinne von Artikel 9 der Verordnung Nr. 1408/71 faellt. Wie naemlich der Gerichtshof in seinem Urteil vom 16. Maerz 1977 in der Rechtssache 93/76 (Liegeois/Office national des pensions pour travailleurs salaries, Slg. 1977, 543) bereits entschieden hat, erfasst diese Bestimmung „alle Versicherungsarten..., die ein Element der Freiwilligkeit aufweisen, unabhaengig davon, ob es sich um die Fortsetzung eines zuvor begruendeten Versicherungsverhaeltnisses handelt oder nicht“.

Zu den Fragen

Zur ersten Frage

Die erste Frage geht im Kern dahin, ob Artikel 9 der Verordnung Nr. 1408/71 in dem Sinne auszulegen ist, dass die Voraussetzung der Zugehoerigkeit zu einem Pflichtversicherungssystem in einem Mitgliedstaat, die nach den Rechtsvorschriften dieses Staates zum Zeitpunkt der Einreichung eines Antrags auf Nachentrichtung freiwilliger Rentenversicherungsbeitraege erfuellt sein muss, dann als erfuellt gilt, wenn der Antragsteller zu diesem Zeitpunkt einem Pflichtversicherungssystem in einem anderen Mitgliedstaat angehoert.

Nach Artikel 9 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 gelten Wohnsitzerfordernisse, von denen eine nationale Regelung den Zugang zur freiwilligen Versicherung abhaengig macht, fuer Arbeitnehmer nicht. Eine Voraussetzung der Versicherungszugehoerigkeit wie die des Artikels 2 § 28 ArVNG kann einem Wohnsitzerfordernis jedoch nicht gleichgestellt werden. Einem Wohnsitzerfordernis kann naemlich auch dann Genuege getan werden, wenn der Betreffende nicht aufgrund der Ausuebung einer Beschaeftigung oder Taetigkeit in seinem Wohnstaat einem Sozialversicherungssystem angeschlossen ist. Umgekehrt kann, wie der Fall der Grenzgaenger zeigt, die Voraussetzung der Zugehoerigkeit zum nationalen Sozialversicherungssystem erfuellt sein, ohne dass der Antragsteller im nationalen Hoheitsgebiet wohnt. Artikel 9 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 steht daher der Geltung einer Voraussetzung der Versicherungszugehoerigkeit, wie sie in Artikel 2 § 28 ArVNG enthalten ist, nicht entgegen.

Artikel 9 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 soll die Gleichstellung der in verschiedenen Mitgliedstaaten zurueckgelegten Versicherungszeiten gewaehrleisten, damit die Betroffenen die Voraussetzung einer Mindestversicherungszeit erfuellen koennen, wenn eine nationale Regelung den Zugang zur freiwilligen Versicherung oder freiwilligen Weiterversicherung davon abhaengig macht.

Dagegen ergibt sich aus dem Wortlaut dieser Bestimmung, dass sie nicht die sonstigen Voraussetzungen regelt, von deren Erfuellung die Rechtsvorschriften eines jeden Mitgliedstaats die Begruendung eines Rechts wie z.B. der Befugnis, Beitraege zu einem nationalen System der freiwilligen Versicherung oder freiwilligen Weiterversicherung zu entrichten, abhaengig machen koennen.

Dem nationalen Gericht ist somit zu antworten, dass Artikel 9 der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen ist, dass die Voraussetzung der Zugehoerigkeit zu einem Pflichtversicherungssystem in einem Mitgliedstaat, die nach den Rechtsvorschriften dieses Staates zum Zeitpunkt der Einreichung eines Antrags auf Nachentrichtung freiwilliger Rentenversicherungsbeitraege erfuellt sein muss, nicht als erfuellt gilt, wenn der Antragsteller zu diesem Zeitpunkt einem Pflichtversicherungssystem in einem anderen Mitgliedstaat angehoert.

Zur zweiten Frage

Die zweite Frage geht im Kern dahin, ob die Artikel 48 und 51 EWG-Vertrag in dem Sinne auszulegen sind, dass sie den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegenstehen, wonach die Angehoerigen dieses Staates eine Voraussetzung der Versicherungszugehoerigkeit wie die des Artikels 2 § 28 ArVNG erfuellen muessen.

In Artikel 48 EWG-Vertrag ist der Grundsatz der Freizuegigkeit der Arbeitnehmer niedergelegt. Diese Freizuegigkeit umfasst die Abschaffung jeder auf der Staatsangehoerigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in bezug auf Beschaeftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen. Sie gibt den Arbeitnehmern mit gewissen Einschraenkungen das Recht, sich um tatsaechlich angebotene Stellen zu bewerben, sich zu diesem Zweck im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen, sich in einem Mitgliedstaat aufzuhalten, um dort eine Beschaeftigung auszuueben, und schliesslich nach Beendigung einer Beschaeftigung unter bestimmten Bedingungen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verbleiben.

Um die wirksame Ausuebung des in Artikel 48 EWG-Vertrag verankerten Rechts auf Freizuegigkeit zu gewaehrleisten, hatte der Rat gemaess Artikel 51 EWG-Vertrag ein System einzufuehren, das es den Arbeitnehmern erlaubt, die fuer sie aus den nationalen Rechtsvorschriften ueber die soziale Sicherheit etwa resultierenden Hindernisse zu ueberwinden. Der Rat ist dieser Verpflichtung durch den Erlass der Verordnung Nr. 1408/71 nachgekommen.

Zwar wuerde, wie der Gerichtshof in seinem Urteil vom 25. Februar 1986 in der Rechtssache 284/84 (Spruyt, Slg. 1986, 685, Randnr. 19) entschieden hat, der Zweck der Artikel 48 und 51 EWG-Vertrag verfehlt, wenn die Arbeitnehmer, die von ihrem Recht auf Freizuegigkeit Gebrauch gemacht haben, Verguenstigungen der sozialen Sicherheit verloeren, die ihnen die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats sichern. Es ist jedoch, wie der Gerichtshof andererseits in seinen Urteilen vom 24. April 1980 in der Rechtssache 110/79 (Coonan, Slg. 1980, 1445, Randnr. 12) und vom 24. September 1987 in der Rechtssache 43/86 (de Rijke, Slg. 1987, 3611, Randnr. 12) entschieden hat, Sache eines jeden Mitgliedstaats, durch den Erlass von Rechtsvorschriften die Voraussetzungen festzulegen, unter denen eine Person einem System der sozialen Sicherheit oder einem bestimmten Zweig eines solchen Systems beitreten kann oder muss, solange es dabei nicht zu einer Diskriminierung zwischen Inlaendern und Angehoerigen der uebrigen Mitgliedstaaten kommt. Aus den Akten geht hervor, dass die dem Ausgangsrechtsstreit zugrundeliegende nationale Regelung keine Diskriminierung aufgrund der Staatsangehoerigkeit bewirkt.

Somit ist dem nationalen Gericht zu antworten, dass die Artikel 48 und 51 EWG-Vertrag dahin auszulegen sind, dass sie den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, wonach die Angehoerigen dieses Staates eine Voraussetzung der Versicherungszugehoerigkeit wie die des Artikels 2 § 28 ArVNG erfuellen muessen, nicht entgegenstehen.

Kosten

Die Auslagen der Kommission der Europaeischen Gemeinschaften, die Erklaerungen vor dem Gerichtshof abgegeben hat, sind nicht erstattungsfaehig. Fuer die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem nationalen Gericht anhaengigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

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