5 RJ 4/93
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Rente wegen Erwerbs- bzw Berufsunfähigkeit (EU/BU).
Die am 26. Mai 1929 geborene Klägerin ist anerkannte Vertriebene. Sie wurde in Rumänien geboren. Nach dem Schulbesuch verrichtete sie dort verschiedene Tätigkeiten. Im Jahre 1961 erkrankte sie an einer Lungentuberkulose. Nach dem Aufenthalt in einer Lungenheilanstalt erhielt sie von der rumänischen Sozialversicherung bis 1970 eine Krankenrente. Von 1970 bis 1978 war sie Hausfrau. Für die Zeit von Mai 1978 bis Januar 1980 ist in ihrem Arbeitsbuch die Tätigkeit einer Weberin eingetragen. Anschließend versorgte sie als Hausfrau ihre alte und kranke Mutter.
Nachdem die Klägerin am 1. Oktober 1986 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist war, beantragte sie am 23. Oktober 1986 Rente wegen EU. Bei der von der Beklagten veranlaßten medizinischen Begutachtung ergab sich, daß die Klägerin lediglich noch in der Lage sei, leichte Arbeiten höchstens unterhalbschichtig zu verrichten. Gleichwohl lehnte die Beklagte die Gewährung einer Versichertenrente ab, weil die Klägerin innerhalb der letzten 60 Kalendermonate vor Eintritt der EU nicht mindestens 36 Kalendermonate mit Beiträgen für eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit belegt habe; da EU nach den getroffenen Feststellungen erst seit dem 23. Oktober 1986 bestehe, sei der Versicherungsfall auch nicht in der Zeit vor dem 1. Juli 1984 eingetreten (Bescheid vom 6. März 1987).
Mit ihrem Widerspruch trug die Klägerin vor, sie sei schon vor dem 1. Juli 1984 erwerbsunfähig geworden. Nach weiterer medizinischer Sachaufklärung wies die Beklagte den Widerspruch mit der Begründung zurück, die Klägerin sei vor November 1986 noch nicht erwerbsunfähig gewesen (Widerspruchsbescheid vom 14. Dezember 1988). Dieser Auffassung hat sich das Sozialgericht (SG) im anschließenden Klageverfahren angeschlossen (Urteil vom 27. Juni 1991).
Nach Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens hat das Landessozialgericht (LSG) im Urteil vom 3. November 1986 einen Anspruch der Klägerin auf Rente wegen EU ab 1. Oktober 1986 bejaht und in den Entscheidungsgründen im wesentlichen ausgeführt: Zwar habe die Klägerin nach der zum Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Vorschrift des § 1247 der Reichsversicherungsordnung (RVO) idF des Haushaltsbegleitgesetzes (HBegleitG) 1984 vom 22. Dezember 1983, BGBl I S 1532, keinen Anspruch auf die von ihr begehrte Leistung, weil sie zuletzt vor Eintritt des Versicherungsfalles der EU bzw BU keine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt habe. Zwischen den Beteiligten stehe bindend fest, daß lediglich 19 Monate als mit Pflichtbeiträgen belegt gelten. Die Klägerin erfülle aber die Voraussetzungen der Übergangsvorschrift des Art 2 § 6 Abs 2 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG). Nach dieser Vorschrift gelte § 1247 Abs 1 RVO in der am 31. Dezember 1983 geltenden Fassung, die das Erfordernis einer versicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit zuletzt vor Eintritt des Versicherungsfalles nicht verlangt habe, und zwar auch für Versicherungsfälle bis zum 30. Juni 1984, sofern vor dem 1. Januar 1984 eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten (Wartezeit) zurückgelegt worden sei. Unter dem Versicherungsfall iS dieser Vorschrift sei der Eintritt von EU zu verstehen. Am 30. Juni 1984 habe das Leistungsvermögen der Klägerin nur die Verrichtung von Teilzeitarbeit zugelassen. Wenn auch nicht zur vollen Überzeugung des Senats bewiesen sei, daß die Klägerin vor dem 1. Juli 1984 nicht mehr vollschichtig erwerbstätig werden konnte, so sei nach Würdigung der ärztlichen Ausführungen doch überwiegend wahrscheinlich, daß sie am 30. Juni 1984 nur noch in der Lage gewesen sei, körperlich leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter Beachtung bestimmter Einschränkungen halb- bis untervollschichtig zu verrichten. Diese überwiegende Wahrscheinlichkeit reiche nach § 4 Fremdrentengesetz (FRG) im Falle der Klägerin für den Beweis der die EU begründenden Tatsachen aus. Mit ihrem Leistungsvermögen sei die Klägerin vor dem 1. Juli 1984 erwerbsunfähig gewesen, weil ihr nach der in der Bundesrepublik Deutschland maßgebenden Arbeitsmarktsituation weder die Beklagte noch die Arbeitsverwaltung innerhalb eines Jahres einen geeigneten Arbeitsplatz hätte anbieten können. Da die Klägerin im Jahre 1984 weder einer selbständigen Erwerbstätigkeit nachgegangen noch abhängig beschäftigt gewesen sei und schließlich auch die Wartezeit von 60 Monaten erfüllt habe, lägen die Voraussetzungen für eine EU-Rente vor.
Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt die Verletzung materiellen Rechts durch das Berufungsgericht und macht geltend: Die Vorschrift des § 4 FRG lasse nur für die Feststellung der "nach diesem Gesetz", also dem FRG, erheblichen Tatsachen die Glaubhaftmachung genügen. Dies gelte nicht für die hier erforderliche Feststellung des Versicherungsfalles, weil dieser mit dem FRG in keinem Zusammenhang stehe. Außerdem habe das LSG den Teilzeitarbeitsmarkt falsch bewertet. In den Jahren 1983 und 1984 seien nach der Angabe in statistischen Jahrbüchern Teilzeitarbeitsplätze in genügender Anzahl vorhanden gewesen. Schließlich habe das LSG für den Eintritt des Versicherungsfalles einen falschen Zeitpunkt angenommen. In Fällen, in denen EU anzunehmen sei, weil dem Versicherten ein Teilzeitarbeitsplatz nicht angeboten werden könne, könne der Versicherungsfall frühestens am Tage der Rentenantragstellung eintreten, weil - entsprechend der Entscheidung des Großen Senats (GS) des Bundessozialgerichts (BSG) vom 10. Dezember 1976 - GS 2/75, GS 3/75, GS 4/75, GS 3/76 - = SozR 2200 § 1246 Nr 43 - erst von diesem Tage an entsprechende Vermittlungsbemühungen eingeleitet werden könnten.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
- das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 3. November 1992 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Heilbronn vom 27. Juni 1991 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
- die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die durch Zulassung statthafte Revision ist unbegründet.
Über den Anspruch der Klägerin ist noch unter Anwendung der Vorschriften der RVO zu entscheiden, denn die Klägerin hat vor dem 1. Januar 1992 für einen vor diesem Zeitpunkt liegenden Zeitraum Ansprüche geltend gemacht (§ 300 Abs 2 Sozialgesetzbuch - Sechstes Buch -).
Nach § 1247 Abs 1 RVO idF des HBegleitG 1984 erhält Rente wegen EU, wer erwerbsunfähig ist sowie zuletzt vor Eintritt der EU eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt und die Wartezeit erfüllt hat. Da die Klägerin die weiteren Voraussetzungen des § 1246 Abs 2a RVO, auf die § 1247 Abs 2 RVO verweist, aufgrund ihrer lange zurückliegenden Berufstätigkeit nicht erfüllt und auch Aufschubtatbestände iS von § 1246 Abs 2a Satz 2 RVO nicht festgestellt sind, kommt für die Klägerin eine Rentengewährung nur nach Maßgabe des Art 2 § 6 Abs 2 ArVNG in Frage, der die Anwendbarkeit des § 1247 RVO in seiner vor dem HBegleitG 1984 geltenden Fassung regelt. § 1247 RVO in dieser ursprünglichen Fassung ist im Falle der Klägerin anwendbar. Nach den bindenden Feststellungen des LSG hat sie vor dem 1. Januar 1984 eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten zurückgelegt. Entgegen der Ansicht der Beklagten ist auch der Versicherungsfall der EU bis zum 30. Juni 1984 eingetreten (Art 2 § 6 Abs 2 Sätze 1 und 2 ArVNG).
Die Klägerin ist erwerbsunfähig. Gemäß § 1247 Abs 2 RVO ist derjenige Versicherte erwerbsunfähig, der infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder von Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann. Dies trifft bei der Klägerin zu. Aufgrund der Tatsachenfeststellungen des LSG, die die Beklagte nicht mit durchgreifenden Verfahrensrügen angegriffen hat und deshalb für den Senat bindend sind (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes <SGG>), ist es überwiegend wahrscheinlich, daß die Klägerin vor dem 1. Juli 1984 nur noch in der Lage gewesen ist, körperlich leichte Arbeiten unter Beachtung bestimmter Einschränkungen halb- bis untervollschichtig zu verrichten.
Zutreffend ist das LSG entgegen der Auffassung der Beklagten davon ausgegangen, daß insoweit eine überwiegende Wahrscheinlichkeit den gesetzlichen Beweisanforderungen genügt. Nach den Feststellungen des LSG zählt die Klägerin zum Personenkreis des § 1 FRG, so daß § 4 FRG nicht nur grundsätzlich, sondern auch hinsichtlich der für den Rentenanspruch der Klägerin notwendigen Entscheidung über den Eintritt des Versicherungsfalles anwendbar ist. Die gegenteilige Auffassung der Beklagten übersieht, daß die Beweiserleichterung des § 4 Abs 1 FRG nach Abs 2 dieser Vorschrift auch für außerhalb des Geltungsbereichs des FRG (idF bis zum 31. Dezember 1991) bzw außerhalb der Bundesrepublik Deutschland (in der ab 1. Januar 1992 geltenden Fassung des FRG) eingetretene Tatsachen gilt, die nach den allgemeinen Vorschriften erheblich sind. Darunter fallen schon nach dem Gesetzeswortlaut selbstverständlich die Tatsachen, die den Eintritt des Versicherungsfalles der EU iS von § 1247 RVO begründen. Dies entspricht auch dem Zweck der Vorschrift des § 4 FRG, die dem Notstand abhelfen will, daß Vertriebene und Flüchtlinge - wie die Klägerin - anders als die in der Bundesrepublik ansässigen Versicherten oft nicht in der Lage sind, Unterlagen vorzulegen, die zum Beweis von rentenrechtlichen Ansprüchen dienen können. So hat das BSG bereits mit Urteil vom 30. April 1971 - 1/11 RA 199/69 - (SozR Nr 25 zu § 1262 RVO) entschieden, daß im Rahmen des Kinderzuschusses gemäß § 39 Abs 2 Nr 5 des Angestelltenversicherungsgesetzes (= § 1262 Abs 2 Nr 5 RVO) bei nichtehelichen Kindern die Vaterschaft des Versicherten nach § 4 Abs 2 FRG glaubhaft gemacht werden kann. Nach Wortlaut und Sinn des § 4 FRG besteht auch im vorliegenden Fall Anlaß, die Glaubhaftmachung für das Leistungsvermögen des Versicherten, eine Tatsache, die für den Eintritt des Versicherungsfalles der EU und somit für den Rentenanspruch nach einer Vorschrift der RVO erheblich ist, zuzulassen.
Bei der Beurteilung der EU der Klägerin hat das LSG auch zu Recht auf den Teilzeitarbeitsmarkt in der Bundesrepublik im Jahre 1984 abgestellt. Nach dem Beschluß des GS des BSG vom 10. Dezember 1976 (aaO) darf ein leistungsgeminderter Versicherter in der Regel nur auf Teilzeitarbeitsplätze verwiesen werden, die er täglich von seiner Wohnung aus erreichen kann. Der Arbeitsmarkt - so der GS - ist ihm praktisch verschlossen, wenn ihm ein derartiger Arbeitsplatz weder vom Rentenversicherungsträger noch vom zuständigen Arbeitsamt (ArbA) innerhalb eines Jahres seit Stellung des Rentenantrages angeboten werden kann. Dazu hat der 13. Senat im Urteil vom 17. Juni 1993 - 13 RJ 1/92 - = SozR 3-5750 Art 2 § 6 Nr 6 ausgeführt, daß bei rückwirkender Feststellung der Arbeitsmarktlage der Nachweis konkreter Vermittlungsbemühungen für die Dauer eines Jahres durch den Rentenversicherungsträger im Zusammenwirken mit dem ArbA nicht erforderlich ist, sondern eine Rückschau anhand der vorhandenen Daten ausreicht, soweit diese hinreichend verläßlich sind. Der erkennende Senat schließt sich dieser Rechtsauffassung an. Danach kommt der Prüfung der Vermittelbarkeit des nicht mehr vollschichtig einsatzfähigen Versicherten nach Rentenantragstellung nur feststellende Wirkung für das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von Arbeitsplätzen zu, ohne daß diese Feststellung ein (weiteres) Merkmal des Versicherungsfalles der EU darstellt. Ebensowenig ist der Eintritt des Versicherungsfalles von der Kenntnis des Rentenversicherungsträgers abhängig. Soweit der GS Regeln für die Anforderungen aufgestellt hat, die an die Aufklärung des Sachverhalts bei der Verweisung eines Versicherten auf Teilzeitarbeitsplätze zu stellen sind, sind diese für die Ermittlung der Arbeitsmarktlage für einen weit vor der Rentenantragstellung und damit Kenntniserlangung durch den Versicherungsträger liegenden Zeitpunkt nicht unmittelbar anwendbar. In einem solchen Fall, in dem es auf das Vorliegen von EU zu einem mehrere Jahre vor der Antragstellung liegenden Zeitpunkt ankommt, sind Rückschlüsse vom Ergebnis der nunmehr erst einsetzenden Vermittlungsbemühungen auf die Arbeitsmarktlage bei Eintritt der Leistungsminderung nicht ohne weiteres möglich. Die vom GS für die Ermittlung der Arbeitsmarktlage aufgestellten Grundsätze, wonach das Vorhandensein von Arbeitsplätzen anhand konkreter Vermittlungsbemühungen innerhalb eines Jahres seit Antragstellung festzustellen sind, können dann nur sinngemäß angewendet werden, indem für den festgestellten Zeitpunkt des Eintritts der Erwerbsminderung zu ermitteln ist, ob dem Versicherten von diesem Zeitpunkt an binnen Jahresfrist vom Rentenversicherungsträger oder zuständigen ArbA ein geeigneter Arbeitsplatz hätte angeboten werden können. Dies ist eine ähnliche Verfahrensweise wie die bei im Ausland lebenden Versicherten lediglich erforderliche Prüfung, ob ihnen, wenn sie im Bundesgebiet ihren Wohnsitz hätten, ein für sie geeigneter Teilzeitarbeitsplatz im Bundesgebiet bzw in einem für die Verhältnisse typischen ArbA-Bezirk angeboten werden könnte (BSG Urteil vom 17. Mai 1977 - 1 RA 55/76 - = SozR 2200 § 1246 Nr 18; bestätigt durch BSG Urteil vom 30. August 1979 - 4 RJ 110/78 - = SozR 2200 § 1246 Nr 48). Das LSG hat bzgl des hier maßgeblichen Zeitpunkts (30. Juni 1984), zu dem nach dem Ergebnis seiner Ermittlungen das Leistungsvermögen der Klägerin entscheidend herabgesetzt war, als allgemein bekannt festgestellt, daß der Arbeitsmarkt für nur noch halb- bis untervollschichtig einsatzfähige Versicherte, also auch für die Klägerin, verschlossen war. An diese Feststellung, der die Beklagte nicht mit zulässigen Verfahrensrügen entgegengetreten ist, ist der Senat gebunden.
Da schließlich die Klägerin im Jahre 1984 weder einer selbständigen Erwerbstätigkeit nachgegangen noch abhängig beschäftigt gewesen ist, liegen die Voraussetzungen für eine Rente wegen EU vor.
Nach alledem war die Revision der Beklagten zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.