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1 BvL 24/83

Tenor

§ 1252 Absatz 2 der Reichsversicherungsordnung ist mit dem Grundgesetz vereinbar.

Gründe

A.

Gegenstand der Vorlage ist die Frage, ob eine Verkürzung der Wartezeit (Mindestversicherungszeit) für die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, die das Gesetz Versicherten zubilligt, die alsbald nach Beendigung einer Ausbildung durch Unfall erwerbsunfähig geworden sind, aufgrund des allgemeinen Gleichheitssatzes auch für Versicherte gelten muß, deren frühzeitig eingetretene Erwerbsunfähigkeit auf einer Erkrankung beruht.

I.

Nach § 1247 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zählt zu den Voraussetzungen des Anspruchs auf die Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit die Erfüllung der Wartezeit, die gemäß Abs. 3 Buchst. a der genannten Bestimmung vorliegt, wenn vor dem Eintritt der Erwerbsunfähigkeit eine Versicherungszeit von sechzig Kalendermonaten zurückgelegt ist. Eine Ausnahmeregelung, die unter besonderen Umständen die Erfüllung der Wartezeit fingiert, enthält die Reichsversicherungsordnung in

§ 1252

(1) Die Wartezeit gilt als erfüllt, wenn der Versicherte

1.infolge eines Arbeitsunfalls oder als Wehrdienstleistender nach § 4 Abs. 1 des Wehrpflichtgesetzes oder als Soldat auf Zeit infolge einer Wehrdienstbeschädigung (§§ 81, 81 a des Soldatenversorgungsgesetzes) oder als Ersatzdienstleistender infolge einer Ersatzdienstbeschädigung (§ 33 des Gesetzes über den zivilen Ersatzdienst) oder
2.während oder infolge eines militärischen oder militärähnlichen Dienstes im Sinne der §§ 2 und 3 des Bundesversorgungsgesetzes, der auf Grund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht oder während eines Krieges geleistet worden ist, sowie während der Kriegsgefangenschaft oder
3.infolge unmittelbarer Kriegseinwirkung im Sinne des § 5 des Bundesversorgungsgesetzes oder
4.als Verfolgter des Nationalsozialismus im Sinne des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes infolge von Maßnahmen im Sinne des § 2 des Bundesentschädigungsgesetzes oder
5.während oder infolge der Internierung oder der Verschleppung im Sinne des § 1 Abs. 3 und 4 des Heimkehrergesetzes oder
6.als Vertriebener oder Sowjetzonenflüchtling im Sinne der §§ 1 bis 4 des Bundesvertriebenengesetzes durch Folgen der Vertreibung oder der Flucht

berufsunfähig geworden oder gestorben ist.

(2) Absatz 1 gilt entsprechend, wenn der Versicherte vor Ablauf von sechs Jahren nach Beendigung einer Ausbildung infolge eines Unfalls erwerbsunfähig geworden oder gestorben ist und in den dem Versicherungsfall vorausgegangenen vierundzwanzig Kalendermonaten mindestens für sechs Kalendermonate Beiträge auf Grund einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit entrichtet hat.

II.

1. Der 1960 geborene Kläger des Ausgangsverfahrens hat nach dem Besuch der Realschule von August 1976 bis Juni 1978 den Gärtnerberuf erlernt, in dem er anschließend bis Mai 1981 versicherungspflichtig beschäftigt war. Seit März 1981 ist er aufgrund einer schwerwiegenden Erkrankung arbeitsunfähig. Seinen Antrag, ihm Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren, lehnte die im Ausgangsverfahren beklagte Landesversicherungsanstalt ab, weil bis zum Eintritt des Versicherungsfalls am 23. März 1981 nur eine Versicherungszeit von 56 Kalendermonaten zurückgelegt und deshalb die Wartezeit nicht erfüllt sei.

2. Das Sozialgericht hat das Verfahren ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt,

ob die Wartezeitregelung in den §§ 1247 Abs. 3, 1252 Abs. 2

RVO insoweit mit dem Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG)

vereinbar sei, als Personen ohne Ausbildung im Sinne des

§ 1252 Abs. 2 RVO und ohne unfallbedingte Erwerbsunfähigkeit

nicht die verkürzte Wartezeit von sechs Monaten beanspruchen können.

Die Regelung in § 1252 Abs. 2 RVO sei in einer für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits erheblichen Weise in zweifacher Hinsicht verfassungswidrig.

a) Das Gesetz schließe den Kläger von der vorgesehenen Vergünstigung aus, weil er keine Ausbildung in dem dort vorausgesetzten Sinne durchlaufen habe. Der in dieser Vorschrift verwendete Begriff der Ausbildung sei inhaltsleer. Er könne entgegen der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. BSGE 49, 47) nicht als Schul- oder Berufsausbildung interpretiert werden. Diese Auslegung widerspreche dem Wortsinn ebenso wie dem Zweck der Bestimmung, der darauf gerichtet sei, Versicherte zu privilegieren, die eine Fachschul-, Fachhochschul- oder Hochschulausbildung absolviert hätten. Auch die Lehrzeit komme als Ausbildung im Sinne des § 1252 Abs. 2 RVO nicht in Betracht, weil während ihrer Dauer Versicherungspflicht bestanden habe. Die Regelung verstoße gegen Art. 3 Abs. 1 GG, weil Versicherte, die ohne weiterbildende Schule sofort in das Erwerbsleben eingetreten seien, diskriminiert würden.

b) Außerdem würden dem Kläger die Vorteile der Regelung verweigert, weil seine Erwerbsunfähigkeit nicht auf einem Unfall, sondern auf einer Erkrankung beruhe. Die Unterscheidung zwischen Unfall und Krankheit sei im Sozialversicherungsrecht aber kein tauglicher Maßstab. Selbst wenn ein Unfall grob fahrlässig oder vorsätzlich herbeigeführt werde, bleibe § 1252 Abs. 2 RVO anwendbar. Deshalb sei kein Grund ersichtlich, bei schicksalhafter Erkrankung die Vorteile der Regelung zu versagen. Auch die gesetzliche Unfallversicherung kenne neben Arbeitsunfällen Berufskrankheiten als entschädigungspflichtige Tatbestände.

III.

Zu der Vorlage haben sich der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung namens der Bundesregierung, das Bundessozialgericht und der im Ausgangsverfahren beklagte Versicherungsträger geäußert.

1. Der Bundesminister hält die zur Prüfung gestellte Regelung für verfassungsgemäß.

a) Die von dem vorlegenden Gericht zu dem Begriff der Ausbildung vertretene Auffassung von der Funktion des § 1252 Abs. 2 RVO sei ihrerseits verfassungsrechtlich bedenklich, weil danach die Vorschrift die große Zahl derjenigen, die nach Abschluß der Hauptschule eine rentenversicherungspflichtige Lehre durchliefen, während dieser Lehrzeit nicht erfassen und somit den Zweck des Gesetzes verfehlen würde.

b) Das Erfordernis der Wartezeiterfüllung diene - dem Versicherungsprinzip entsprechend - der Begrenzung des von der Versichertengemeinschaft zu tragenden Risikos. In welcher Weise und in welchen Schritten der Gesetzgeber in Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips durch Ausnahmen von dem Erfordernis der erfüllten Wartezeit den Schutz gegen die wirtschaftlichen Folgen der Erwerbsunfähigkeit für bestimmte Versichertengruppen weiter ausbaue, obliege grundsätzlich seiner Entscheidung. Bei der Einführung des § 1252 Abs. 2 RVO im Zuge der Rentenreform 1972 habe es nahegelegen, an den bereits in Abs. 1 Nr. 1 dieser Vorschrift geregelten Tatbestand des Arbeitsunfalls anzuknüpfen und zunächst nur die Beschränkung auf betrieblich verursachte Schadensereignisse entfallen zu lassen. Zu einer noch stärkeren Ausweitung des versicherten Risikos durch Einbeziehung von Erkrankungen ohne Rücksicht auf die Konsequenzen für die Finanzlage der gesetzlichen Rentenversicherung könne der Gesetzgeber über den Gleichheitssatz nicht gezwungen werden, auch wenn insoweit möglicherweise ein weitergehender Fortschritt sozialpolitisch wünschenswert sein könnte.

2. Der 1. Senat des Bundessozialgerichts weist darauf hin, daß er sich der vom 4. Senat dieses Gerichts begonnenen Rechtsprechung zum Begriff der Ausbildung in § 1252 Abs. 2 RVO (vgl. BSGE 49, 47) anschließen würde. Die in der Vorschrift angelegte Unterscheidung danach, ob die Erwerbsunfähigkeit auf einem Unfall oder einer Erkrankung beruhe, lasse sich mit dem unterschiedlichen Schutzbedürfnis dieser Versichertengruppen rechtfertigen. Bei einem Krankheitsprozeß bestehe die Möglichkeit, durch medizinische Behandlung und Rehabilitationsmaßnahmen des Versicherungsträgers der Erwerbsunfähigkeit entgegenzuwirken. Eine derartige oder andere Vorsorge könne ein Unfallopfer nicht treffen.

3. Die beklagte Landesversicherungsanstalt hält die Vorlage, soweit darin das Tatbestandsmerkmal "Ausbildung" beanstandet wird, mangels Entscheidungserheblichkeit für unzulässig und die Zulässigkeit im übrigen für zweifelhaft. Jedenfalls sei der Gesetzgeber aber berechtigt gewesen, den mit der Regelung verbundenen Ausgabenzuwachs dadurch zu begrenzen, daß er die Begünstigung nur solchen Versicherten zuwende, die durch ein von außen kommendes schädigendes Ereignis erwerbsunfähig würden.

B.

Zulässigerweise zur Prüfung gestellt ist § 1252 Abs. 2 RVO nur insoweit, als die Vorschrift Unfall und Krankheit als Ursache der Erwerbsunfähigkeit nicht gleichstellt. Die daneben beantragte verfassungsrechtliche Prüfung des Tatbestandsmerkmals "Ausbildung" ist für die Entscheidung im Ausgangsverfahren ohne Bedeutung.

C.

Es verstößt nicht gegen das Grundgesetz, daß die in § 1252 Abs. 2 RVO vorgesehene Verkürzung der Wartezeit für die Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit nur bei unfallbedingtem, nicht hingegen bei krankheitsbedingtem Verlust der Erwerbsfähigkeit eintritt.

I.

Prüfungsmaßstab ist vornehmlich Art. 3 Abs. 1 GG, der es verbietet, eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu einer anderen anders zu behandeln, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen (vgl. BVerfGE 65, 104 (112 f.) m. w. N.).

1. a) Das Sozialrechtsverhältnis in der gesetzlichen Rentenversicherung beruht nicht auf dem reinen Versicherungsprinzip, sondern auch auf dem Gedanken der Solidarität und des sozialen Ausgleichs. Insbesondere die Versichertenrente ist jedoch so wesentlich durch die Beitragsleistung bestimmt, daß die Voraussetzungen ihrer Gewährung von dem Versicherungsgedanken maßgeblich geprägt werden (vgl. BVerfGE 48, 346 (358); 58, 81 (110), jeweils m. w. N.). Dem allgemeinen Versicherungsprinzip entspricht es, einen materiell-rechtlichen Leistungsanspruch davon abhängig zu machen, daß die Beitragsleistung einen bestimmten Umfang erreicht hat. Vorschriften über die Wartezeit gehören demgemäß seit jeher zu den Anspruchsvoraussetzungen in der gesetzlichen Rentenversicherung.

b) Da bei der Begründung eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses der Gesundheitszustand des Versicherten nicht geprüft wird, dienen die Vorschriften über die Mindestversicherungszeit dem Schutz der Versichertengemeinschaft vor den ungünstigsten Risiken und vor Personen, die ein kurzfristiges Beschäftigungsverhältnis möglicherweise nur zur Erlangung eines Rentenanspruchs eingehen würden. Daß die Risikoauslese generalisierend erfolgt, begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Bei der Ordnung von Massenerscheinungen, wie sie im Bereich der Sozialversicherung regelmäßig auftreten, sind generalisierende und typisierende Regelungen allgemein als notwendig anerkannt und vom Bundesverfassungsgericht stets als verfassungsrechtlich unbedenklich behandelt worden (vgl. BVerfGE 63, 119 (128) m. w. N.).

2. Ausnahmen von dieser der generellen Risikobegrenzung dienenden Mindestversicherungszeit gelten für die in § 1252 RVO geregelten Sondertatbestände, deren Eintritt auf außergewöhnlichen Umständen beruht, die von dem Versicherten regelmäßig nicht beeinflußt werden können. Ist eines dieser von außen her auf den Einzelnen einwirkenden schädigenden Ereignisse eingetreten, soll die normale Wartezeit, deren Erfüllung der Versicherte wegen der Verwirklichung des versicherten Risikos nicht mehr erreichen kann, aus sozialen Gründen kraft gesetzlicher Fiktion als zurückgelegt gelten.

Bei einer frühzeitig nach Beendigung einer Ausbildung zur Erwerbsunfähigkeit führenden Erkrankung aus innerer Ursache handelt es sich demgegenüber um den typischen Fall, in dem der Gesetzgeber den ihm aufgetragenen Schutz der Solidargemeinschaft (vgl. BVerfGE 48, 346 (358); 66, 66 (76)) durch das Erfordernis einer Mindestversicherungszeit verwirklicht. Er kann daher nicht verpflichtet sein, den typischen Tatbestand der Regelbestimmung der Ausnahmeregelung zu unterwerfen. Wegen des Ausnahmecharakters der das Versicherungsprinzip durchbrechenden Vorschriften über die fiktive Erfüllung der Wartezeit läßt sich deren erweiternde Anwendung auf von ihnen nicht erfaßte Sachverhalte nicht durch Berufung auf den allgemeinen Gleichheitssatz erzwingen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann niemand daraus, daß einer Gruppe aus besonderem Anlaß besondere Vergünstigungen zugestanden werden, für sich ein verfassungsrechtliches Gebot herleiten, genau dieselben Vorteile in Anspruch nehmen zu dürfen (vgl. BVerfGE 63, 255 (265 f.) m. w. N.).

3. Ein gewichtiger Unterschied, der die Verschiedenbehandlung von Versicherten, die alsbald nach Beendigung einer Ausbildung durch einen Unfall erwerbsunfähig werden, und solchen Versicherten, deren Erwerbsunfähigkeit auf einer Erkrankung beruht, rechtfertigt, liegt ferner in dem unterschiedlichen Schutzbedürfnis dieser Vergleichsgruppen. Zutreffend weist das Bundessozialgericht in seiner Stellungnahme darauf hin, daß regelmäßig eine Krankheit erst in einem länger dauernden Prozeß zur Erwerbsunfähigkeit führt und daß diese Entwicklung durch Behandlungsmaßnahmen bekämpft werden kann. Der Rentenversicherungsträger selbst ist gemäß §§ 1236 ff. RVO gehalten, durch Bewilligung geeigneter medizinischer und berufsfördernder Leistungen zur Rehabilitation dem Eintritt der Berufs- und Erwerbsunfähigkeit entgegenzuwirken. Einem Unfallverletzten stehen vergleichbare Vorsorgemöglichkeiten zur Abwehr unfallbedingter Erwerbsunfähigkeit nicht zu Gebote. Dies durfte der Gesetzgeber im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit berücksichtigen.

II.

Das Sozialstaatsgebot wird durch § 1252 Abs. 2 RVO ebenfalls nicht verletzt. Dieser Verfassungsgrundsatz darf nicht dahin ausgelegt werden, daß mit seiner Hilfe jede Einzelregelung modifiziert werden müßte, deren Anwendung sich im konkreten Fall nachteilig oder als Härte auswirken kann (vgl. BVerfGE 26, 44 (61 f.); 66, 234 (248); st. Rspr.).

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