5 RJ 58/90
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin Anspruch auf ein höheres Altersruhegeld unter Anrechnung einer Kindererziehungszeit für ihr Enkelkind hat.
Die 1922 geborene Klägerin war bis Februar 1967 versicherungspflichtig beschäftigt. Sie hat nach einer Bescheinigung des Landratsamtes O. ihr Enkelkind S. H., geboren 19. Dezember 1966, seit dessen Geburt bis zur Volljährigkeit in Pflege gehabt. Die Mutter des Kindes, die Beigeladene, lebte bis Ende Februar 1967 im gemeinsamen Haushalt. Zum 1. März 1967 schied sie aus diesem Haushalt aus und zog zu ihrem Freund nach S. Seit diesem Zeitpunkt besuchte sie ihr Kind ein- bis zweimal im Monat.
Die Klägerin beantragte im Jahr 1987 vor Umwandlung der bis dahin bezogenen Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) in das Altersruhegeld (ARG) die Berücksichtigung der Zeit der Kindererziehung von Januar 1967 bis Dezember 1967 für ihr Enkelkind.
Im Umwandlungsbescheid vom 3. April 1987 über die Gewährung des ARG berücksichtigte die Beklagte die Kindererziehungszeit nicht. Das Sozialgericht (SG) hat der Klage wegen der Nichtberücksichtigung der Kindererziehungszeit zum Teil stattgegeben. Es hat die Beklagte verurteilt, das ARG der Klägerin unter Berücksichtigung der Zeit vom 1. März 1967 bis 31. Dezember 1967 als Kindererziehungszeit neu zu berechnen.
Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat das LSG ausgeführt, daß die Klägerin Pflegemutter ihres Enkelkindes seit 1. März 1967 gewesen sei. Voraussetzung für das Pflegeeltern- bzw. Pflegekindschaftsverhältnis sei das Bestehen eines familienähnlichen, auf längere Dauer berechneten Bandes zwischen dem Pflegekind und dem Berechtigten und die Aufnahme in den Haushalt des Berechtigten. Dies bedeute, daß der Pflegeelternteil im Rahmen des Zusammenlebens mit dem Pflegekind in ein Aufsichts-, Betreuungs- und Erziehungsverhältnis zu dem Kind getreten sein müsse und daß das Pflegekind aus der Obhut und Fürsorge der leiblichen Eltern ausgeschieden und in die Fürsorge und den Haushalt des Pflegeelternteils übergetreten sei. Die Klägerin habe seit 1. März 1967 die Obhut und Sorge für ihr Enkelkind übernommen. Zu diesem Zeitpunkt sei die Beigeladene aus dem Haushalt der Klägerin ausgeschieden. Sie habe ihren Lebensmittelpunkt in S. gehabt, was sich daraus ergebe, daß sie ihr Kind lediglich ein- bis zweimal pro Monat besucht und auch den Urlaub nicht zusammen mit ihrem Kind verbracht habe. Damit habe das Enkelkind der Klägerin in häuslicher Gemeinschaft allein mit der Klägerin gelebt. Es sei aus der Obhut und Fürsorge seiner leiblichen Mutter ausgeschieden gewesen. Die Besuche, die die Beigeladene dem Kind abgestattet habe, ständen der Annahme eines Pflegekindschaftsverhältnisses nicht entgegen. Es sei nicht erforderlich, daß das Band zwischen leiblicher Mutter und Kind vollständig gelöst ist, um ein familienähnliches Band zur Pflegemutter zu begründen (Urteil vom 26. Juni 1990).
Gegen dieses Urteil richtet sich die - vom LSG zugelassene - Revision der Beklagten. Die Beklagte rügt die Verletzung materiellen Rechts. Sie macht geltend, daß ein Pflegekindschaftsverhältnis i.S. des § 56 Abs. 3 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil - (SGB I) zur weiteren Pflegeperson des Kindes nicht besteht, solange noch eine Verbindung des Kindes zu einem leiblichen Elternteil besteht. Sie beruft sich insoweit auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu § 1262 Reichsversicherungsordnung (RVO) und zum Kindergeldgesetz (KGG). Das LSG sei von einem wenn auch unbedeutenden Erziehungsbeitrag der leiblichen Mutter ausgegangen und nehme dennoch ein Pflegekindschaftsverhältnis zur Großmutter an. Damit widerspreche es der Rechtsprechung des BSG.
Die Beklagte beantragt,
- das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 26. Juni 1990 ganz sowie das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 24. August 1988 in Ziffer 1 Satz 1 und in Ziffer 2 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 3. April 1987 auch insoweit, als er durch das Urteil abgeändert wurde, abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
- die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 26. Juni 1990 als unbegründet zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für richtig.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.
Die Klägerin hat Anspruch auf ein höheres Altersruhegeld unter Anrechnung einer zusätzlichen Versicherungszeit von März bis Dezember 1967. Diese Zeit ist nach § 1251a RVO i.V.m. § 1227a Abs. 3 RVO und § 56 Abs. 3 Nr. 3 SGB I als Versicherungszeit anzurechnen. Nach den genannten Vorschriften können Kindererziehungszeiten auch Pflegemüttern oder Pflegevätern angerechnet werden. Die Klägerin war seit März 1967 Pflegemutter ihres Enkelkindes S. Der Senat hat bereits entschieden, daß auch Großmütter, d.h. Verwandte der geraden aufsteigenden Linie (§ 56 Abs. 3 Nr. 1 SGB I), Pflegemütter (§ 56 Abs. 3 Nr. 3 SGB I) ihres Enkelkindes sein können und als solche die Großmutter Kindererziehungszeiten für die Erziehung ihres Enkelkindes beanspruchen kann. Der Senat hat außerdem bereits entschieden, daß für die Auslegung des Begriffs Pflegeeltern in § 56 Abs. 3 Nr. 3 SGB I und des damit korrespondierenden Begriffs Pflegekind in § 56 Abs. 2 Nr. 2 SGB I auch auf den nunmehr im Kindergeldrecht übereinstimmend mit dem Steuerrecht definierten Begriff des Pflegekindes in § 2 Abs. 1 Nr. 2 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) in der Fassung des 12. Gesetzes zur Änderung des BKGG vom 30. Juni 1989 (BGBl. I 1294; 1990, 150) zurückgegriffen werden muß (vgl.. Senatsurteile vom 12. September 1990 - 5 RJ 45/89 - = SozR 3-1200 § 56 Nr. 1 und vom 28. November 1990 - 5 RJ 64/89 -, zur Veröffentlichung vorgesehen).
Nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 BKGG sind Pflegekinder „Personen, mit denen der Berechtigte durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden ist, sofern er sie in seinem Haushalt aufgenommen und ein Obhuts- und Pflegeverhältnis zwischen diesen Personen und ihren Eltern nicht mehr besteht.“ Wenngleich der Begriff des Pflegekindes in verschiedenen Gesetzen weiterhin unterschiedlich definiert ist (vgl. § 56 Abs. 2 Nr. 2 SGB I im Verhältnis zu § 2 Abs. 1 Nr. 2 BKGG hinsichtlich der Begriffe „häuslicher Gemeinschaft“ einerseits und „in seinen Haushalt aufgenommen“ andererseits) hat der Gesetzgeber mit der Neufassung von § 2 Abs. 1 Nr. 2 BKGG die bisherige Rechtsprechung des BSG zum Begriff des Pflegekindes außerhalb des Bereichs des BKGG bestätigt. Mit der Formulierung, daß ein Obhuts- und Pflegeverhältnis zwischen dem Kind und seinen (leiblichen) Eltern nicht mehr bestehen dürfe, ist in der Sache die Rechtsprechung aufgenommen worden, nach der ein Pflegekindschaftsverhältnis nur angenommen werden kann, wenn - als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal - auch die Beziehungen zwischen Eltern und Kind gelöst sind (vgl. dazu BSGE 12, 35, 37 f; 19, 106, 107; Urteil vom 10. Februar 1983 - 5b RJ 56/81 -).
Die Feststellungen des LSG, daß die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen des § 56 Abs. 1 Nr. 2 SGB I erfüllt gewesen sind, d.h. daß die Klägerin mit ihrem Enkelkind seit März 1967 durch ein auf längere Dauer angelegtes Pflegeverhältnis mit häuslicher Gemeinschaft wie eine Mutter mit ihrem Kind verbunden gewesen ist, sind nicht zu beanstanden und werden von der Beklagten mit Ausnahme des o.g. ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals auch nicht angegriffen. Unzutreffend ist die Ansicht der Beklagten, diese Voraussetzungen seien nur und allein deshalb nicht erfüllt, weil das Band zwischen leiblicher Mutter (der Beigeladenen) und ihrem Kind seit März 1967 nicht völlig gelöst gewesen sei, d.h. in den Worten des § 2 Abs. 1 Nr. 2 BKGG, ein Obhuts- und Pflegeverhältnis zwischen Mutter und Kind noch bestanden habe. Die Definition des Begriffs Pflegekind bzw. Pflegemutter kann dabei allerdings nicht, wie es das LSG offensichtlich meint, von den Zielsetzungen abhängig gemacht werden, unter denen der Gesetzgeber die Kindererziehungszeiten eingeführt hat. Der Gesetzgeber hat wegen des Begriffs Pflegemütter bzw. Pflegeväter auf § 56 SGB I verwiesen. In dieser Vorschrift hat der Begriff der Pflegeeltern Bedeutung für die Sonderrechtsnachfolge. Hier könnte die Interessenlage eine durchaus andere Auslegung des Begriffs Pflegeeltern nahelegen als bei der Anrechnung von Kindererziehungszeiten. Der Begriff kann deshalb nur möglichst einheitlich für alle Rechtsgebiete ausgelegt werden, soweit der Gesetzgeber nicht unterschiedliche Voraussetzungen in verschiedenen Gesetzen durch Unterschiede in der Definition besonders fordert (wie es z.B. die schon dargestellten unterschiedlichen Formulierungen in § 56 Abs. 2 Nr. 2 SGB I und § 2 Abs. 1 Nr. 2 BKGG hinsichtlich häuslicher Gemeinschaft und Aufnahme in den eigenen Haushalt zeigen).
Wenn die Frage zu entscheiden ist, wann ein Obhuts- und Pflegeverhältnis zwischen den leiblichen Eltern und ihrem Kind nicht mehr besteht, ist dabei zu berücksichtigen, daß sie sich nur stellt, wenn zwischen Pflegeeltern und Pflegekind ein auf Dauer angelegtes Pflegeverhältnis mit häuslicher Gemeinschaft besteht. In diesem Fall besteht aber keine Rechtfertigung und Notwendigkeit, ein Obhuts- und Pflegeverhältnis zwischen (leiblichen) Eltern und ihrem Kind nur dann zu verneinen, wenn die Verbindung zwischen Eltern und Kind völlig gelöst ist, d.h. keinerlei Kontakt mehr zwischen beiden besteht, wie es die Beklagte annimmt. Eine Lösung der Beziehungen zwischen Eltern und Kind im Sinne der bisherigen Rechtsprechung des BSG ist vielmehr auch dann zu bejahen, wenn die Beziehung zwischen Eltern und Kind so geringfügig ist, daß nach dem äußeren Erscheinungsbild das eigene Kind wie ein fremdes Kind behandelt wird und für das eigene Kind keine wesentlichen Aufwendungen materieller Art erbracht werden. Dies trifft zu, wenn Eltern und Kind räumlich getrennt leben, so daß ein Besuch des Kindes objektiv nur gelegentlich am Wochenende möglich ist und auch nur gelegentlich erfolgt, und auch die materiellen Aufwendungen für das Kind im wesentlichen nicht von den Eltern erbracht werden. Bei einem derartigen Sachverhalt besteht zwischen Eltern und Kind kein Obhuts- und Pflegeverhältnis mehr, so daß ein Pflegekindschaftsverhältnis zu demjenigen bestehen kann, der das Kind tatsächlich betreut.
Diese Voraussetzungen für das Nichtbestehen eines Obhuts- und Pflegeverhältnisses zwischen der Beigeladenen und ihrem Kind S. sind im vorliegenden Fall nach den mit der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des LSG erfüllt. Die Beigeladene lebte in einem anderen Ort als die Klägerin mit dem Kind. Die Beigeladene hat ihr - mit der Klägerin in häuslicher Gemeinschaft verbundenes - Kind nur gelegentlich am Wochenende besucht und die Obhut und Pflege des Kindes der Klägerin überlassen. Die wesentlichen materiellen Aufwendungen für das Kind hat nicht die Beigeladene erbracht, denn sie hat sich lediglich die Kosten für Wäsche und Nahrung mit der Klägerin geteilt. Die Klägerin hat demnach nicht nur das Kind tatsächlich unentgeltlich betreut, sondern von den notwendigen materiellen Aufwendungen für die Erziehung des Kindes auch den überwiegenden Teil getragen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.