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B 13 R 44/07 R

Aus den Gründen

Die Revision der Klägerin ist begründet. LSG und SG haben zu Unrecht den Anspruch der Klägerin auf Gewährung von Altersrente für schwer behinderte Menschen unter Berücksichtigung eines Zugangsfaktors von 1,0 an Stelle der ihr geleisteten Altersrente für Frauen bereits ab 1.4.2002 verneint und die gleich lautenden Bescheide der Beklagten vom 26.2. und 27.6.2003 bestätigt. Die Bescheide vom 7.3.2002, 26.2.2003 und 27.6.2003 erweisen sich als fehlerhaft; der Klägerin hätte höhere Altersrente erbracht werden müssen.

Gem. § 44 Abs. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsakts das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind.

Die Beklagte hat der Klägerin auf ihren Antrag vom 4.1.2002 mit Bescheid vom 7.3.2002 Altersrente für Frauen ab 1.4.2002 (Zugangsfaktor 0,919) und auf ihren Überprüfungsantrag vom 17.2.2003 mit Bescheid vom 26.2.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.6.2003 an Stelle der Altersrente für Frauen (erst) ab Februar 2003 Altersrente für schwer behinderte Menschen mit einem Zugangsfaktor von 0,970 gewährt. Die Klägerin hat jedoch Anspruch auf Altersrente für schwer behinderte Menschen ab 1.4.2002 unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 1,0. Denn die Voraussetzungen für diese Rente lagen bei Vollendung des 60. Lebensjahrs der Klägerin am 30.3.2002 vor, sodass der Leistungsanspruch ab 1.4.2002 besteht (unten zu 1.); ihr am 4.1.2002 gestellter Rentenantrag bezog sich auch auf diese Leistungsart (unten zu 2.). Die Tatsache, dass die Schwerbehinderung der Klägerin erst nachträglich für Zeiten (auch) vor dem 17.11.2000 festgestellt worden ist, hindert die abschlagsfreie Rentenleistung ab 1.4.2002 nicht (unten zu 3.). Auf die Fragen, ob es eine oder verschiedene Altersrenten gibt bzw. nach § 89 Abs. 1 SGB VI i.d.F. des RVN bereits ab 1.1.1992 gab, und ob ein Wechsel zwischen diesen Rentenarten möglich war, kommt es nicht an (unten zu 4.).

1. Der Anspruch der Klägerin auf die begehrte Leistung ergibt sich aus § 236a SGB VI. Nach dieser Vorschrift haben Versicherte, die vor dem 1.1.1951 geboren sind, Anspruch auf Altersrente für schwer behinderte Menschen, wenn sie das 60. Lebensjahr vollendet haben, bei Beginn der Altersrente als schwer behinderte Menschen (§ 2 Abs. 2 SGB IX) anerkannt sind und die Wartezeit von 35 Jahren erfüllt haben. Die Klägerin ist vor dem 1.1.1951 (am 30.3.1942) geboren; sie hatte am 30.3.2002 das 60. Lebensjahr vollendet und die genannte Wartezeit erfüllt. Sie war auch bei Beginn der Altersrente (1.4.2002) als schwer behinderter Mensch anerkannt.

Die Klägerin ist seit dem 1.4.1998 schwer behindert. Denn das Versorgungsamt R hat durch Bescheid vom 13.2.2003 das Vorliegen eines GdB von 50 ab diesem Zeitpunkt festgestellt. Dieser GdB bedingt gem. § 2 Abs. 2 SGB IX die Schwerbehinderteneigenschaft. Unerheblich ist, dass die bescheidmäßige Anerkennung als schwer behinderter Mensch nicht bereits im Zeitpunkt des Rentenbeginns vorlag, sondern erst im genannten Bescheid des Versorgungsamts enthalten ist. Für die Anerkennung in diesem Sinn kommt es nicht auf das Datum des Bescheids an (vgl. VerbandsKomm SGB VI, Stand März 2004, Rn 5 zu § 236a; Jörg, in: Kreikeböhm, SGB VI, 2. Aufl. 2003, Rn 3 zu § 236a); es reicht die Rückwirkung einer späteren Anerkennung. Dies gilt insbesondere auch dann, wenn - wie hier - die rückwirkende Anerkennung erst im Wege eines Überprüfungsantrags nach § 44 SGB X durchgesetzt worden ist. Denn sonst würde man - entgegen dem Grundgedanken des § 44 SGB X - diejenigen benachteiligen, die ihre Ansprüche infolge einer falschen Verwaltungsentscheidung nicht bereits „im ersten Anlauf“ durchsetzen konnten (zum Restitutionsgedanken des § 44 SGB X vgl. BSGE 85, 151, 159 = SozR 3-2600 § 300 Nr. 15 S. 79).

Die Altersrente war ihr auch abschlagsfrei zu gewähren. Die in § 236a S. 2 und 4 SGB VI i.V.m. Anl. 22 geregelte Anhebung der Altersgrenze von 60 Jahren findet nicht statt bei Versicherten, die bis zum 16.11.1950 geboren sind und am 16.11.2000 schwer behindert waren (§ 236a S. 5 Nr. 1 SGB VI).

Die Klägerin war vor dem 16.11.1950 geboren und - wie sich auf Grund der Überprüfung durch das Versorgungsamt R (Bescheid vom 13.2.2003) herausgestellt hat - bereits ab 1.4.1998 schwer behindert.

2. Auch bezieht sich der Antrag der Klägerin vom 4.1.2002 auf die Altersrente für schwer behinderte Menschen. Zwar hat sie im Antragsvordruck R 100 nicht diese Rentenart angekreuzt, sondern Altersrente wegen Arbeitslosigkeit und Vollendung des 60. Lebensjahrs. Dies hat die Beklagte nicht gehindert, der Klägerin nach dem Günstigkeitsprinzip Altersrente für Frauen wegen Vollendung des 60. Lebensjahrs zu gewähren. Objektiv noch günstiger - weil abschlagsfrei zu gewähren - ist jedoch die Altersrente für schwer behinderte Menschen.

Wie das BSG bereits im Jahre 1966 entschieden hat (Urt. v. 23.9.1966 -12 RJ 256/62 - MittRuhrKn 1968, 128 = Praxis 1967, 77 unter Bezugnahme auf das Urteil des BSG vom 17.9.1964 - 12 RJ 470/61 - SozR Nr. 26 zu Art. 2 § 42 ArVNG), gilt der Grundsatz, dass in dem Antrag auf Gewährung von Altersruhegeld im Zweifel der Antrag auf Gewährung einer dem Versicherten zustehenden höheren Rente liegt. Denn der Versicherungsträger darf hinsichtlich eines Leistungsbegehrens des Versicherten nicht am Wortlaut seiner Erklärung haften, sondern muss nach § 2 Abs. 2 Hs. 2 SGB I stets davon ausgehen, dass der Versicherte die ihm günstigste Art der Leistungsgewährung in Anspruch nehmen will (BSG, Urt. v. 10.10.1979 - 3 RK 26/79 - ErsK 1980, 46 = USK 79172; vgl. auch BSG, Urt. v. 11.11.1987 - 9a RV 22/95; Bayerisches LSG Breith 1977, 533, 537, Niesel, in: Kasseler Komm, Rn 5 bis 8 zu § 89 SGB VI; jeweils m.w.N.). Ein einmal gestellter Antrag ist also umfassend, d.h. auf alle nach Lage des Falles in Betracht kommenden Leistungen zu prüfen (Störmann, Rentenantragsverfahren, 1993, 23; vgl. auch BSGE 44, 164, 166 f. = SozR 4100 § 134 Nr. 3 S. 2 f., BSG SozR 3-5850 § 14 Nr. 2 S. 4 ; Senatsurt. v. 17.2.2005 - B 13 RJ 1/04 R - veröffentlicht bei Juris). Davon, dass der Versicherte die ihm nach Lage des Sachverhalts günstigste Leistung zuerkannt haben möchte, gehen grundsätzlich auch die Rentenversicherungsträger aus (vgl. Verbandskomm <Stand Juni 1997>, Rn 9 zu § 16 SGB I m.w.N.; Störmann, a.a.O.).

Vom einzelnen Versicherten kann nicht erwartet werden, dass er über alle Rentenarten und deren Anspruchsvoraussetzungen informiert ist; daher kann ohne ausdrücklich erklärte Einschränkung nicht angenommen werden, dass er bei der Rentenantragstellung bestimmte Rentenarten ausschließen will. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Antragstellung anhand eines vom Rentenversicherungsträger zur Verfügung gestellten Vordrucks erfolgt und dem Versicherten möglicherweise nicht bewusst ist, dass er auch mehrere Rentenarten ankreuzen kann. Derartige typische Erklärungen können auch vom Revisionsgericht ausgelegt werden (vgl. BSGE 76, 203, 204 m.w.N. = SozR 3-5870 § 10 Nr. 7 S. 49). Hierbei ist nach den §§ 133, 157 des Bürgerlichen Gesetzbuchs nicht allein am Wortlaut zu haften. Vielmehr hat sich die Auslegung eines Leistungsantrags danach zu richten, was als Leistung möglich ist, wenn jeder verständige Antragsteller mutmaßlich seinen Antrag bei entsprechender Beratung angepasst hätte und keine Gründe für ein anderes Verhalten vorliegen (vgl. BSG, a.a.O., 205, st. Rspr., vgl. auch BSG SozR 4-2600 § 43 Nr. 5 Rn 14 und BSGE 96, 161 = SozR 4-2500 § 13 Nr. 8 m.w.N.). Im Sinne dieser Rspr. hat die Beklagte den Antrag der Klägerin vom 4.1.2002 auch als Antrag auf Gewährung von Altersrente für Frauen bei Vollendung des 60. Lebensjahrs behandelt, obwohl diese Rentenart auf dem Vordruck nicht angekreuzt war.

3. Die Klägerin hat Anspruch auf abschlagsfreie Rentengewährung ab 1.4.2002. Denn nach § 236a S. 5 SGB VI wird die Altersgrenze von 60 Jahren nicht für Versicherte angehoben, die bis zum 16.11.1950 geboren sind und am 16.11.2000 schwer behindert i.S.d. § 2 Abs. 2 SGB IX waren.

Das Versorgungsamt R hat den Beginn der Schwerbehinderteneigenschaft der Klägerin auf den 1.4.1998 datiert; dass diese Feststellung erst am 13.2.2003 - und damit nach Rentenantragsteilung am 4.1.2002 - getroffen worden ist, führt zu keiner abweichenden Beurteilung. Die Vertrauensschutzregelung des § 236a S. 5 SGB VI stellt allein auf die Tatsache ab, dass die Schwerbehinderteneigenschaft am 16.11.2000, dem Zeitpunkt der zweiten und dritten Lesung (Gesetzesbeschluss; s. Plenarprotokoll 14/133, 12753A ff.) des Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20.12.2000 (BGBl I, 1827), objektiv vorlag (vgl. hierzu wie zur Verfassungsgemäßheit dieser Regelung ausführlich Senatsurt. v. 26.7.2007 - B 13 R 44/06 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen); der Zeitpunkt ihrer Feststellung ist nicht rechtserheblich.

Unerheblich ist auch, dass die Klägerin im Fragebogen zur Prüfung der Vertrauensschutzregelungen bei vorzeitigen Altersrenten sowie zum Rentenbeginn (R 240) u.a. angegeben hat, am 16.11.2000 nicht schwer behindert gewesen zu sein, und unterschriftlich bestätigt hat, ihr sei bekannt, unter welchen Voraussetzungen eine „Altersrente für schwer Behinderte, Berufsunfähige und Erwerbsunfähige“ in Anspruch genommen werden könne. Beides sind Wissensbekundungen. Die Klägerin hat also lediglich bekundet, dass ihr die Voraussetzungen für die Altersrente für schwer behinderte Menschen bekannt seien; ferner hat sie ihr Nichtwissen hinsichtlich des Vorliegens ihrer Schwerbehinderteneigenschaft ausgedrückt. Tatsächlich war sie - ohne dies zu wissen - jedoch schon schwer behindert, sodass durch den Bescheid des Versorgungsamts vom 13.2.2003 nicht etwa eine nachträgliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen i.S.d. § 48 SGB X eingetreten ist.

4. Damit liegt weder ein Fall des Wechsels von einer Altersrente in die andere (§ 34 Abs, 4 Nr. 3 i.V.m. § 89 Abs. 1 SGB VI) noch ein „Neubewertungsfall“ i.S.d. Rspr. des 4. Senats des BSG (SozR 3-2600 § 89 Nr. 2; SozR 3-2600 §1 00 Nr. 1; BSGE 88, 293 = SozR 3-2600 § 42 Nr. 1) vor. Ebenso wenig handelt es sich um einen Fall möglicherweise unzureichender Beratung der Klägerin im Vorfeld der Rentenbeantragung (hierzu BSGE 91, 1 = SozR 4-2600 § 115 Nr. 1). Vielmehr hat sich nach Überprüfung des Zeitpunkts des Eintritts der Schwerbehinderung bei der Klägerin durch das Versorgungsamt R lediglich herausgestellt, dass der Rentenantrag vom 4.1.2002 unzutreffend beschieden worden war. Die Beklagte ist i.S.d. § 44 Abs. 1 SGB X von einem Sachverhalt ausgegangen, der sich als unrichtig erweist; deshalb sind (höhere) Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden.

Die verfahrensrechtlichen Bedenken des LSG, es fehle an einer Zugunstenentscheidung der Beklagten, tragen nicht. Macht der Betroffene einen Anspruch geltend, dessen Zuerkennung die Rücknahme eines früheren Bescheids voraussetzt, und sieht die Verwaltung hierin fälschlicherweise nur einen Neuantrag, ist vom Gericht dennoch über den Anspruch nach § 44 Abs. 1 SGB X mit zu entscheiden; einer Ergänzung des angefochtenen Bescheids oder gar Erhebung der Untätigkeitsklage bedarf es nicht (vgl. Senatsurt. v. 23.5.2006 - B 13 RJ 14/05 R - BSGE 96, 227= SozR 4-2600 § 315a Nr. 3 Rn 12; ferner: BSGE 65, 84, 85 f. = SozR 1200 § 30 Nr. 17 S. 17; BSG SozR 1300 § 48 Nr. 36 S. 109; BSG SozR 3-4100 § 119 Nr. 23).

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