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5 RJ 14/95

Tatbestand

Die Klägerin begehrt von der Beklagten Witwenrente nach dem Versicherten P. S.

Die Klägerin ist ukrainische Staatsangehörige und wohnt auch noch heute in der Ukraine. Sie heiratete dort 1937 den Versicherten, der in dem später zu der damaligen UdSSR geschlagenen Teil Polens geboren war. 1942 kam der Versicherte als Zwangsverpflichteter nach Deutschland zum Arbeitseinsatz. Er lebte seitdem als heimatloser Ausländer in Deutschland. Seine 1960 in Deutschland geschlossene zweite Ehe, aus der keine Kinder hervorgingen, wurde durch rechtskräftiges Urteil des Landgerichts Koblenz vom 20. Dezember 1968 geschieden. Er bezog seit 1975 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit und ab August 1981 Altersruhegeld. Am 4. Juli 1983 verstarb er in A.

Die Klägerin ist seit September 1952 bis heute ebenfalls in zweiter Ehe verheiratet. Im April 1988 beantragte sie Hinterbliebenenrente nach dem Versicherten bei der Landesversicherungsanstalt (LVA) Rheinland-Pfalz. Sie machte geltend, sie habe ihre zweite Ehe in der Annahme geschlossen, ihr erster Ehemann sei im Krieg gefallen. Wie sich aus dem gemeinschaftlichen Erbschein des Amtsgerichts A. vom Oktober 1986 ergebe, seien sie und ihre … geborene Tochter zu gemeinsamen Erben nach dem Versicherten eingesetzt worden.

Die LVA Rheinland-Pfalz lehnte zunächst durch Bescheid vom 12. Februar 1990 den Rentenantrag ab, nahm dann aber diesen Bescheid wieder zurück und gab die Sache zuständigkeitshalber an die Beklagte ab (Bescheid vom 10. September 1990). Die Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin ebenfalls ab (Bescheid vom 5. November 1990).

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte zur Zahlung von Witwenrente an die Klägerin verurteilt (Urteil vom 2. Dezember 1993). Ein Versicherter könne zwei Witwen hinterlassen. Die Klägerin habe auch nicht ihren Rentenanspruch durch Wiederheirat verloren. Denn die Ehe der Klägerin mit dem Versicherten sei nicht geschieden, für nichtig erklärt oder aufgehoben worden, wie es § 1265 Abs. 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) verlange. Das Landessozialgericht (LSG) hat das erstinstanzliche Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen (Urteil vom 20. Januar 1995). Nach ukrainischem Recht sei die Ehe, sei sie auch bigamisch, solange als gültig zu behandeln, wie keine gegenteilige gerichtliche Entscheidung vorliege. Das bedeute, daß die Klägerin zum Zeitpunkt des Todes des Versicherten sowohl mit ihrem jetzigen Ehemann als auch mit dem Versicherten verheiratet gewesen sei. Sinn des § 1291 RVO sei es, einer früheren Ehefrau des Versicherten keine Rente mehr zu gewähren, wenn sie erneut heirate. Mit der Wiederverheiratung sei sie nicht mehr die Witwe des ersten Ehemannes.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts. Sie dürfe keinen Nachteil erleiden, weil sie sich irrtümlich neu verheiratet habe. Sie werde mit dem Tod ihres Ehemannes Witwe, selbst wenn sie gleichzeitig in einer zweiten Ehe lebe.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

  • das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 20. Januar 1995 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 2. Dezember 1993 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

  • die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist zurückzuweisen. Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Witwenrente nach dem Versicherten.

Der Anspruch der Klägerin richtet sich noch nach dem Recht der RVO, weil Rente bereits für die Zeit vor Inkrafttreten des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Rentenversicherung - (SGB VI) am 1. Januar 1992 geltend gemacht wird und der Antrag vor dem 1. April 1992 gestellt worden ist (§ 300 Abs. 2 SGB VI).

Gemäß § 1264 Abs. 1 RVO in der ab 1. Januar 1986 geltenden Fassung erhält nach dem Tod des versicherten Ehemannes seine Witwe eine Witwenrente. Die Klägerin erfüllt für die von ihr begehrte Rente die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift nicht. Sie ist nicht die "Witwe" des Versicherten.

Der Anspruch auf Witwenrente scheitert allerdings nicht bereits daran, daß die Klägerin zur Zeit des Todes des Versicherten nicht (mehr) mit diesem verheiratet war. Zwar hatte die Klägerin früher einmal erklärt, sie habe sich von dem Versicherten scheiden lassen. Das LSG ist indessen zur Überzeugung gelangt, daß keine Scheidung erfolgte. An diese Tatsachenfeststellung ist das Revisionsgericht gebunden (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes <SGG>). Auch die weitere Eheschließung der Klägerin hat den Bestand ihrer Ehe mit dem Versicherten nicht berührt. Das LSG hat ausgeführt, daß nach ukrainischem Recht die erste Ehe der Klägerin durch die zweite nicht beeinträchtigt wurde, weil nach ukrainischem Recht eine Ehe, selbst eine bigamische, ihre Wirkung nur durch gerichtliches Urteil verlor. Diese Rechtsauffassung des LSG ist durch das Revisionsgericht nicht nachprüfbar, da nach § 162 SGG nur deutsches Bundesrecht revisibel ist. Ein die erste Ehe vernichtendes Urteil ist aber, wie das LSG ebenfalls festgestellt hat, in der Ukraine nicht ergangen.

Ob dieser - nach ukrainischem Recht beurteilte - Bestand der ersten Ehe auch für das deutsche Recht anzuerkennen ist, richtet sich gemäß dem deutschen internationalen Privatrecht nicht nach deutschem, sondern ausländischem Recht (Art. 13, 14, 220 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch <EGBGB>). Denn die Ehe der Klägerin und des Versicherten wurde im Ausland (Ukraine) geschlossen und keiner der Partner war Deutscher. Ungewiß ist, ob der Versicherte Ukrainer - wie die Klägerin - oder Pole war. Inwieweit infolgedessen die Wirkungen, die die zweiten Ehen der Klägerin und des Versicherten auf ihre erste in der Ukraine geschlossene Ehe möglicherweise hatten, nach ukrainischem oder polnischem Recht zu beurteilen sind, kann jedoch dahinstehen. Denn auf der einen wie der anderen Beurteilungsgrundlage entfällt ein Anspruch der Klägerin auf Witwenrente nach dem Versicherten schon deshalb, weil sie durch ihre zweite Heirat aus dem Kreis der durch § 1264 Abs. 1 RVO geschützten Personen ausgeschieden ist.

Das LSG hat - für den Senat gemäß § 163 SGG bindend - festgestellt, daß die Klägerin heute in der Ukraine wirksam nach dortigem Recht (zum zweiten Male) verheiratet ist und es auch zur Zeit des Todes des Versicherten war. Aus den genannten Vorschriften des deutschen internationalen Privatrechts ist abzuleiten, daß das deutsche Recht (auch) diese Ehe als wirksam anerkennt. Die Folge ist, daß die Klägerin nicht als die Witwe des Versicherten i.S. des § 1264 Abs. 1 RVO angesehen werden kann.

Zwar könnte man nach allgemeinem Sprachgebrauch unter einer "Witwe" eine Frau verstehen, die zur Zeit des Todes eines Mannes mit diesem verheiratet war, gleichgültig, ob sie erneut (bigamisch) geheiratet hat oder nicht. Eine mehrfach verheiratete Frau, deren Ehen jeweils durch den Tod des Mannes aufgelöst sind, wäre bei solchem gedanklichen Ausgang mehrfache Witwe. Das ist indessen nicht der in § 1264 Abs. 1 RVO verwendete Begriff der Witwe. Für diese Vorschrift ist eine Frau nur solange die Witwe des verstorbenen Versicherten, wie sie nicht eine zweite Ehe eingegangen ist (BSG Urteile vom 21. Juli 1977 - GS 1/76, 2/76 - BSGE 44, 151 = SozR 2200 § 1302 Nr. 3). Allein diese Begrenzung trägt dem Schutzzweck der Rentengewährung an die Witwe hinreichende Rechnung. Ob die zweite Eheschließung in die Zeit vor oder nach dem Tod des Versicherten fällt, macht dabei keinen Unterschied.

Sinn der Witwen- und Witwerrenten in der rechtlichen Ausgestaltung durch §§ 1264, 1291 RVO ist, dem überlebenden Ehegatten, der durch den Tod seines Ehepartners vermuteterweise einen wirtschaftlichen Verlust erleidet und das Einkommen des Ehepartners, das er zu dessen Lebzeiten mitgenießen konnte, verliert, einen ausgleichenden Schutz durch die Rentenversicherung des Verstorbenen zu gewähren. Dieser Schutz endet, wenn der Überlebende wieder heiratet, gleichgültig, ob sich seine wirtschaftliche Lage durch die neue Heirat verbessert oder verschlechtert (arg § 1291 Abs. 1 RVO). Von diesem Zeitpunkt an ist der überlebende Ehegatte nicht mehr Witwe oder Witwer des bzw. der Verstorbenen i.S. der gesetzlichen Regelung der Hinterbliebenenrenten. Daß der Anspruch aus § 1264 RVO wieder aufleben kann, wenn die zweite Ehe aufgelöst wird (§ 1291 Abs. 2 RVO), soll lediglich den Entschluß zur zweiten Ehe erleichtern und das Risiko, das der sich zum zweiten Mal Verheiratende eingeht, mindern. Es handelt sich hierbei um eine "Großzügigkeit einer Regelung" (Bundesverfassungsgericht <BVerfG> Urteil vom 21. Oktober 1980 - 1 BvR 179/78, 464/78 - BVerfGE 55, 114 = SozR 2200 § 1302 Nr. 4 S. 21). Ob das Wiederaufleben des Witwen-/Witwerrentenanspruchs auch die Witwen- bzw. Witwereigenschaft begrifflich wieder aufleben läßt, kann im vorliegenden Fall allerdings dahingestellt bleiben. Denn die Klägerin hat zur Zeit des Todes des Versicherten in einer bestehenden Ehe gelebt und lebt auch heute noch in dieser Ehe, erfüllt infolgedessen also schon nicht die Voraussetzung des Wiederauflebens des Anspruchs, daß ihre zweite Ehe aufgelöst oder für nichtig erklärt ist.

Der dargelegte Schutzzweck der Rentengewährung an Witwen und Witwer ist auch in der besonderen Lage einer bigamischen Wiederheirat von Bedeutung, durch die die Lebenssituation der Klägerin gekennzeichnet ist. Die rechtliche Anerkennung der zweiten Ehe der Klägerin trotz fortbestehender Gültigkeit ihrer ersten Ehe durch das ukrainische Recht und (im Anschluß daran) durch das deutsche internationale Privatrecht hat zur Folge, daß für die Klägerin eine ausreichende unterhaltsrechtliche Absicherung, wie sie für die Regelung der Hinterbliebenenrenten zum gedanklichen Ausgangspunkt genommen ist, außer durch ihre erste Ehe mit dem Versicherten ebenfalls durch ihre zweite Ehe gewährleistet war und ist. Mit dem Wegfall der ersten Absicherung durch den Tod des Versicherten entstand also bei ihr keine Versorgungslücke, wie sie im Regelfall der Witwen- oder Witwerrenten eintritt, ergab sich daher auch nicht der Bedarf, durch eine Hinterbliebenenrente einen ausgleichenden Schutz aus der Rentenversicherung des Verstorbenen zu gewähren. Trotz der Möglichkeit, die Klägerin nach allgemeinem Sprachgebrauch in bezug auf ihre erste Ehe mit dem Versicherten als (dessen) Witwe zu bezeichnen, erfüllte sie infolge ihrer doppelten Rechtsstellung als Ehefrau nicht den Sinngehalt des Begriffs der Witwe, wie er in § 1291 Abs. 1 RVO zum Leistungstatbestand genommen ist. Sie blieb Ehefrau, wenn auch jetzt bezogen auf ihre zweite Ehe.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG.

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