5 RJ 29/90
Tatbestand
Streitig ist, ob der Kläger für die Zeit von April 1942 bis Mai 1945 als nachversichert gilt.
Der im Januar 1942 geborene Kläger ist nicht Deutscher. Er ist im Besitz eines 1977 ausgestellten Reiseausweises für „heimatlose Ausländer“.
Der Kläger wurde im April 1942 von den deutschen Besatzungstruppen aus seinem Geburtsort S. in der Sowjetunion nach Deutschland verschleppt. Er war in der Zeit von April 1942 bis Mai 1945 als Zwangsarbeiter gegen Entgelt beschäftigt. Beiträge zur Sozialversicherung wurden für ihn auch für die Zeit ab April 1944 nicht entrichtet. 1945 gelang dem Kläger während eines Transportes die Flucht. Er versteckte sich zunächst bei einem Bauern und hat seitdem in der Bundesrepublik Deutschland gelebt und gearbeitet. Der Kläger machte im Rahmen eines Kontenklärungsverfahrens die Zeit von April 1942 bis Mai 1945 als Versicherungszeit der fiktiven Nachversicherung nach Art. 6 § 23 des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes vom 25. Februar 1960 (BGBl. I S. 93 - FANG -) geltend. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 20. Mai 1986 die Vormerkung der streitigen Zeit ab. Eine Beitragszeit liege nicht vor, weil Beiträge nicht entrichtet worden seien. In der Zeit ab 1. April 1944 habe zwar Versicherungspflicht bestanden, es sei aber nur eine geringfügige Barvergütung gezahlt worden. Eine fiktive Nachversicherung komme nicht in Betracht, denn es sei nicht nachgewiesen, daß der Kläger als heimatloser Ausländer der Obhut der internationalen Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen (IRO) unterstanden habe. Den Widerspruch des Klägers wies sie zurück (Widerspruchsbescheid vom 6. März 1987).
Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) die Bescheide aufgehoben und festgestellt, daß die Zeit von April 1942 bis Mai 1945 Versicherungszeit ist (Urteil vom 21. April 1988). Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen (Urteil vom 8. Februar 1990).
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Beklagten. Die Beklagte rügt die Verletzung materiellen Rechts (Art. 6 § 23 FANG, § 1 Buchst d des Fremdrentengesetzes - FRG -, § 1 des Gesetzes über die Rechtsstellung heimatloser Ausländer im Bundesgebiet vom 25. April 1951, BGBl. I, 269 - HAuslG -, § 31 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil, SGB I - und Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes - GG -).
Die Beklagte beantragt,
- die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 8. Februar 1990 und des Sozialgerichts Mannheim vom 21. April 1988 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
- die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 8. Februar 1990 zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist unbegründet.
Versicherungszeit ist. Der Kläger gilt für diese Zeit nach Art. 6 § 23 FANG als nachversichert.
Nach Art. 6 § 23 FANG gelten die in § 1 Buchst. d FRG genannten Personen, die während des Krieges als ausländische Arbeitskräfte im Gebiet des Deutschen Reiches beschäftigt waren, für die Zeiten als nachversichert
a) | in denen sie der Versicherungspflicht unterlegen haben, ohne daß für sie Beiträge zu den gesetzlichen Rentenversicherungen entrichtet worden sind oder als entrichtet gelten, |
b) | in denen sie der Versicherungspflicht unterlegen hätten, wenn sie nicht als Ausländer von der Versicherungspflicht ausgenommen gewesen wären. |
Die Voraussetzungen zu Buchst. a und b sind nach den Feststellungen des LSG erfüllt. Der Kläger war in der o.g. Zeit als sog Ostarbeiter beschäftigt, ohne daß für ihn Versicherungsbeiträge entrichtet wurden. Seit April 1944 unterlag seine Beschäftigung der Versicherungspflicht. Gegen diese Feststellungen des LSG hat die Beklagte keine Revisionsrügen erhoben.
Der Kläger gehört auch zum Personenkreis des § 1 Buchst. d FRG. Das sind heimatlose Ausländer i.S. des HAuslG. Nach § 1 HAuslG ist heimatloser Ausländer ein fremder Staatsangehöriger oder Staatenloser, der
a) | nachweist, daß er der Obhut der Internationalen Organisation untersteht, die von den Vereinten Nationen mit der Betreuung verschleppter Personen und Flüchtlinge beauftragt ist (das ist die IRO) und |
b) | nicht Deutscher nach Art. 116 GG ist und |
c) | am 30. Juni 1950 seinen Aufenthalt im Geltungsbereich des GG oder in Berlin-West hatte oder die Rechtsstellung eines heimatlosen Ausländers aufgrund der Bestimmungen des § 2 Abs. 3 erwirbt. |
Die Voraussetzungen der Buchstaben. b und c 1. Alternative sind nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG erfüllt.
Zu Recht hat das LSG angenommen, daß auch die Voraussetzungen des Buchstaben a erfüllt sind, und der Kläger deshalb heimatloser Ausländer i.S. von § 1 des HAuslG ist. Dies folgt allerdings nicht schon aus der Tatsache, daß er im Besitz eines entsprechenden Reiseausweises ist. Das LSG ist insoweit ebenfalls zu Recht davon ausgegangen, daß die Beklagte bzw. die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit bei Anwendung von § 1 FRG i.V.m. Art. 6 § 23 FANG selbst festzustellen haben, ob der Kläger zum Personenkreis des § 1 HAuslG gehört. Es befindet sich damit in Übereinstimmung mit der Entscheidung des 11. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 25. Mai 1972 (BSGE 34, 184 = SozR Nr. 5 zu § 1 FRG). Das BSG hat in dem genannten Urteil ausdrücklich herausgestellt, daß keine Bindung besteht, soweit im Fremdenpaß festgestellt ist, der Betreffende gehöre zum Personenkreis des HAuslG.
Das LSG geht in Übereinstimmung mit den entsprechenden Angaben des Klägers davon aus, daß er tatsächlich nicht von der IRO betreut worden ist. Es sieht aber die Unterstellung unter die Obhut der IRO (§ 1 Abs. 1 Buchst. a HAuslG) als nachgewiesen an, wenn der Betreffende zu den nach der Satzung der IRO zu betreuenden Personen gehört hat. Diese Auslegung von § 1 Abs. 1 HAuslG entspricht nicht der des BSG im o.a. Urteil, im Ergebnis aber der, der Verwaltungsgerichte. Das BSG hat die tatsächliche Unterstellung unter die IRO gefordert, sonst hätte es in seiner o.g. Entscheidung (S 186) nicht offenlassen können, ob der Kläger nicht sogar satzungsmäßig von der Betreuung ausgeschlossen war. Darauf weist die Beklagte zu Recht hin. Auch das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) geht davon aus, daß dann, wenn allein der Wortlaut berücksichtigt wird, nur derjenige unter der Obhut der IRO i.S. von § 1 HAuslG gestanden hat, der tatsächlich von ihr betreut worden ist, d.h. dem sie tatsächlich Rechtsschutz gewährt hat. Dies ergibt sich aus dem Urteil vom 30. Juni 1964 (Buchholz 402.22 Art. 1 Genfer Konvention Nr. 13). Nach dem Sachverhalt des Urteils war der Kläger während der Strafverbüßung aufgrund eines Nachkriegsurteils von der IRO sozial betreut worden. Dies ist als nicht ausreichend für die Unterstellung unter die Obhut der IRO angesehen worden. Das BVerwG hat dafür vielmehr ausdrücklich gefordert, daß die IRO Rechtsschutz gewährt hat. Es hat den Kreis der unter das HAuslG fallenden Personen aber im Ergebnis weiter gefaßt, als es bei dieser engen Auslegung möglich wäre. Nach dem Urteil des BVerwG ist heimatloser Ausländer i.S. des HAuslG auch der, der die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Buchst. b und c HAuslG erfüllt und jedenfalls nach den satzungsmäßigen Bestimmungen der IRO betreut werden konnte. Diese Auslegung des Gesetzes hält auch der Senat für zutreffend. Ihre Richtigkeit ergibt sich schon daraus, daß das HAuslG in der von der Beklagten für richtig gehaltenen Auslegung nicht den Personenkreis erfaßt, der nach der Zielsetzung des Gesetzes erfaßt werden sollte.
Einmal weist das LSG zu Recht darauf hin, daß die Unterlagen der IRO über die tatsächliche Betreuung der Flüchtlinge nicht vollständig sind. Das bedeutet, daß ein Nachweis der tatsächlichen Betreuung allein mit den Unterlagen der IRO nicht sicher zu führen ist. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß ein von der IRO Betreuter in den noch vorhandenen Unterlagen nicht geführt wird. Zwar ist es auch unabhängig von diesen Unterlagen zulässig, durch andere Beweismittel nachzuweisen, daß jemand tatsächlich der Obhut der IRO unterstand. Eine Beschränkung der Beweismittel auf die Unterlagen der IRO, wie sie das LSG der bisherigen Rechtsprechung des BSG anscheinend entnimmt, ist in dem o.g. Urteil nicht ausgesprochen und folgt auch nicht aus § 1 HAuslG. Faktisch ist aber der Nachweis der tatsächlichen Unterstellung unter die IRO ohne diese Unterlagen nicht zu führen. Schon dies spricht dafür, die satzungsmäßige Möglichkeit der Betreuung ausreichen zu lassen, wie es die für die Anwendung des HAuslG primär zuständigen Ausländerbehörden getan haben.
Am Beispiel des Klägers zeigt sich aber auch, daß das HAuslG in der Auslegung der Beklagten verschleppte Ausländer, d.h. Displaced Persons (DP), ausschloß, die gerade unter das HAuslG fallen sollten. Nach Anhang I Teil I Abschnitt C der Verfassung der IRO (abgedruckt bei: Weißmann, Ausländergesetz, 1966 S. 252 ff.) befaßte sich die Organisation mit Flüchtlingen und DP, die heimgeschafft werden können ... oder die „in aller Freiheit ... endgültig mit zufriedenstellenden Gründen erklären, nicht dorthin zurückkehren zu wollen.“ Zu diesem Personenkreis hätte der Kläger gehört, wenn er sich bei der IRO gemeldet hätte. Nach Abschnitt D Buchst. c) hatte die IRO sich mit Flüchtlingen und DP u.a. nicht mehr zu befassen, c) „wenn sie sich nach Ansicht der Organisation sonstwie fest niedergelassen haben oder d) wenn sie sich ohne triftigen Grund geweigert haben, die Vorschläge der Organisation betreffend ihre Neuniederlassung oder Heimschaffung anzunehmen.“ Das bedeutet, daß z.B. Verschleppte aus der Sowjetunion, die sich nach dem Kriege im Bundesgebiet niedergelassen hatten und keinen Wunsch hatten, in die Sowjetunion zurückzukehren, entweder schon von Anfang an nicht mehr unter Betreuung der IRO standen oder jedenfalls aus der Betreuung ausschieden. Das HAuslG sollte aber gerade den Rechtsstatus der Ausländer sichern, die als DP nicht mehr in ihre Heimatländer zurückkehren konnten. Für die Umzusiedelnden galt und gilt es nicht (§ 26 HAuslG, vgl. auch Erlaß des BMI vom 27. März 1953 - GMBl. 1953 S. 313 -). Aus dem Kreis des § 1 HAuslG wären generell die DP ausgeschlossen, die sich - wie auch der Kläger - nach dem Krieg unangefochten im Bundesgebiet aufhielten, und deshalb den Schutz der IRO nicht in Anspruch zu nehmen brauchten und nicht in Anspruch nahmen. In der Verwaltungspraxis der Ausländerbehörden ist das Gesetz deshalb generell nicht im Sinne der o.g. Rechtsprechung des BSG ausgelegt und angewandt worden. Es sind selbst solche Ausländer als heimatlose Ausländer anerkannt worden, die nur unter den Flüchtlingsbegriff des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (BGBl. II 1953 S. 559 - Genfer Konvention -) fielen. Auch diese Auslegung des Gesetzes ist durch die Verwaltungsgerichte gebilligt worden (vgl. BVerwG a.a.O. und VG Berlin, Urteil vom 31. Mai 1963 - I A 8/62 = JR 1963 S. 156). Dies ist zwar seinerzeit im Vorgriff auf eine mögliche Rechtsverordnung geschehen, die nach § 1 Abs. 2 HAuslG in der bis zum 31. Dezember 1990 geltenden Fassung (§ 1 Abs. 2 HAuslG a.F.) erlassen werden konnte, aber nicht erlassen worden ist. Eine solche Rechtsverordnung kann nunmehr nicht mehr ergehen, denn § 1 Abs. 2 HAuslG a.F. ist durch Art. 4 Nr. 1 des Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts vom 9. Juli 1990 (BGBl. I 1354) gestrichen worden. Der Kreis derer, die unter das HAuslG fallen, sollte nunmehr endgültig begrenzt werden (vgl. BT-Drucks. 11/6321 S. 89, 90). Dies bedeutet aber nicht, daß diejenigen, denen auf Grund der bisherigen Verwaltungspraxis die Rechtsstellung eines heimatlosen Ausländers zuerkannt war, diese nunmehr verlieren.
Die Auslegung und Anwendung des Gesetzes durch Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte, die die bei wortgetreuer Auslegung bestehende Lückenhaftigkeit des HAuslG jahrzehntelang korrigiert hat, müssen auch die Sozialversicherungsträger und die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit bei Auslegung des Gesetzes berücksichtigen. Zumindest diejenigen gehören deshalb zu dem Personenkreis des § 1 Buchst. d FRG, die die Voraussetzungen von § 1 Abs. 1 Buchst. b und c HAuslG erfüllen und satzungsmäßig von der IRO betreut werden konnten. Dies gilt unabhängig davon, daß die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen des § 1 HAuslG im Rahmen des FRG von Versicherungsträgern selbst zu überprüfen sind, wie oben dargelegt ist. Ob darüber hinaus auch diejenigen unter § 1 Buchst. d FRG fallen, die nur unter den Flüchtlingsbegriff der Genfer Konvention fielen, war nicht zu entscheiden. Mit dieser Auslegung wird der Kreis der unter § 1 Buchst. d FRG fallenden Personen auch nicht unangemessen erweitert. Er ist schon wegen der zeitlich begrenzten Aufenthaltsnahme in § 1 Abs. 1 Buchst. c HAuslG eingeschränkt.
Soweit der 11. Senat des BSG in der o.g. Entscheidung vom 25. Mai 1972 die Ansicht vertreten hat, die Entstehungsgeschichte des § 1d FRG spreche für dessen Rechtsbereich eher gegen eine Bestätigung der schon damals bestehenden Verwaltungspraxis zur Einbeziehung von Flüchtlingen unter das HAuslG, kann der Senat dem nicht folgen. In dem Ausschuß für Sozialpolitik ist seinerzeit zwar ein Antrag, das FRG auf alle heimatlosen und nicht deutschen Flüchtlinge i.S. des Londoner Abkommens vom 15. Oktober 1946 und der Genfer Konvention auszudehnen, beraten und abgelehnt worden (vgl. Bundestag, 3. WP Ausschuß für Sozialpolitik Protokoll - Prot. -Nr. 46 S. 20 und BT-Drucks. III/1532 zu Art. 1 § 1). Dieser Antrag ging damit aber weit über die Auslegung des HAuslG in der Verwaltungspraxis zur Anerkennung von Flüchtlingen hinaus. Schon die zeitliche Begrenzung in § 1 Abs. 1 Buchst. c HAuslG fehlte. Weder aus dem Ausschußbericht noch aus den Protokollen über die Ausschußberatungen, die insoweit keinerlei Aussagen enthalten (vgl. a.a.O. und Prot. 54 S. 24, 25), läßt sich aber entnehmen, daß unter § 1d FRG nicht auch diejenigen fallen sollten, die schon seinerzeit nach ständiger Praxis als heimatlose Ausländer anerkannt wurden.
Eine Anfrage bei dem 11. Senat des BSG wegen der Abweichung von dessen Urteil vom 25. Mai 1972 a.a.O. ist nicht notwendig, denn der 11. Senat ist nicht mehr für die Angelegenheiten der Rentenversicherung zuständig.
Ein Verstoß gegen § 31 SGB I, wie ihn die Beklagte sieht, liegt ebenfalls nicht vor. Der Senat legt ein Gesetz aus. Das ist Rechtsanwendung und nicht die Zuerkennung eines Anspruchs ohne gesetzliche Grundlage, wie die Beklagte anscheinend meint.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.